Читать книгу Sich einen Namen machen - Julia Moira Radtke - Страница 17
2.1.3 Transgressiv
ОглавлениеDas Konzept der transgressiven Zeichen führen SCOLLON UND SCOLLON in ihrer Monographie „Discourses in Place“ (2003) ein. In dieser diskutieren sie im Rahmen einer „Geosemiotik“, wie sich die Bedeutung von sprachlichen und anderen Zeichen in Abhängigkeit von ihrer Platzierung ergibt.1 Zeichen gelten dabei als transgressiv, wenn sie an einem falschen Ort platziert sind (2003: 146). Dass Zeichen „falsch“ platziert sein können, basiert auf der Annahme, „that there is in each community some geosemiotic system which tells members where signs and messages may appropriately appear and where they may not“ (SCOLLON UND SCOLLON 2003: 148f.).
Graffitis können SCOLLON UND SCOLLON zufolge aufgrund ihres „Emplacement“ und ihrer fehlenden Autorisierung als transgressiv bewertet werden (2003: 151).2 Ähnlich äußert sich AUER, der Zeichen, die „weder dem Prinzip des privaten Raumbesitzes noch dem Prinzip des öffentlich-staatlichen Raumprivilegs folgen“, als transgressiv bezeichnet und auch Graffitis zu diesen transgressiven Zeichen zählt (2010: 295f.). Indem sie die Aufteilung und Normierung des öffentlichen Raums durchbrechen, überschreiten sie die geltenden Regeln (lat. transgredi ‚überschreiten‘, ‚hinübergehen‘). Werden Graffitis hingegen an einem „richtigen“ Ort platziert und ist die Anbringung autorisiert – was bei legalen Auftragsarbeiten der Fall ist –, werden sie nicht mehr als transgressiv empfunden; SCOLLON UND SCOLLON sprechen dann von „decontextualized transgressive semiotics“ (2003: 151).
Wichtig für das Verständnis des Szenegraffitis ist jedoch, dass die Transgressivität der Zeichen für die Akteure selbst hochrelevant ist. Die Writer stellen häufig in Interviews heraus, dass das unerlaubte Handeln ein zentrales Merkmal des Writings darstellt, wie das folgende Zitat des Writers RESP1 belegt:
Permission walls are fine, but bombing is definitely more of what graffiti is. Bombing is part of getting up [and] bombing is part of being a real writer. Doing things illegally, things that are challenging [are] a part of it all […]. You wouldn’t really be a writer without doing those things. If you just did permission walls you would just be a muralist, which doesn’t really have anything to do with graffiti. (RESP1 zitiert in JONES 2007: 5)
Wie RESP1 herausstellt, werden legal arbeitende Writer in der Szene mitunter nicht respektiert. TIMER aus Montreal berichtet im Interview mit RAHN (2002: 110) sogar, wie sich ein Freund von ihm abwandte, als er mit der kommerziellen Vermarktung seiner Kunst erfolgreich wurde: „We met and started doing some cool stuff until ’95 and then he got really known like me, but was saying to everyone that TIMER is an artist and I hate artists – stuff like that.“ (TIMER zitiert in RAHN 2002: 110) An diesen Aussagen zeigt sich, dass das illegale Handeln – also das bewusste Herstellen transgressiver Zeichen – zum Selbstverständnis der Szene gehört. Das Szenegraffiti ist somit untrennbar mit Illegalität verbunden, was es von allen anderen Formen der Schriftlichkeit im öffentlichen Raum unterscheidet (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 180).3
Ob Graffiti jedoch adäquat als „visuelle[s] Kampfspiel auf und um die Flächen der Stadt“ (2014: 454) beschrieben werden kann, wie KAPPES in ihrem Aufsatz „Graffiti als Eroberungsstrategie im urbanen Raum“ schreibt, muss kritisch hinterfragt werden. Denn häufig bevorzugen Akteure gerade abgelegene leer stehende Fabrikgelände oder verwahrloste Bereiche der Stadt wie Unterführungen und Autobahnbrücken. TOPHINKE stellt diesbezüglich fest, dass „[d]as Bild einer aggressiv-destruktiven Graffiti-Kultur, die in gepflegte städtische Zonen einbricht, […] in diesem Sinne überzeichnet“ ist (2016: 426).