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1.3.2 Graffiti als Forschungsgegenstand der Linguistik

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Es gibt bislang erst einige wenige Untersuchungen, die Graffitis aus einer (schrift-)linguistischen Perspektive in den Blick nehmen. Das liegt zum einen daran, dass das Interesse der Schriftlichkeitsforschung lange Zeit primär den Formen ausgebauter Schriftlichkeit, also konzeptioneller Schriftlichkeit, galt (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2016: 101). Graffitis zeichnen sich jedoch gerade dadurch aus, Formen minimaler Schriftlichkeit zu sein, d.h., sie bestehen oft nur aus einzelnen Wörtern oder Phrasen und bleiben auch in ihrer Bedeutung mitunter rätselhaft (TOPHINKE 2017: 161ff.). Als solche minimalen Formen standen sie zunächst weniger im Fokus der linguistischen Forschung. Zum anderen ist die relativ späte Beschäftigung mit Graffiti auch so zu begründen, dass die (Schrift-)Linguistik stärker an normgetreuen Formen der Schriftlichkeit orientiert war. Normabweichende Schreibungen, wie sie im Graffiti häufig zu finden sind, gerieten kaum in den Blick, was sicherlich auch im „stark normativ geprägten Verständnis von Schriftlichkeit begründet [liegt], das sich in schreibdidaktischen Zusammenhängen vermittelt“ (SCHUSTER UND TOPHINKE 2012a: 14).1

Darüber hinaus stellten Graffitis auch aufgrund ihrer besonderen bildlichen Gestaltung ein „Randphänomen“ der Linguistik dar (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 181). Wie PAPENBROCK UND TOPHINKE schreiben, bildeten Graffitis für die Linguistik aufgrund ihres „bildhaften Charakters“ einen eher untypischen Gegenstand (2012: 181). Die visuelle Erscheinung von Schrift wurde bis vor wenigen Jahren nicht als relevanter Forschungsgegenstand der Linguistik betrachtet.2 Erst im Zuge der Erkenntnis, dass Schrift weitaus mehr leistet, als mündliche Sprache aufzuzeichnen, fand auch die visuelle Seite der Graphie zunehmend Berücksichtigung.3

Um die linguistische Beschäftigung mit dem Phänomen Graffiti möglichst systematisch darzustellen, werden im folgenden Abschnitt einige wichtige Publikationen chronologisch vorgestellt und diskutiert.

Erste linguistische Publikationen, die sich mit Graffiti im weitesten Sinn auseinandersetzen, erscheinen in den 80er-Jahren.4 In diesen frühen Veröffentlichungen werden Graffitis häufig als informelle, jugendsprachliche Äußerungen perspektiviert. BLUME (1980, 1981) untersucht Graffitis etwa als „schriftliche sprachliche Äußerungen auf Tischen, Stühlen, Wänden und Türen von Klassenzimmern“ und gliedert diese Äußerungen anschließend nach syntaktischen und semantischen Typen (1980: 173). NEUMANN fasst in ihrer Dissertation 1986 Gaunerzinken, Tramperspuren und weitere Zeichen an der Wand als Graffitis auf und stellt den oppositionellen Anspruch dieser Zeichen heraus. Sie deutet diese Zeichen als „Widerstand gegen standardisierte Kommunikation“ und als „Aufstand der Normalsprache“ (NEUMANN 1986: 270). NEUMANN nimmt in dieser Arbeit auch eine sprachwissenschaftlich orientierte Kategorisierung der Graffitis vor und legt dabei bereits eine Kategorie mit „Namen und Pseudonyme[n]“ an (1986: 91ff.). Auf der Grundlage einzelner Beispiele aus ihrem Korpus stellt sie fest, dass die Namen „einen grafischen Überschuß“ haben und sich mit Ornamenten und Pfeilen zu „Buchstabenfiguren“ zusammensetzen (NEUMANN 1986: 100).

SCHMIEDEL ET AL., die Graffiti 1998 ebenfalls als jugendkulturelles Phänomen betrachten, stellen bereits das Szenegraffiti in den Fokus ihrer Betrachtung. Sie werten dabei 261 Fotografien, ein Blackbook5 und qualitative Interviews aus der Osnabrücker Szene aus und zeigen auf, anhand welcher Kategorien Graffitis von den Akteuren beschrieben und bewertet werden.

Eine andere Perspektive auf Graffitis eröffnet sich mit der Entwicklung der Linguistic-Landscape-Forschung. In dieser Forschungsrichtung, die in Kapitel 2 noch genauer beschrieben wird, geht es um die Betextung des öffentlichen Raums und darum, welche Formen von Schriftlichkeit sich in einem bestimmten geographischen Raum finden, welche Sprachen vertreten sind, wo die Schrift platziert ist etc. Da es sich bei Graffitis um Schriftformen im öffentlichen Raum handelt, rücken sie in den Fokus der LL-Forschung. Im Rahmen dieser Forschungsrichtung nimmt sich zunächst PENNYCOOK (2009, 2010) des Themas an. Er betont, dass Graffitis nicht nur im urbanen Raum angebracht werden, sondern diesen wesentlich mit konstruieren: „Landscapes are not mere backdrops on which texts and images are drawn but are spaces that are imagined and invented.“ (PENNYCOOK 2009: 309f.) In dieser Perspektive wird auch der räumlich-situative Kontext bei der Betrachtung der Graffitis relevant (PENNYCOOK 2010: 143).6 Weitere Publikationen, die das Thema Graffiti betreffen und der LL-Forschung zugeordnet werden können, stammen von KAPPES (2014), SCHMITZ UND ZIEGLER (2016) und WACHENDORFF ET AL. (2017).

Zum Gegenstand sprachwissenschaftlicher Betrachtung werden Graffitis auch als Formen des „Andersschreibens“ (SCHUSTER UND TOPHINKE (Hg.) 2012b). SEBBA (2003, 2007, 2009) geht beispielsweise in verschiedenen Publikationen auf Graffitis ein, um aufzuzeigen, dass orthographische Abweichungen als Mittel genutzt werden, mit dem sich soziale Gruppen konstituieren und von anderen Gruppen abgrenzen (2007: 168). Er versteht Graffiti dabei als „one of the few types of very public writing where no spelling is imposed; writers are free to flout all norms or to develop their own new ones“ (SEBBA 2003: 161). Auch JØRGENSEN (2007, 2008) perspektiviert Graffitis als besondere Schreibungen. Er hebt insbesondere den kreativen Umgang der Writer mit verschiedenen Sprachen hervor. Graffitis sind in diesem Sinne Andersschreibungen, weil verschiedene Sprachen in einem Satz oder auch in einem Wort kombiniert werden. JØRGENSEN bezeichnet dieses Phänomen als „languaging“ (2007: 165).

Graffitis sind in den letzten Jahren auch vermehrt in ihrer besonderen Bildlichkeit, also ihrer Verbindung aus schriftlichen und bildlichen Elementen, wahrgenommen worden, z.B. bei MEIER (2007), METTEN (2011), PAPENBROCK UND TOPHINKE (2012, 2014, 2016) und TOPHINKE (2016, 2017). Sie werden dabei als „Formen des Andersschreibens im Schnittbereich von Schrift und Kunst“ (PAPENBROCK UND TOPHINKE 2012: 179) betrachtet und die besondere Wirkung, die sich aus dem Zusammenspiel schriftlicher und bildlicher Eigenschaften ergibt, beschrieben. Diese Perspektive auf Graffitis bildet sich im Rahmen eines zunehmenden Interesses der Linguistik an den bildlichen Eigenschaften der Schrift heraus. Mit der Beobachtung, dass die Gestaltung bzw. die Bildlichkeit eines Textes dessen Interpretation beeinflussen kann, Schriftgestaltung also durchaus über ein Bedeutungspotenzial verfügt, rückten auch Graffitis in das Blickfeld der Forschung.

TOPHINKE (2016) nimmt Graffitis außerdem in einer praxistheoretischen Perspektive in den Blick. Sie zeigt auf, dass das Herstellen von Graffitis eine sozial fundierte Praktik ist und die Graffitis selbst als Artefakte dieser Praktik betrachtet werden können. Durch diese Perspektive zeigt sich, dass sich viele Merkmale der Graffitis aus den sozialen und körperlich-handwerklichen Bedingungen ihrer Herstellung ergeben. Als Schriftlichkeit, die an eine soziale Gruppe und an eine Praktik gebunden ist, werden Graffitis auch in den Aufsätzen von PAPENBROCK, RADTKE und WACHENDORFF ET AL. betrachtet, die im Sammelband „Graffiti: Deutschsprachige Auf- und Inschriften in sprach- und literaturwissenschaftlicher Perspektive“ (2017) erschienen sind.

Zuletzt sind Graffitis auch in ihrer besonderen, minimalen Grammatik in den Blick geraten (vgl. dazu TOPHINKE 2017 und TOPHINKE im Erscheinen). Dies knüpft an Überlegungen von HENNIG an, die in ihrem Aufsatz „Grammatik multicodal“ Schriftlichkeit auf Schildern in den Blick nimmt und feststellt, dass bei der Beschreibung dieser Schriftlichkeit „ein Grammatikbegriff benötigt wird, der sich nicht auf die verbale Codierung beschränkt“ und stattdessen die Interaktion der Schriftsprachlichkeit mit weiteren Zeichensystemen berücksichtigt (2010: 74). TOPHINKE stellt in ihrem Aufsatz „Minimalismus als Konzept“ (2017) heraus, dass bei Formen minimaler Schriftlichkeit, zu denen auch Graffitis gehören, ebenfalls verschiedene Ressourcen (wie die lexikalische Bedeutungen, die schriftbildlichen Eigenschaften und die Platzierung) zusammenwirken (164f.). Im Aufsatz „Graffiti-Writings als Kommunikate des Urbanen“ (2019) thematisiert TOPHINKE gezielt die Wirkungen, die sich aus den schriftbildlichen Eigenschaften der Graffitis ergeben.

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