Читать книгу Sich einen Namen machen - Julia Moira Radtke - Страница 21
2.1.7 Artefakte
ОглавлениеWenn man das Herstellen von Graffitis als Praktik versteht, so sind Graffitis als Artefakte dieser Praktik zu perspektivieren (TOPHINKE 2016: 421ff.).1 Sie verbleiben als Ergebnis der Sprühaktivitäten im öffentlichen Raum, während die Handlung längst abgeschlossen ist. Eine praxistheoretische Perspektive auf sprachliche Phänomene wird in der Linguistik seit einigen Jahren neu diskutiert und Untersuchungen zugrundegelegt, weil sie nicht nur „eine feingranulare und auf Variation angelegte Beschreibung sprachlicher Formen in actu“ ermöglicht, sondern auch deren Einbindung in soziale Handlungsmuster betont (EICHINGER 2016: XI). Beim Thema Graffiti rückt die praxistheoretische Perspektive stärker die den Graffitis zugrunde liegenden Handlungen in den Fokus. Dies erscheint sinnvoll, denn – wie PENNYCOOK herausstellt – „Graffiti are very much about production“ (2009: 306).
Die Herstellung von Graffitis kann als Praktik beschrieben werden, weil es sich um körperliche Bewegungen handelt, die klar auf Wiederholung angelegt sind. Insbesondere das Anbringen der Tags kann als routinisierte Handlung bezeichnet werden. DEPPERMANN ET AL. stellen heraus, dass Praktiken „soziale Strukturen, d.h. nicht kreative, individuelle Lösungen, sondern sozial konsentierte Routinen […]“ sind (2016: 8). Obwohl die Graffitinamen selbst äußerst kreativ und individuell sind, liegen dem Prozess ihrer Herstellung typische Bewegungsabläufe zugrunde.
In einer praxistheoretischen Perspektive lassen sich für die Graffitis beispielsweise Strukturen erkennen, die auf die Dynamik der Herstellung hinweisen (TOPHINKE 2016: 425). Denn im Unterschied zum „normalen“ Signieren, wie es etwa an der Supermarktkasse erfolgt, macht beim Herstellen eines Tags typischerweise der ganze Körper die Bewegungen mit (TOPHINKE 2016: 415). Aspekte dieser Körperlichkeit werden etwa in den Buchstabenausläufen besonders sichtbar, die oft eine Linksbewegung enthalten, damit die schwungvoll ausgeführten Bewegungen auslaufen können (TOPHINKE 2016: 415). Dicker und dünner werdende Linien sowie transparentere oder intensivere Farbgebung zeigen ebenfalls die Körperlichkeit der Graffitiherstellung an. Der Writer muss den Arm bzw. den Körper beim Sprühen dementsprechend zur Wand hingeführt oder von der Wand entfernt haben. Auch bei der Produktion der flächig gestalteten Namenszüge wird der ganze Körper eingebunden: „Es bedarf jeweils großer, dynamischer, gleichwohl kontrollierter Körperbewegungen“ (TOPHINKE 2016: 416). Der Herstellungsprozess der Throw Ups und Pieces erfordert demzufolge andere Bewegungsabläufe und erinnert vielmehr an das Malen großflächiger Bilder. Die Buchstaben werden – anders als bei den Tags – nicht in einer Handbewegung von links nach rechts geschrieben, sondern entstehen in mehreren Arbeitsschritten.
Graffitis werden auch durch die räumlichen und sozialen Bedingungen ihrer Herstellung beeinflusst. Da die Handlungen illegal sind, erfordert das Sprühen eine gewisse Wachsamkeit, um nicht von der Polizei ertappt zu werden. Graffitis werden daher typischerweise schnell angebracht und die Writer stehen beim Sprühen unter Anspannung. Die Graffitis lassen die Schnelligkeit der Bewegungen teilweise erkennen, etwa, wenn die Schrift besonders zackig wirkt. Außerdem werden die Werke typischerweise nachts angebracht, was die Lichtverhältnisse bei der Produktion beeinflusst. Der Writer RAZOR, der im norddeutschen Raum aktiv ist, erklärt beispielsweise im Interview mit Stylefile, dass sich die nächtliche Produktionssituation auf seine Farbwahl auswirkt:
[M]eine Bilder [sind] sehr kontrastreich und in der Ausführung flüchtig umgesetzt, weil die Bilder immer im Dunkeln und unter Zeitdruck entstehen. Die meisten meiner Pieces gefallen mir im dunklen Yardlicht besser. Dort werden die Farben zu grautönen, die ich versuche im Bild harmonisch anzuordnen. Die Farbharmonie in der Nacht entpuppt sich am Tageslicht meistens als Trugschluss und lässt das Bild dann ganz anders wirken. (RAZOR zitiert nach Stylefile 45/2015, online verfügbar auf ilovegraffiti.de)2
Kontrastreichtum und grelle Farben sind demzufolge mitunter auch auf die Dunkelheit während der Herstellung zurückzuführen. Daran zeigt sich, dass Eigenschaften der Graffitis wie Linienführung und Farbgebung vor dem Hintergrund der Praktik, in die sie eingebettet sind, zu interpretieren sind.