Читать книгу Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert - Julia Noah Munier - Страница 11
2 Baden ist nicht Berlin und Württemberg nicht Weimar. Lebenswelten in der Weimarer Republik 2.1 Lebenswelten und Verfolgung in den urbanen Zentren Badens und Württembergs123
ОглавлениеDie Geschichte der Verfolgung und Diskriminierung von homosexuellen Männern bzw. »Freunden«, aber auch die Entstehung urbaner Lebenswelten homosexueller Männer und entsprechender emanzipatorischer Bewegungen scheint nur auf den ersten Blick für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts inzwischen relativ gut erforscht.124 Für die Region des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg ist diesbezüglich noch erheblicher Forschungsbedarf zu konstatieren.125
In den urbanen Zentren Badens und Württembergs entfalteten sich in den 1920er und frühen 1930er Jahren vitale Lebenswelten homosexueller Männer. Vieles deutet darauf hin, dass es gegen Ende der Weimarer Republik nicht nur vereinzelte Treffpunkte waren, an denen die Akteure zusammenkamen, sondern dass zumindest in den Großstädten und ihren Einzugsgebieten facettenreichere, partiell öffentlich wahrnehmbare, partiell verdeckte, subkulturelle, teilweise auch untereinander gut vernetzte Gefüge bestanden, aus denen einzelne Akteure durch ihre Offenheit, ihr Engagement und ihren Mut hervortraten.
Es existierten durchaus heterogene subkulturelle Treffpunkte und Felder,126 in denen männerbegehrende Männer zusammenkamen, Freundschaften pflegten, sich politisch organisierten und amüsierten, wo sich Liebes- und Sexualpartner, Vertraute, Freunde und Lebensgefährten fanden oder sich gegenseitig vermittelten. Sie publizierten Zeitschriften, gründeten Regional- und Ortsgruppen der großen Emanzipationsvereine, verkauften homoerotische Aktfotografien, berieten und unterstützen sich gegenseitig und gestalteten damit ihre Lebenswelten aktiv.
Angemerkt sei, dass für den Kontext Südwestdeutschland eine Bezugnahme auf den schillernden Mythos der »Goldenen Zwanziger Jahre« bzw. der »Wilden Zwanziger Jahre«, mit dem immer auch etwas mitschwingt von der sexuellen Freizügigkeit eines Berlins der Weimarer Republik, sicherlich verfehlt zu sein scheint. Berlin war und blieb in den 1920er und frühen 1930er Jahren attraktiver, queerer Sehnsuchtsort vieler gleichgeschlechtlich begehrender Männer im deutschen Südwesten (Abbildung 5).127 Im Kontext einer in Berlin erstarkenden Emanzipationsbewegung fanden in der vielfältigen Metropole sehr unterschiedliche Personen einen neuen Lebensmittelpunkt. Dazu zählte unter anderem der 1893 in Württemberg geborene, durch seine antisemitischen Hirschfeld-Karikaturen bekannt gewordene Zeichner und Karikaturist des Magazins »Die ›Tante‹«, Oskar Nerlinger (1893–1969).128 Ebenfalls dazu zu rechnen sind der 1899 in Grosselfingen geborene spätere Gastwirt des durch die Literatur Christopher Isherwoods (1904–1986) weltberühmten Kreuzberger Lokals »Cosy Corner«,129 Michael Walter (1899–1940, KZ Sachsenhausen),130 aber auch der vielleicht als pansexuell zu bezeichnende, auch homosexuelle Kontakte suchende und queere bzw. homosexuelle Figuren in seinen künstlerischen Arbeiten repräsentierende Karlsruher Vertreter der Neuen Sachlichkeit, Rudolf Schlichter (1890–1955),131 der in den zwanziger Jahren zu den profiliertesten Künstlern dieses Jahrzehnts zu rechnen ist. Das imaginäre Bild der sexuell freizügigen Metropole beförderte für die im deutschen Südwesten lebenden homosexuellen Männer, »Freunde« und »Invertierten« zugleich eine (Selbst-)Wahrnehmung ihrer eigenen Lebenswelten als provinziell, obwohl im deutschen Südwesten zentrale Persönlichkeiten der homosexuellen Emanzipationsbewegung, wie der Hannoveraner Jurist Karl Heinrich Ulrichs (1825–1895), oder Persönlichkeiten der Sexualforschung wie Richard von Krafft-Ebing (1840–1902) und Magnus Hirschfeld (1868–1935) oder bekannte homosexuelle Künstler, wie Arthur Rimbaud (1854–1891), gelebt hatten bzw. hier zeitweilig verortet waren.132
In Berlin wurde im Mai 1919 der erste deutsche Homosexuellenfilm »Anders als die Andern« (Regie: Richard Oswald) mit Conrad Veidt (1893–1943) in der Hauptrolle und dem garçonnehaften, bisexuellen Nachwuchsstar Anita Berber (1899–1928), uraufgeführt. Beteiligt daran war auch der Berliner Arzt und Sexualforscher, Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld. Hirschfeld, der als wissenschaftlich-medizinischer Berater für den Film tätig war, erhielt innerhalb der filmischen Narration eine eigene Sequenz, in der er als Experte auftritt und dem Protagonisten des Films Beistand leistet. Zudem wird der Sexualwissenschaftler in einem universitären Kontext zu sehen gegeben, in dem er seine Theorie der sexuellen Zwischenstufen erläutert, um sogleich unter Bezugnahme auf die Französische Revolution, den Code Napoléon und umfassende Persönlichkeitsrechte mit seinem Wahlspruch »Durch die Wissenschaft zur Gerechtigkeit« für die Abschaffung des § 175 RStGB zu werben. Anhand des zeitgenössischen Films zeigt sich exemplarisch, wie die politischen Bemühungen zur Liberalisierung des § 175 RStGB strategisch fundiert und plausibilisiert wurden durch wissenschaftliche Expertise. Im württembergischen Volksstaat und in seiner Landeshauptstadt Stuttgart, der einzigen über 300.000 Einwohner zählenden Großstadt im deutschen Südwesten, wurde die Aufführung dieses Films Anfang des Jahres 1920 verboten – und zwar als in Stuttgarter Kinos bereits Werbeplakate für den Film
Abb. 5: Berlin als queerer Sehnsuchtsraum (1). Sorgfältig verwahrte Reklame des Cafés am Turmhaus in Berlin-Friedrichstraße (o. D.). StAL F 263 I St 50.
hingen.133 In der mit dem Untertitel »Wochenschrift für Aufklärung und geistige Hebung der idealen Freundschaft« versehenen frühen Emanzipationszeitschrift »Die Freundschaft«, jener seit 1919 im Berliner Karl Schultz-Verlag regelmäßig erscheinenden Zeitschrift, die an gleichgeschlechtlich begehrende Menschen adressiert war und die wegen ihrer hohen Auflage und überregionalen Bedeutung für die homosexuelle Emanzipationsbewegung wichtig war,134 schrieb ein Stuttgarter Leser in der Rubrik »Freie Meinung« im Februar 1920 darüber, wie er den Vorgang der vorzeitigen Absetzung des Films persönlich erlebte:
»Ein Beispiel wie weit ›Wir‹ noch zurück sind aus meiner Heimat Stuttgart: In einem der ersten Kinos waren bereits die Bilder aus dem bekannten Film von Dr. Hirschfeld ›Anders als die Andern‹ ausgestellt. Wir alle freuten uns, machten uns Hoffnungen, sahen wir doch darin das ersehnte Zeichen einer neuen Zeit in unserer Sache. Umsonst! – Der Film wurde abgesetzt, kam nie auf die Leinwand. Warum wohl? Einige Tage später las ich in einem Stuttgarter Blatt eine Abhandlung über den Film mit dem Zusatz: ›Gott sei Dank seien wir in Stuttgart noch nicht so weit, daß wir dem Schmutz die Tore öffnen usw.‹ Dies in einer Stadt mit 300.000 Einwohnern. Wie muß es in dieser Beziehung in kleineren Städten aussehen?!«135
Durch einen Aufruf des Rates der Volksbeauftragten mit Gesetzeskraft wurde in Deutschland am 12. November 1918, drei Tage nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und der Ausrufung der Republik, die Zensur einschließlich der Filmzensur abgeschafft.136 Philipp Scheidemann (1865–1939), der spätere erste Kanzler bzw. »Reichsministerpräsident« der Weimarer Republik, erklärte am 23. November: »Die Reichsregierung hat jegliche Zensur, also auch die Filmzensur aufgehoben.«137 Im November 1918 wurde die bisherige Praxis, in der die Länder des Deutschen Reiches für die Zensur zuständig waren, beendet.138 Dennoch wurden zahlreiche Filme, die zwischen November 1918 und Mai 1920 (Lichtspielgesetz vom 12.05.1920) in anderen deutschen Gliedstaaten gezeigt werden konnten, von der Filmprüfstelle der Landespolizeizentrale in Stuttgart abgefangen und teilweise auch zensiert.139
Tatsächlich war das, was in der sogenannten zensurfreien Zeit zwischen November 1918 und Mai 1920 öffentlich gezeigt oder nicht gezeigt werden durfte, gesellschaftlich auch in Baden umkämpft: Bereits im Juli 1919 gab es »[…] in Karlsruhe im Badischen Landtag eine stürmische Debatte, die dazu führte, daß der Film [Anders als die Andern, Anmerk. d. Verf.] nur für Erwachsene freigegeben wurde.«140 In der 42. Sitzung des Badischen Landtags vom 31. Juli 1919 stellte der Vorsitzende der Badischen Zentrumspartei und römisch-katholischer Priester, Josef Schofer (1866–1930), eine parlamentarische Anfrage das Lichtspielwesen betreffend.141 Die Zentrums-Abgeordnete Klara Siebert (1873–1963) betonte in ihrer Begründung der Interpellation den schädlichen Einfluss des Kinos auf die Volksmoral und stellte die Kommunalisierung des Kinos zur Debatte, um hierdurch der »Volksausbeutung und Volksverführung vorzubeugen«.142 Adam Remmele (1877–1951), sozialdemokratischer Innenminister und späterer Staatspräsident von Baden,143 beantwortete die parlamentarische Anfrage. Remmele konstatierte, »[d]ie Zensur könne nicht mehr durchgeführt werden, weil sie von den Volksbeauftragten aufgehoben worden sei.«144 Die Abgeordneten Schofer u. a.145 stellen daraufhin folgenden Antrag, über den nach mehreren Redebeiträgen verschiedener Minister und Abgeordneter abgestimmt und der einstimmig angenommen wurde:
»Der Landtag beschließt, daß die badische Regierung sofort bei der Reichsregierung vorstellig wird, damit die Filmfabrikation verstaatlicht und das Kino kommunalisiert werde. Die Regierung wird dringend ersucht, sofort die Kinozensur wieder einzuführen und sie aufrecht zu erhalten, bis die Sozialisierung des Kinos durchgeführt ist.«146
In der vorherigen parlamentarischen »Aussprache«,147 in der das Kino als »[…] Schule der Unmoral und des Verbrechens […]« skizziert wurde,148 standen unter anderem die Aufführung sogenannter Schund- und Schmutz bzw. Aufklärungsfilme zur Debatte, also Filme jenes vielfältige Blüten treibenden Stummfilmgenres, das die Grenzen des Zeigbaren in der sogenannten zensurfreien Zeit verschob und mit der Lust am »Niegesehenen« die Besucher_innenzahlen der Lichtspielhäuser ansteigen ließ.149 Direkt Bezug genommen wurde auf die Filme »Prostitution« (1919, R: Richard Oswald), dessen Aufführung in Freiburg im Juli 1919 zu einem regelrechten Skandal geführt hatte,150 sowie auf die Filme »Opium« (1919, R: Robert Reinert) und »Paradies der Dirnen« (1919, R: Friedrich Zelnik). Auch Oswalds »Anders als die Andern« wurde in die Debatte eingebracht. Neben der Problematisierung von Gewalt- und Mord im zeitgenössischen Lichtspiel und dem möglichen »[…] Schaden für die geistige und sittliche Gesundheit unseres Volkes und insbesondere der Jugend […]«151 hob der Abgeordnete Friedrich Holdermann (DDP) die besondere Bedenklichkeit des »sogenannten Aufklärungsfilms« hervor, um im Badischen Landtag sogleich auf den Film »Anders als die Andern« zu sprechen zu kommen. Holdermann empörte sich: »In Frankfurt arbeitet ein Kino für die Abschaffung des Paragraph 175 des Strafgesetzbuches mit Musikbegleitung […],«152 woraufhin sich unter den badischen Landtagsabgeordneten, wohl aufgrund der homophob-ironischen Betonung eines Protestes mit Musikbegleitung, vielleicht auch aufgrund des in Landtagsdebatten unüblichen Verhandlungsgegenstandes des »Homosexuellenfilms« allgemeine Heiterkeit einstellte.153 Holdermann fasste unter Bezugnahme auf die »Frankfurter Zeitung« den Inhalt des Films konzis zusammen, um dies als Anlass zu nehmen, vor dem Landtag gegen die Errichtung weiterer Lichtspielhäuser zu wettern.154
Diese Debatte im Badischen Landtag wurde republikweit wahrgenommen. Die Lichtbild-Bühne berichtete mit Bezug auf den »Vorwärts«:
»In Karlsruhe und Freiburg ist der Aufklärungsfilm ›Die Prostitution‹ von der Staatsanwaltschaft auf zahlreiche Anträge hin beschlagnahmt worden; einzelne Stellen wurden aus dem Film herausgeschnitten. Gegen den Hersteller des Bildes, Richard Ornstein, genannt Oswald, ist auf Grund des §184 (Verbreitung unzüchtiger Schriften) Strafantrag gestellt worden. In der Badischen Landesversammlung erhob sich über den genannten und den Film ›Anders als die Andern‹ eine lebhafte Debatte. Es wurde beschlossen, daß Personen unter 20 Jahren der Zutritt zu diesen Aufklärungsfilms [sic] verboten werde. In Karlsruhe hat man den Kinobesitzern, die sich gegen diese Bestimmung vergehen, die sofortige Schließung der Lichtbildtheater angedroht. Weiterhin ist im Badischen Landtag der Antrag gestellt worden, die Kinos zu kommunalisieren und die Filmindustrie zu sozialisieren, um in Zukunft derartige Bilder unmöglich zu machen.‹«155
Auch der sich für das Lichtspielwesen eingehend interessierende Zeitgenosse und erste Ordinarius für Kunstgeschichte an der äußerst konservativen Universität Tübingen, Konrad Lange (1855–1921), verweist in seiner Publikation »Das Kino in Gegenwart und Zukunft« (1920) darauf, dass Richard Oswalds Filme »Die Prostitution« und »Anders als die Andern« »[…] in der badischen Landesversammlung eine lebhafte Aussprache [veranlaßten].«156
Lange vermischt in seiner Studie rassistische, antisemitische Äußerungen mit einer Ablehnung von sexualaufklärerischen Bemühungen. In seiner Publikation, die er in dem später traditionsreichen Stuttgarter Verlag Ferdinand Enke veröffentlichte, polemisiert der Professor:
»Ganz neuerdings sind es die perversen Erscheinungen des Sexuallebens, die sich als Inhalt von Aufklärungsfilmen besonderer Beliebtheit erfreuen. Darüber muß ja unsere Jugend notwendig aufgeklärt werden! Schon damit sie später einmal für die Straflosigkeit dieser bei uns glücklicherweise strafbaren Vergehen eintreten kann. Das par nobile fratrum Oswald und Hirschfeld zeichnet den Film Anders als die Andern. Er schildert das Geschlechtsleben der Homosexuellen, das zu den genannten Vergehen führt. Ich habe ihn nicht gesehen, schließe nur aus verschiedenen Schilderungen, daß er sehr unanständig ist.«157
Dem Tübinger Ordinarius war zu Ohren gekommen, dass bei einer Vorführung in Berlin »[…] eine Anzahl Soldaten – die doch sonst nicht gerade die prüdesten sind – mit Protest den Saal [verließ]. Ihr Exodus war begleitet von dem höhnischen Grinsen rassefremder Besucher, die ostensibel sitzen blieben, um diese Köstlichkeit bis zu Ende genießen zu können.«158
Die Formulierung »rassefremder Besucher« zielt hier unmissverständlich und in antisemitischer Manier auf jüdische Lichtspielbesucher_innen.159 Erkennbar verschränken sich in Langes Kritik antisemitische Äußerungen mit überheblich postulierten homophoben Kommentaren – erinnert sei an seine für Oswald und Hirschfeld verwendete ironische Charakterisierung als »edles Brüderpaar«. Der Tübinger Ordinarius bemühte damit eine rhetorische Strategie, die in der sexualkonservativen Kritik an sexualaufklärerischen Medien der Zeit und insbesondere in der Kritik an dem Film »Anders als die Andern« stetig bemüht wurde und in der sich Sexualisierungen und Antisemitismus verschränken.160
»Anders als die Andern« gilt als Oswalds »wirkungsmächtigstes Werk«.161 Der Aufführung des Films kann insbesondere im Hinblick auf die – heute auch als »bildungsferne Schichten« bezeichneten – Kinobesucher_innen ein emanzipatorisches Potential zugeschrieben werden. Durch das Aufführungsverbot in badischen und württembergischen Lichtspielhäusern kam dieses emanzipatorische Potential – anders als in weiten Teilen der jungen Republik – im deutschen Südwesten trotz seiner vor 1870/71 durch den Code Napoléon und damit durch eine liberale Legislation hinsichtlich mann-männlicher Homosexualität geprägten Gesetzgebung nicht zur Entfaltung.162 »Das ersehnte Zeichen einer neuen Zeit in unserer Sache« wie der Stuttgarter Leser C. Grieb in dem Heft »Die Freundschaft« die mögliche Aufführung des Films beschrieb, ließ im deutschen Südwesten auf sich warten.163