Читать книгу Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert - Julia Noah Munier - Страница 13

2.1.2 Emanzipationsgruppen zwischen bangem Treiben und lustvoller regionaler Vernetzung

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Erste Emanzipationsgruppen mit größeren Mitgliederzahlen gleichgeschlechtlich orientierter Menschen konstituierten sich Anfang bzw. Mitte der 1920er Jahre nicht nur im fernen Berlin,269 im hafenstädtisch geprägten, weltoffenen Hamburg270 oder in Köln,271 sondern auch in den urbanen Zentren der Region des heutigen Baden-Württemberg.272 Dennoch ist davon auszugehen, dass die Situation in der südwestdeutschen Provinz und ihren städtischen Zentren für homosexuelle Männer, oder wie sie sich selbst oft bezeichneten: für »Freunde«, weitaus eingeschränkter war. Ein Leser der Zeitschrift »Die Freundschaft« etwa beklagte sich 1920 über die Zurückhaltung der Freund_innen und Freunde Stuttgarts die Gründung von »Freundschaftsklubs« betreffend:

»Es ist eigentlich zu verwundern, daß Stuttgart mit seinen 300.000 Einwohnern hinter weit kleineren Städten in dieser Beziehung noch bedeutend zurücksteht. Überall werden Klubs der ›Freunde und Freundinnen‹ gegründet, ein ständiger Zusammenkunftsort in einem Lokal gewählt usw., und nur wir Stuttgarter, die wir doch ganz sicher in großer Anzahl vertreten sind, müssen immer noch mit furchtsamen und scheuen Blicken durch die Straßen und Kaffees der Stadt ziehen, um einen Gesinnungsgenossen und Freund zu finden.«273


Abb. 18: Gründung eines Freundschaftsbundes in Stuttgart im Januar 1920. Die Freundschaft, 2. Jg., Nr. 5, 1920.

Zugleich gibt diese Quelle eindrücklich Auskunft über die schwierigen Kontaktaufnahmemöglichkeiten Männer begehrender Männer vor der Gründung einschlägiger Treffpunkte im deutschen Südwesten.274 Einen Monat nach der Publikation dieses Leserbriefbeitrags gründete sich im Februar 1920 wie in anderen deutschen Städten etwa Berlin, Düsseldorf, Frankfurt a. M., Hannover und Hamburg der »Freundschaftsbund Stuttgart« (Abbildung 18). Die offenbar kleine Gruppe warb in der Zeitschrift »Die Freundschaft« immer wieder um Mitgliederzuwachs.275 In einer ihrer ersten Anzeigen verdeutlicht die Gruppe ihr Profil. Dort heißt es:

»[…] Endlich haben sich auch hier anständige Freunde zu einem Klub, unter dem Namen ›Schwalbenheim‹ zusammengeschlossen. Der erste Abend verlief in voller Harmonie! Die ›Freundschaft‹ wurde als Kluborgan erklärt. Bei uns soll das wirkliche Ideal der Freundschaft gepflegt werden, Gemütlichkeit, Kunst und Frohsinn sollen in unserem Klub eine Stätte finden.«276


Abb. 19: Anschluss der Stuttgarter Gruppe an den Dachverband. Die Freundschaft, 2. Jg., Nr. 42, 1920.

Im August desselben Jahres schließt sich die Gruppe wie andere Freundschaftsgruppen dem sich auf Initiative des WhK zu einem republikweiten Dachverband organisierenden »Deutschen Freundschaftsverband« (DFV) an (Abbildung 19).277 Damit wird der Stuttgarter Freundschaftsbund zu einer Ortsgruppe des Dachverbandes. Mit der Gründung des »Bundes für Menschenrecht« im Jahr 1923 benannte sich der »Deutsche Freundschaftsverband« in den »Bund für Menschenrecht« (BfM) um. Der Berliner Unternehmer und Homosexuellen-Aktivist Friedrich Radszuweit wurde zum ersten Vorsitzenden gewählt.278 So entstand in Stuttgart, vermutlich teilweise in Personalunion mit dem vormals bestehenden Freundschaftsbund eine Ortsgruppe des in den kommenden Jahren zur weitaus mitgliederstärksten Homosexuellenorganisation der Weimarer Republik avancierenden »Bundes für Menschenrecht«.279 Dennoch ist diese Ortsgruppe Stuttgart im Verzeichnis der Ortsgruppen der ersten Ausgabe der Zeitschrift »Blätter für Menschenrecht« (1. Jg., Nr. 1, 15. Februar 1923) nicht gelistet. In dieser Ausgabe findet sich für den südwestdeutschen Raum allerdings ein Hinweis auf eine Ortsgruppe des BfM in Karlsruhe.280 In den Blättern für Menschenrecht wird im März 1924 zudem (Ausgabe vom 07.03.1924, 2. Jg., Nr. 4) eine Gründung einer Ortsgruppe Mannheim – Ludwigshafen – Heidelberg in Aussicht gestellt, die sich ab März 1924 regelmäßig in Mannheim in den Räumlichkeiten von August Fleischmann trifft.281 Ebenfalls hier wird die Gründung einer Damengruppe (Karlsruhe, Baden) konstatiert (Abbildung 20).282


Abb. 20: Gründung des Freundschaftsbundes Karlsruhe (Dezember 1920). Quelle: Die Freundschaft, 2. Jg., Nr. 51, 1920.

In den »Blättern für Menschenrecht« sind nur knappe Berichte der regionalen und lokalen Aktivitäten des Bundes für Menschenrecht sowie von Einzelpersonen erhalten. Auch wenn in diesen vorsichtigen Regungen der zarten Emanzipationsbewegung im deutschen Südwesten keine explizite Bezugnahme auf einen liberalen Menschenrechtsdiskurs erkennbar ist, zeigt sich doch eine verbreitete aufklärerische Rhetorik, die als vorsichtige Anknüpfung an genuin liberale Traditionen im deutschen Südwesten verstanden werden könnte.283 Entsprechend wandte sich ein »Stuttgarter Freund« in einer der einschlägigen Zeitschriften an Gleichgesinnte:

»Betrachte Deine Veranlagung nie als etwas Unrechtes, Krankhaftes, denn was du tust ist Deine Natur – Die Nichterfüllung Deines Naturgesetzes kann nur ein Mensch von Dir verlangen, der unserer Sache aus Mangel an naturwissenschaftlichen Kenntnissen und falschem Moralgefühl verständnislos gegenübersteht.«284

In den »Blättern für Menschenrecht« – kurzweilig auch prägnant »Menschenrecht« genannt – ist, wie in ihrem Vorläufer »Der Freundschaft«, eine leitmotivische Bezugnahme auf den humanitaristischen Menschenrechtsdiskurs als virulente Konstante und als diskursives Schutzschild der Homosexuellenemanzipation zu erkennen.285 Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und im Gefolge der Aufklärung mit ihrem in Säkularisierungsbestrebungen und einem in Vorstellungen von Vernunft, Rationalität und Empirie wurzelnden Weltbild hatte sich in einigen europäischen Staaten eine liberalere Tendenz gegenüber homosexuellen Handlungen durchgesetzt, die auch in einer teilweisen Entkriminalisierung ihren Ausdruck gefunden hatte. Im Deutschen Reich wurde dies mit der Übernahme des »Homosexuellenparagrafen« aus dem Preußischen Strafrecht in das Reichsstafgesetzbuch jedoch verhindert.286

Entsprechend setzte die Emanzipationsbewegung zur argumentativen Absicherung ihrer Ziele auf Geistesgrößen der europäischen Aufklärung, z. B. indem sich der Vorsitzende des BfM, Friedrich Radszuweit, in der Konzeption seines »Freundschaftsverständnisses« auf Montaigne berief.287 Mit der naturrechtlichen ebenso wie der (natur-)wissenschaftlichen Begründung der Anerkennung homosexueller Handlungen, die mit der Ablehnung des Begriffs der »widernatürlichen Unzucht« ebenso einherging wie mit der Anerkennung der Idee einer in der »Natur des Menschen« wurzelnden sexuellen Orientierung, situierte sich die Bewegung strategisch in der Tradition der europäischen Aufklärung.288 Wiederholt wurden Vorstellungen der Befreiung, des Rechts am eigenen Körper und über sich selbst tradiert, die diese Semantik fundierten. Sie zeigt sich zugleich in der politischen Praktik von »Aufklärungs- und Bildungsveranstaltungen« die die Mitglieder des BfM und des WhK unter ihnen z. B. auch Mediziner und Juristen öffentlich abhielten und in denen es galt die Beteiligten zu kompetenten Mitstreiter_innen der Emanzipationsbewegung zu formen und sie ggf. zu befähigen selbst als Agenten der Emanzipation aufzutreten.

Nicht nur im württembergischen Stuttgart, sondern auch im liberalen Baden gründeten sich in den beiden größten Städten Mannheim und Karlsruhe in den 1920er Jahren Zweigstellen des Bundes für Menschenrecht. Im Frühjahr 1924 begannen sich gleichgeschlechtlich orientierte Personen auch im südbadischen Freiburg unter dem Dachverband des Bundes für Menschenrecht zu organisieren.289 Mitstreiter_innen des »Bundes für Menschenrecht« bemühten sich, nachdem es bereits im Jahr 1920 Bemühungen um die Gründung einer Freundschaftsgruppe gab (Abbildung 21),290 erneut um die Gründung einer Ortsgruppe. In der Ausgabe der »Blätter für Menschenrecht« vom 29.02.1924 hieß es und auch hier ist der Berliner Verlag die zentrale Vermittlungsinstanz der auf Anonymität bedachten Inserent_innen: »Freiburg-Zähringen. Einwandfreie Damen und Herren wollen sich zwecks Gründung einer Ortsgruppe an die Geschäftsstelle Berlin wenden.«291 Die aktiven Mitglieder des Bundes für Menschenrecht aus der Region Freiburg-Zähringen versuchten von Februar bis April 1924 eine Ortsgruppe zu gründen. Offenbar misslang dies, denn in den Ausgaben der »Blätter für Menschenrecht« Mitte/Ende 1924 findet sich weder das Inserat, noch ist die Gruppe im Verzeichnis der bestehenden Ortsgruppen der Blätter für Menschenrecht aufgeführt.292


Abb. 21: Aufruf zur Gründung einer Freiburger Freundschaftsvereinigung im Jahr 1920. Die Freundschaft, 2. Jg., Nr. 42, 1920.

Ein Grund für die Popularität des »Bundes für Menschenrecht« lag neben der inhaltlich-emanzipatorischen Ausrichtung, so der Historiker Günter Grau, auch darin, dass der Verein und seine regionalen Gliederungen, die Ortsgruppen, neben politischen Aktionen auch Freizeitveranstaltungen, sportliche Betätigungen, Ausflüge, Bälle und andere Geselligkeiten organisierten, was auch für die Ortsgruppen im deutschen Südwesten zutraf.293

»Der Verein reklamierte für sich, die Interessen aller gleichgeschlechtlich Liebenden zu vertreten und beanspruchte die Führungsrolle im Kampf gegen ihre Diskriminierung. Seine Politik führte immer wieder zu Konflikten bis zu heftigen, öffentlichen ausgetragenen Auseinandersetzungen mit dem WhK und Aktivisten der Homosexuellenbewegung der Weimarer Republik.«294

Darüber hinaus fiel der Verein beispielsweise im Gegensatz zum WhK gerade gegen Ende der Weimarer Republik durch antisemitische Tendenzen ebenso auf wie durch das Bekenntnis zum virilen Männerhelden.295

In Abgrenzung zur ältesten Organisation zur Reform des Strafrechtsparagrafen Deutschlands, dem »Wissenschaftlich-humanitären Komitee«, lehnte der »Bund für Menschenrecht« nicht nur die sexuelle Zwischenstufentheorie Magnus Hirschfelds ab, sondern ebenso den Typus des »effeminierten« männlichen Homosexuellen mit der Begründung, dieser würde dem Ansehen der Homosexuellen in der Öffentlichkeit schaden. Stattdessen pflegte man das Ideal einer hegemonialen Männlichkeit.296

Dieser bekannte Konflikt, die »Flügelkämpfe der Emanzipation« (Keilson-Lauritz), zeigte sich auch auf einer regionalen Ebene in der Aushandlung der Grenzen und Zugehörigkeiten zu den Freundschaftsgruppen zu Beginn der 1920er Jahre.297 In dieser Zeit begründete Ernst Kretschmer (1888–1964), Oberarzt der Psychiatrischen Abteilung des Universitätsklinikums Tübingen und Autor von »Körperbau und Charakter« (1921), seine psychosomatische Typenlehre,298 »[…] indem er die Körpertypen ›pyknisch‹, ›leptosom‹ [bzw. asthenisch, Anmerk. d. Verf.] und ›athletisch‹ entwickelte und meinte, mit ihnen auch bestimmte psychische Erkrankungen sowie Hinweise auf allgemein menschliche Persönlichkeitszüge, aber auch auf kriminelles Verhalten verbinden zu können.«299 Aus seiner biologisch fundierten Körperbaulehre entwickelte er eine Methode zur Bestimmung spezifischer Krankheitsformen wie Schizophrenie und Depression. Unter den »Leptosomen bzw. Asthenikern« verortete er auch »solche mit ›abnormer oder nicht eindeutig fixierter Triebrichtung‹.«300 Kretschmer konstatiert:

»Wir finden unter ihnen und ihren Angehörigen öfters ›homosexuelle Neigungen‹, ferner, auch ohne stärkeren sexuellen Antrieb, einen konträrsexuellen Habitus des Gefühlslebens, Mannweiber und weibische Männer.«301

In einem Aufsatz mit dem Titel »Keimdrüsenfunktion und Seelenstörung« (1921) behauptete Kretschmer basierend auf seinen Forschungen einen vermeintlichen konstitutionsbiologischen Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Homosexualität.302

Vor dem Hintergrund derartiger Konzepte und verwissenschaftlichter Ressentiments ist es kaum verwunderlich, dass bereits während der Gründungsphase der Stuttgarter Freundschaftsgruppe von einigen der Stuttgarter »Freunde« ein misogyner Maskulinismus und ein Eintreten für hegemoniale Männlichkeit auch als Strategie möglicher Anerkennung befürwortet und offen artikuliert wurde. So wetterte der Stuttgarter C. Grieb gegen die Effeminierten unter den homosexuellen Männern:

»In einer der letzten Nummern der ›Freundschaft‹ schreibt ein Einsender, daß jeder von ›Uns‹ mitarbeiten soll, um die Ansichten der großen Menge unserer näheren Umgebung über ›Uns‹ zu ändern. Diesem Rat kann ich nur aufs Wärmste zustimmen! […] Zeigt eurer Umgebung, daß wir Gefühlswerte besitzen, daß wir keine Lüstlinge, keine Verbrecher, keine Kranke sind, sondern daß es uns Natur ist so zu lieben! Gebt euch anständigen Menschen, wenn angebracht, zu erkennen. Warum denn die Komödie? […]«303

In der Auseinandersetzung um die öffentliche Repräsentation oder das öffentliche Bild des bzw. der Homosexuellen im deutschen Südwesten forderte er:

»Lebt doch euere Leben so, daß man euch Achtung zollt und abgewinnen muß! Nichts schadet uns mehr als ein ärgerniserregendes zur Schau getragenes Wesen in der Öffentlichkeit. Wohl frei, aber niemals provozierend, wie es leider so viel von den Unseren sich es zur Gewohnheit gemacht haben. Dieses ganze weibische, geschminkte Wesen wird ein Greuel [sic] nicht nur für die sog. Normale [sic], sondern auch für viele von ›Uns‹. Die Freundesliebe wird zur Dirne erniedrigt und hat mit unserem Ideal der herrlichen griechischen Liebe nicht mehr zu tun!«304

Dieser dem bürgerlichen Lager zuzurechnende Mann, der auf historische Vor-Bilder rekurriert und sich am (Subjekt-)Ideal der »griechischen Freundesliebe« orientiert, warnte die Leser_innen:

»Nichts schadet uns und unseren Brüdern mehr als ein solches Benehmen! Bewahret alle Würde, denn mit Argusaugen werden wir beobachtet […]. Diese Menschen richten sich selbst, sind es wahrlich nicht wert, daß das Morgenrot der Freiheit über sie hereinbricht!«305

C. Grieb beendet seine Warnung mit kämpferischen Sätzen:

»Allen Freunden, besonders aber in meiner Vaterstadt Stuttgart, möchte ich zurufen: ›Vereinigt Euch, schließt Euch zusammen, dann sind auch ›Wir‹ eine Macht, mit der unbedingt gerechnet werden muß, lest ›Die Freundschaft‹, unser Blatt, helft mit an der Befreiungsarbeit, mag er im täglichen Leben stehen wo er will, so wird der Sieg doch zuletzt ›Unser sein!‹ C. Grieb.«306

Im Mittelpunkt einer öffentlich geführten Auseinandersetzung sich unterschiedlich verortender lokaler Akteure in Stuttgart stand die Frage, welche Personen Zugang zu dem neugegründeten Stuttgarter Freundschaftsbund haben sollten. Diskutiert wurde u. a. ob Männer aus der Arbeiterschicht aufgenommen werden sollten. Deutlich zeigte sich dabei eine Ablehnung effeminierter Männlichkeit bzw. eine Ablehnung gegenüber Sexual- und Genderentwürfen, die als »invertiert« bezeichnet wurden.307

Zwei Stuttgarter »Freunde« kritisierten in der Zeitschrift »Die Freundschaft« zunächst die Mitglieder-Policy des Stuttgarter Freundschaftsbundes, auf welche sie die zum damaligen Zeitpunkt sehr niedrigen Mitgliederzahlen zurückführen:

»Warum der Stuttgarter Freundschaftsbund nicht gedeiht und niemals gedeihen kann, hat seinen Grund darin, daß der Zweck, die Geselligkeit und alles andere im hiesigen Bund viel zu einseitig sind. Was bezweckt denn eigentlich dieser Bund, der nicht das Bestreben zeigt, Gleichheit gegenüber allen zu üben und alle Gleichgesinnten von den Plätzen fernzuhalten, denen wir unseren Ruf bei den Normalen verdanken? […] Denken Sie nicht, daß in einem Arbeiterherzen nicht genau so viele edle Gesinnung zu finden wäre wie in dem Euren, denn gerade beim einfachen Menschen finden wir die heiligen Ideale.«308

Die anonym bleibenden Mitglieder der bestehenden Freundschaftsgruppe konstatieren in ihrer Replik in der darauffolgenden Ausgabe der »Freundschaft«: »Die Aussperrung einzelner hängt nachgerade nicht davon ab, daß es ein Arbeiter ist, sondern lediglich von dem ›tantischen Gebahren und der Klatschsucht‹ gewisser Personen.«309

Zusätzlich verweisen die Mitglieder des Freundschaftsbundes darauf, dass erst kürzlich eine Gruppe, die in einer Gastwirtschaft zusammenkam, des Lokales verwiesen wurde, da sich Einzelne »[…] in solch verletzender Weise aufgeführt [haben], daß sie nach kurzer Zeit das Lokal nicht mehr betreten bzw. gemeinsam benutzen durften.«310

Die Frage der Zugehörigkeit zum Freundschaftsbund wird hier verbunden mit dem möglichen Eintreten für erprobte Strategien der Anerkennung und folglich mit einer angemessenen, d. h. hegemonialer Männlichkeit entsprechenden Genderperformance. Die Einpassung in die Subjektform hegemonialer Männlichkeit und die damit einhergehende Vermeidung effeminierter Gesten und einer »weiblichen Körpersprache«, dem »tantischen Gebahren«, wird hier zur Voraussetzung für Zugang und interne Anerkennung.311 Von einer strategischen Einpassung in Genderperformances, die einer hegemonialen Zweigeschlechtlichkeit entsprechen, erhofften sich die Akteure als (geschlechter-) intelligible Subjekte Anerkennung in den öffentlichen Räumen der Mehrheitsgesellschaft zu erfahren. Derartige Aushandlungsprozesse zeugen nicht nur von einem hohen Maß an kritischer Selbstbeobachtung der eigenen lebensweltlichen Gefüge, sondern es ist davon auszugehen, dass sie auf der Ebene der individuellen Akteur_innen ein hohes Maß an Anpassungsdruck und erhöhte Selbstreflexivität bewirkten. Fragen danach, wie man sich kleidet, wie man auftritt, welchen Konsumstil man pflegt, mit welchen Gegenständen man sich umgibt und welcher Semantiken man sich bedient, werden hier zu äußerst ernsten Fragen der gesellschaftlichen »Mitspielfähigkeit«. Im Blick auf das eigene Selbst entwickeln die historischen Akteur_innen damit ein Gespür für die Grenzen akzeptabler Subjekthaftigkeit in den zugänglich gewordenen, halböffentlichen Räumen der Mehrheitsgesellschaft.

Bezüglich der Nutzung von Lokalen und Gaststätten machten auch die Ortsgruppen des BfM möglicherweise ähnliche Erfahrungen: Der Vorstand der »Ortsgruppe Karlsruhe« kündigte für den ersten Samstag im Januar 1924 ein Stiftungsfest im Stammlokal der Ortsgruppe, im zweigeschossigen Wohn- und Gasthaus »Restaurant zum Salmen« am zentral gelegenen Karlsruher Ludwigsplatz an, zu dem alle »Freunde aus Nah und Fern« herzlich eingeladen waren.312 Auffällig ist, dass die Ortsgruppe nach dem Stiftungsfest offenbar nicht mehr in dieser Lokalität am Ludwigsplatz zusammenkam. Am 1. Februar 1924 ist in dem »Adress-Verzeichnis der Ortsgruppen« des Bundes für Menschenrecht vermerkt, dass sich die Gruppe nun in einer neuen Lokalität in der östlichen Innenstadt trifft (»Hotel Bürgerhof« beim alten Bahnhof).313 Weshalb wechselten die Mitglieder des »Bundes für Menschenrecht« nach diesem Fest ihr Stammlokal? Nicht nachzuweisen jedoch denkbar ist es, dass die Ortsgruppe nach ihrem Stiftungsfest im Restaurant »Zum Salmen« nicht weiter erwünscht war. Verloren die Mitglieder ihr Ortsgruppen-Lokal, weil der Wirt oder die Wirtin des »Salmen« seine bzw. ihre Räumlichkeiten nicht länger als Versammlungs- und Festort zur Verfügung stellen wollte? Waren möglicherweise auch Anwohner_innen in die Situation involviert?314 Am 15. Februar 1924 vermeldete die Ortsgruppe als Treffpunkt – wiederum einige Häuser weiter – das Hotel »Prinz Max« (Adlerstr. 37).315 Im Juli 1924 zogen die Mitglieder des Karlsruher Bundes für Menschenrecht erneut in ein anderes Lokal in unmittelbarer Nähe. Treffpunkt war nun »Jeden Sonntag abend 8 Uhr« im »Hotel zu den ›Goldenen Trauben‹, Steinstraße 17, Ecke Adlerstraße.«316 Etwa innerhalb eines halben Jahres, von Januar 1924 bis zum Juli 1924 wechselte die Gruppe in kurzen Abständen vier Mal ihr Vereinslokal. Wie schwierig es war, in einer derartigen Situation, die einer ständigen Veränderung unterworfen und in der bei eingeschränkten Distribuierungsstellen der Freudschafts- bzw. Homosexuellenzeitschriften die Verfügbarkeit über das Wissen um die sich verändernden Treffpunkte nicht gewährleistet war, überhaupt zu dieser Gruppe zu stoßen, wird unmittelbar deutlich.317

Die in den Zeitungen und Blättern erhaltenen Schilderungen der Zusammenkünfte, der Bälle und Festivitäten der Ortsgruppen des BfM geben einen Einblick in regionale wie überregionale Vernetzungsstrukturen. Sie geben ferner durch das dort präsentierte Kulturprogramm Auskunft über ein Lebensgefühl, über Sehnsuchtsräume der Mitglieder des BfM zum Ende der 1920er Jahre im deutschen Südwesten.

In der Rubrik »Aus der Bewegung« der »Blätter für Menschenrecht« dokumentierte die Mannheimer Ortsgruppe im Februar 1932 enthusiastisch ihre im Dezember 1931 im Bundeslokal abgehaltene Weihnachtsfeier:318 »Zum ersten Male konnten die Freunde Mannheims und Umgebung im eigenen Kreise Weihnachten feiern […]«,319 berichtete ein Mitglied der Ortsgruppe, die zur gemeinsamen Feier mit einer »großen Anzahl Artgenossen im festlich geschmückten, renovierten Bundeslokal« zusammenkam.320 Der Vorsitzende der Ortsgruppe hielt zu diesem Anlass eine Rede, in der er die »Freundschaftsidee« ins Zentrum stellte. Andere Mitglieder der Ortsgruppe trugen, etwa durch Stepp- und Tangotanz sowie durch Violinenvorführungen zur weiteren Unterhaltung der Anwesenden bei. Auch war man bemüht, durch eine Verlosung Geld in die Kassen des Bundes für Menschenrecht zu spülen und damit die Emanzipationsbewegung zu fördern.321 Was nach dem wohlstrukturierten Unterhaltungsprogramm mit emanzipatorischem Beiwerk folgte, ist »off the record«. Klar ist, in Mannheim wurde an diesem Tag im Dezember 1931 bis in den frühen Morgen hinein gefeiert. Auch die sich zum Jahreswechsel ereignende Silvesterfeier brachte die »Freunde und Freundinnen« – das Werben um weibliche Mitglieder in der Vereinszeitschrift hatte sich offenbar gelohnt – »fabelhaft« in das Jahr 1932.322

Einen weiteren Einblick in die aus heutiger Perspektive und vor dem Hintergrund der avantgardistischen Tendenzen etwa in Stuttgart und in Karlsruhe der 1920er Jahre durchaus etwas bieder oder (klein-)bürgerlich erscheinenden Zusammenkünfte der Ortsgruppen des BfM vermittelt ein Bericht der Ortsgruppe Stuttgart über das »sehr gut besuchte Frühlingsfest«, das Mitglieder der Ortsgruppe im Saalbau Rosenau (Rotebühlstraße 109b) am 2. April 1932 organisierten. Im knappen Bericht der Vereinszeitung heißt es:

»Hervorragendes leistete unser Freund Julius Holl, welcher durch den gesanglichen Vortrag von Liedern: ›Ungeduld‹ von Schubert, ›Liebesfeier‹ von Franz, ›Verratene Liebe‹ von Hildach, und ›Wanderlied‹ von Schumann, alle Freunde und Gäste erfreute und reichlichen Beifall erntete.«323

Ein Bericht der Ortsgruppe Stuttgart bezeugt, dass zu einem am 5. November 1932 im Saalbau Rosenau veranstalteten Stiftungsfest sich nicht nur die Mitglieder der hiesigen Ortsgruppe einfanden, sondern es wurden auch Gäste aus Pforzheim, Karlsruhe, Mannheim und der Pfalz, aus Tuttlingen und Nürnberg begrüßt (Abbildung 22).324 Es bestanden mithin regionale Kontakte nach Baden, ins Württembergische sowie überregionale Kontakte nach Bayern und in die Pfalz, die zu diesem Anlass gepflegt wurden.325

In der Dezember/Januar-Ausgabe der »Blätter für Menschenrecht« von 1932/1933 verkündete die Ortsgruppe Karlsruhe ihre Neugründung, die sie mit einem Gründungsfest im »Hotel Geist« (Kronenstraße 54) feierte.326 Eingeladen waren


Abb. 22: Gaststätte Sonnenhof in Stuttgart (1942). Anfang der 1930er kam hier die Ortsgruppe des BfM zusammen.

nicht nur »Mitglieder«, »Freunde« und »Gönner«, wie es in dem kleinen Artikel heißt, sondern auch die umliegenden Ortsgruppen des BfM aus Stuttgart und Mannheim.327 Während des Festes der Ortsgruppe in Karlsruhe im Dezember/Januar 1932/33, zu dem auch viele Stuttgarter kamen, hielt der erste Vorsitzende der Ortsgruppe Mannheim, Kurt Hunger, eine Rede über »Zweck, Ziel und Gemeinschaftsgeist im Bunde«, Neben dem »Karlsruher Schützenmarsch« wurde ein Violinensolo vorgeführt und ein Mitglied der Gruppe sang das Lied »Einsam klingt das Glöckchen«. Im Bericht heißt es: »Überall sah man frohe Laune und gemütliche Stimmung war über den ganzen Saal, der festlich geschmückt war, verbreitet […].«328 Zur Erinnerung an den bereits im März 1932 an den Folgen einer Tuberkulose-Erkrankung verstorbenen Herausgeber der »Blätter für Menschenrecht« und Vorsitzenden des »Bundes für Menschenrecht« Friedrich Radszuweit, »[…] den allzufrüh verstorbenen Führer und Kämpfer der Bewegung […]« wurde später »[…] auf gedämpfter Geige und Klavier […]« das Lied: › »Ich hatt’ einen Kameraden« gespielt »[…] das von allen Anwesenden stehend und im stillen Gedenken an den Führer angehört wurde.«329 Anschließend wurden der neugegründeten Ortsgruppe Tischstandarten überreicht.330

Die während der Festivitäten dargebotenen Lieder und Rezitationen lassen Rückschlüsse auf die in diesem lebensweltlichen Gefüge zirkulierenden kognitiven Artefakte zu. Die Liedwerke und ihre (vermutete) homoerotische Aneignung, etwa durch den anzunehmenden Austausch von Pronomen in den Liedtexten, waren Teil der Lebenswelten, der Selbstverständnisse und der Selbstbilder der hier organisierten homosexuellen Männer, der »Freunde und Freundinnen« im deutschen Südwesten der 1920er und beginnenden 1930er Jahre.331

Mit der Darbietung und dem angenommenen »queering« eines Liedes wie »Ungeduld« aus Franz Schuberts (1797–1828) Liederzyklus »Die schöne Müllerin« (1823) kann hier ein vorsichtig entstehendes homosexuelles Selbst-Bewusstsein ausgemacht werden. Das homoerotisch appropriierte Lied, das als solches von einer intensiven Liebe zu einem anderen Mann kündet, von einer Liebe, die geheim ist und die ihren Adressaten nicht zu nennen oder gar zu adressieren wagt, zeugt zugleich von einer Sehnsucht, diese Liebe öffentlich zu verkünden. In der mann-männlich homosexuell gewendeten Variante singt ein gleichgeschlechtlich orientierter Mann davon, dass er seine Liebe zu einem anderen Mann überall kundtun möchte, zugleich befürchtet er, dass genau diese Liebe erkannt und entdeckt werden könnte:

»Ich schnitt es gern in alle Rinden ein, ich grüb’ es gern in jeden Kieselstein, ich möcht’ es sä’n auf jedes frische Beet, mit Kressensamen, der es schnell verräth, auf jeden weissen Zettel möcht’ ich’s schreiben: Dein ist mein Herz, und soll es ewig bleiben. […] Ich meint, es müsst’ in meinen Augen steh’n, auf meinen Wangen müsst’ man’s brennen seh’n, zu lesen wär’s auf meinem stummen Mund, ein jeder Athemzug gäb’s laut ihr [bzw. ihm, Anmerk. d. Verf.] kund, und sie [bzw. er] merkt nichts von all’ den [sic] bangen Treiben: Dein ist mein Herz, und soll es ewig bleiben.«332

Deutlich zeigt sich hier ein romantisch geprägtes Motiv der Einsamkeit, das aufgelöst wird in ein hoffnungsvolles Sehnen. Das ebenfalls im Kontext der Stuttgarter Feier des BfM 1932 aufgeführte »Wanderlied« von Robert Schumann wendet das Motiv der Sehnsucht positiv und schließt mit dem Motiv erfüllter Liebe in der Ferne elterlicher und familiärer Verbundenheit. Es bietet damit ein Identifikationsangebot, das sich leicht übertragen lässt auf vielleicht brüchige Lebenswege, die sich traditionellen, gewissermaßen evidenten Vorgaben von Lebensplanung und familiärer Solidarität entziehen und die in der vagen Anonymität einer südwestdeutschen Großstadt »Heimat« in der Liebe zu einer anderen gleichgeschlechtlichen Person neu begründen.333


Abb. 23: Portrait verklemmter bürgerlicher Homoerotik? Georg Scholz: »In einem kühlen Grunde… (Deutsches Volkslied)«, Heidelberg (1923). Bleistift auf Papier, 31,0 × 23,0 cm.

Diese ambivalente Verschränkung von Homoerotik und Rekurs auf bestimmte Topoi der deutschen Romantik gibt der durch seine neusachlichen Arbeiten als sozialkritisch bekannt gewordene Maler Georg Scholz auch in seiner Zeichnung »In einem kühlen Grunde … (deutsches Volkslied)« (1923) zu sehen (Abbildung 23).

Scholz skizziert hier quasi-naturalistisch zwei bürgerliche Männer in homoerotischer Pose vor einem Landschaftshintergrund. Die Zeichnung, die durch Überzeichnung und Lichtsetzung stark artifiziell wirkt, gibt die Männer oberhalb eines Dorfes zu sehen, gekleidet im modernen Herren- oder Sonntagsanzug, beide an eine Eiche gelehnt, der eine sitzend und ein Volkslied singend, der andere stehend und auf einer Flöte spielend.334

Während das Dorf, bestehend aus einer Kirche, einer Wassermühle und wenigen Häusern, wie verlassen wirkt – Scholz gibt lediglich einen Knaben zu sehen, der in einen Weiher uriniert – blicken sich die beiden Männerfiguren verliebt in die Augen. Dabei umgreift der Sitzende, der in einer Hand eine Blume hält, den auf einer Flöte Spielenden mit seiner anderen Hand so, dass er dessen Oberschenkelinnenseite berührt. Der Musikant, der mit überkreuzten Beinen, tailliertem Anzug und Absatzschuhen effeminiert in Szene gesetzt ist, berührt mit seinem Pfennigabsatz wiederum den Schritt des Sitzenden. Die von Scholz hinzugefügte Beschriftung »›In einem kühlen Grunde …‹ (Deutsches Volkslied)«, verweist auf das von Friedrich Glück (1793–1840) vertonte romantische Gedicht von Joseph von Eichendorff (1788–1857), das unter dem Titel »Untreue« als »Volkslied« weitreichende Bekanntheit erlangte. Allerdings scheint es sich bei dieser Zeichnung von Georg Scholz, trotz der Anspielung auf das Motiv der Wassermühle, nicht um eine Illustration des bekannten Volksliedes zu handeln, sondern um eine ironisierende, persiflierende Zeichnung, die zwei Lesarten zulässt: Die Zeichnung stellt aus oder enthüllt ironisch, wie eine vermeintlich homosoziale, bürgerlich deutsch-nationale Männlichkeit der beiden Volksliedmusikanten ins Homoerotische und Homosexuelle zu kippen vermag. Vielleicht verspöttelt sie aber auch, wie sich homosexuelle Männer in deutschnationale, romantische Narrative einschreiben und wie dies zu scheitern droht.335

Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert

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