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1 Einleitung

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»Auch uns scheint wieder die Sonne und blühen wieder die Blumen.«1

»Das Kriminalrecht bestraft nicht Sünden; das weltliche Recht ist kein antizipiertes Jüngstes Gericht. Das staatliche Recht muß sich auf den Schutz elementarer Rechtsgüter beschränken.«2

»Mir bleibt ein Rätsel, warum ich 1933 dieses gottselige Land nicht verließ. Heute weiß ich’s: ich wollte am eigenen Leibe erfahren, bis zu welchem Grad der Selbsterniedrigung dieses Volk gehen konnte. […] Und ich weiß auch, worauf ich jetzt noch warte. Ich möchte noch einmal vor einem Richter stehen, diesmal wird es aber ein demokratischer Richter sein, um hören zu können, was der nun zu sagen haben wird. Ca vaut très bien une leçon [sic]. Als zuständige Richter würde ich nur zwei Menschen anerkennen: André Gide und Kurt Hiller. Ihren Spruch erkenne ich bedingungslos an.«3

»Sie wollten damals, als Sie mich verhörten und auf die Probe stellen wollten, ich hätte mich doch einer Tat schuldig gemacht, Sie sagten gar mal zu mir, ich hätte ein schlechtes Gewissen […]. Ich habe es wohl bemerkt, was Sie allerhand bei mir versuchten, um allerhand noch bei mir herauszupressen. Werter Herr Dr. das alte Sprichwort heißt: ›Mit Speck fängt man Mäuse‹. Das ist bei mir leider nicht der Fall. Ich wiederhole es Ihnen noch einmal, dass ich ein ruhiges und festes Gewissen habe.«4

»Ich tue doch eigentlich nichts Verbotenes, ich betätige mich doch nur so, wie meine inneren Gefühle es vorschreiben. Für meine Auffassung wäre es […] unsittlich, wenn ich mit einer Frau vertraulichen Verkehr pflegen müsste. Die Gesetze sind sehr hart. Warum bestraft man uns.«5

»[…] ich war halt so, und so wie’s isch, so isch’s […].«6

Die vorliegende Studie ist den ungenannten Opfern des § 175 (R)StGB im deutschen Südwesten gewidmet.7 Die obigen Zitate vermitteln einen anschaulichen Eindruck davon, worum es der vorliegenden Studie geht: die Selbstentwürfe und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im Zeitraum zwischen 1919 und 1969 darzustellen. Der gewählte Zeitraum umfasst drei unterschiedliche politische Systeme – die Weimarer Republik, das NS-Regime und die Bundesrepublik Deutschland. Die Studie endet mit der Liberalisierung des § 175 StGB im Zuge der bundesrepublikanischen Strafrechtsreform unter dem Bundesminister der Justiz Gustav Heinemann (SPD) in der von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) geführten Großen Koalition im September 1969. Auf diese Weise können Kontinuitäten in den Blick genommen werden, welche politische Zäsuren überschreiten. Angesichts erheblicher Forschungslücken8 erfordert ein solcher Längsschnitt, Fragestellungen in den Vordergrund zu stellen, die kulturelle Phänomene der »longue durée« zu erfassen imstande sind und sich weniger an politikhistorischen Erscheinungen abarbeiten. Die Kategorie der »Lebenswelten« ist daher der Kernbegriff der vorliegenden Studie, wobei es sich gleichsam von selbst versteht, diese »Lebenswelten« in den übergreifenden politischen Kontext einzuordnen und in die jeweilige Sexualpolitik einzubetten.9

An dieser Stelle ist ein kleiner Exkurs zur zweiten Leitkategorie »homosexuelle Männer« angebracht,10 die in sich hochgradig differenziert ist. Der Begriff »homosexuelle Männer« dient als Sammelkategorie, die sich des Umstandes bewusst ist, dass damit die Diversität der Lebenswelten homosexueller Männer nicht in jedem Fall abgebildet werden kann.11 Der Berliner Kulturwissenschaftler Andreas Pretzel betont in diesem Kontext ausdrücklich, dass selbst die staatlich verfolgten homosexuellen Männer keine homogene Gruppe bildeten hinsichtlich vergleichbarer Lebensbedingungen, sexueller Identitäten, Mentalitäten und Erfahrungen.

»Die Verfolgten unterschieden sich aufgrund sozialer Ungleichheiten bedingt durch Herkunft, Milieu- und Klassenzugehörigkeit, finanzielle und intellektuelle Ressourcen, politische Gesinnungen und durch unterschiedliche sexuelle Präferenzen.«12

Daraus lässt sich in methodischer Hinsicht die Forderung ableiten, die spezifischen Konstellationen historisch-systematisch zu erfassen, in denen homosexuelle Männer ihre Lebensentwürfe zur Entfaltung zu bringen suchten. Dies ist ein Ansatz, der von dem Historiker Sven Reichardt als »praxeologische Geschichtswissenschaft« bezeichnet worden ist und der sich auch die vorliegende Studie verpflichtet weiß.13 Dabei ist letztlich auch zu berücksichtigen, dass die Gruppe homosexueller Männer strafrechtlich geformt wurde: Sie wurde als spezifisches kriminalisiertes Subjekt hervorgebracht. Die Subjektivation als »Homosexueller« folgte dem doppelten Verständnis von »subjectum« entsprechend, als Unterwerfung und (Selbst-) Ermächtigung.14

»Damit die staatliche Verfolgung Homosexueller in der Forschungslandschaft zur NS-Verfolgung eine angemessene Beachtung und Unterstützung erfährt, bedarf es eines Bewusstseinswandels in den Institutionen der Geschichtsforschung und -vermittlung. Das gilt ebenso für die Aufarbeitung staatlichen Unrechts nach 1945. Auch hierzu herrscht erheblicher Nachholbedarf, um Geringschätzung und vorhandene Berührungsängste beim Thema Homosexualität zu überwinden.«15

Diese Feststellung eines Experten schärft den Blick für den Forschungskontext, der auch für die vorliegende Studie relevant ist. Warum geschieht die Erforschung und die sogenannte Aufarbeitung der Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg erst jetzt, mehr als 80 Jahre nach der NS-Verschärfung des § 175 RStGB in Folge des »Röhm-Putsches«16 und rund 50 Jahre nach der großen bundesrepublikanischen Strafrechtsreform von 1969, in einem größeren akademisch-wissenschaftlichen Rahmen?17

Lange Zeit waren es Betroffene, welche die »Aufarbeitung« der Verfolgungsschicksale homosexueller Männer initiierten und deren Geschichte beharrlich erforschten.18 Dabei schlug ihnen ähnlich wie den sogenannten »Alltagshistorikern« der 1980er Jahre nicht selten Geringschätzung vonseiten der »zünftigen« Geschichtswissenschaft entgegen.19 Doch allmählich hat sich die Gesamtlage gewandelt; und der Eindruck dürfte berechtigt sein, dass dieses Thema mittlerweile dort angekommen ist, wo es wie alle anderen historischen Themen von kultureller und politischer Relevanz hingehört: ins Zentrum der akademischen Historie.

Die vorliegende Untersuchung kann aufbauen auf einer Reihe Lokal- und Regionalstudien speziell zur Verfolgung homosexueller Männer im NS-Staat.20 Per Saldo kommen solche Studien zu dem Ergebnis, dass die Verfolgung regional höchst unterschiedlich verlief und dass lokale Strukturen offenbar erheblichen Einfluss auf das Ausmaß und die Intensität der Verfolgung hatten.21 Für ein größeres Flächenland besteht hingegen auch in dieser Hinsicht noch erheblicher Forschungsbedarf:

»Ungeachtet zahlreicher Studien sind die privaten Lebenssituationen und die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Homosexuellen in der Zeit des Dritten Reiches bislang für keine größere politisch-administrative Einheit – etwa für ein ganzes Land – flächendeckend, hinreichend oder gar umfassend erforscht […].«22

Die vorliegende Untersuchung profitiert erheblich davon, dass zivilgesellschaftliche Akteure in Baden-Württemberg seit den 1980er Jahren in Eigeninitiative Material zusammentrugen und für die Verfolgung Homosexueller im NS-Regime gesellschaftlich sensibilisierten. Beispielhaft seien an dieser Stelle herausgegriffen Veranstaltungen der Initiativgruppe Homosexualität Tübingen (IHT), die im Rahmen der »Gesundheitswoche Tübingen« (08.–17.10.1982) zu einer Veranstaltung mit dem Titel »Mediziner und Schwule während der NS-Zeit« einlud.23 Erinnert sei auch an eine Ausstellung mit dem Titel »Homosexualität im Nationalsozialismus«, die im Theaterfoyer des Ulmer Stadttheaters in der Spielzeit 1984/1985 gezeigt wurde und die zusammen mit dem von Dietrich Hilsdorf am Ulmer Stadttheater inszenierten Stück »Rosa-Winkel« bzw. »Bent« von Martin Sherman einen größeren Aufmerksamkeitsraum für das Thema schuf. Kuratiert wurde diese Ausstellung durch den Medizinhistoriker Walter Wuttke, der sie mit der Unterstützung zahlreicher Schwulengruppen und Bildungsvereine zusammengestellt hatte. Die Ausstellung wurde als weiterentwickelte Wanderausstellung bis Ende der 1980er Jahre in vielen Städten der Bundesrepublik präsentiert (Abbildung 1 u. 2).24


Abb. 1: Cover des Ausstellungsmagazins »Homosexuelle im Nationalsozialismus«. Ausstellung im Haspelturm Tübingen 1987.


Abb. 2: »Bent« von Martin Sherman am Nationaltheater Mannheim 1980. Deutsche Erstaufführung unter der Regie von Jürgen Bosse. Im Bild die Schauspieler Peter Rühring (rechts) und Heinz Schubert (links).

Solche außerakademischen Initiativen strahlten in Einzelfällen auch auf die Universitäten aus, an denen sich nicht zuletzt die Betreuenden von Qualifikationsarbeiten überaus schwer damit taten, Dissertationen zu diesem Themenkomplex zu vergeben. Insofern stellt die Dissertation von Burkhard Jellonnek, die 1990 unter dem Titel »Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich« publiziert wurde, eine beeindruckende Pionierleistung dar, weil sie das Forschungsfeld erstmals umfassend abdeckte. Wenig später erschien eine grundlegende Dokumentensammlung von Günter Grau »Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung« (1993). Zu erwähnen ist auch die von Bernd-Ulrich Hergemöller herausgegebene Bibliographie »Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten« (1999).

Insgesamt nahm die historische Forschung auf diese Weise allmählich Fahrt auf. Einen Meilenstein der Forschung stellte der 2014 erschienene Sammelband des Historikers Michael Schwartz »Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen 1933 bis 1945« dar. Sein Hauptverdienst ist es, methodisch neue Wege gewiesen und den Fokus der Untersuchung auf die Diversifizierung von sexuellen Identitäten (sexual identities) als auch von geschlechtlichen Identitäten (gendered identities) ausgeweitet zu haben. Insbesondere der in dem Sammelband von Schwartz erschienene Aufsatz von Michael Buddrus zu den Verfolgungsschicksalen homosexueller Männer in Mecklenburg war im Hinblick auf die Entwicklung des methodischen Vorgehens und die Konzeptualisierung des Forschungsdesigns dieser Studie hilfreich.25 Michael Schwartz hat im Jahre 2019 seine Forschungen in Gestalt einer Monographie synthetisiert, die schon jetzt den Charakter eines Standardwerks beanspruchen kann.26

Gewinnbringend für den auf die bundesrepublikanische Geschichte abzielenden Teil dieser Studie erwies sich überdies die im Rahmen des Forschungsprojektes über strafrechtliche Verfolgung und Diskriminierung von Homosexualität im Lande Rheinland-Pfalz zwischen 1946 und 1973 (Institut für Zeitgeschichte/ Bundesstiftung Magnus Hirschfeld) entstandene Studie von Günter Grau und Kirsten Plötz »Verfolgung und Diskriminierung der Homosexualität in Rheinland-Pfalz« (2017). Als erste wissenschaftliche Studie, die sich mit der bundesrepublikanischen Verfolgungsgeschichte in einem Flächenbundesland befasst, setzte sie neue Maßstäbe.27

Zugleich knüpft diese Studie an wichtige regionale und lokale außerinstitutionelle Arbeiten zur Verfolgung homosexueller Männer nach § 175 (R)StGB in Baden und Württemberg an,28 die in den letzten Jahren im Kontext von lokalen Initiativen und Vereinen wie der »Themengruppe Geschichte und Erinnerung« des Netzwerks LSBTTIQ Baden-Württemberg entstanden.29 Ausdrücklich hingewiesen sei auf die Forschungen von Ralf Bogen und William Schaefer.30 Besonders hervorzuheben in diesem Zusammenhang ist das von dem Geschichtsforscher Ralf Bogen geleitete Bildungs- und Aufklärungsprojekt »Der Liebe wegen« (www.der-liebe-wegen.org). Die Webseite berichtet eigenen Angaben zufolge von »Menschen im deutschen Südwesten«, »die wegen ihrer Liebe und Sexualität ausgegrenzt und verfolgt wurden«.31 Sie dokumentiert in umfangreicher Kleinstarbeit zahlreiche Biografien homosexueller Männer aus dem deutschen Südwesten.

Ausdrücklich bedarf der Erwähnung die avantgardistische Vorarbeit des Historikers Karl-Heinz Steinle, der für die Schriftenreihe »Hefte des Schwulen Museums« wertvolles Quellenmaterial auch und gerade zu südwestdeutschen homosexuellen Lebenswelten gesammelt hat. Ihm gebührt das Verdienst, die Geschichte eines in Reutlingen beheimateten Zirkels der »Kameradschaft die runde«, als erster wissenschaftlich untersucht zu haben.32 Last but not least lebt diese Studie von den zahlreichen kleineren Beiträgen und Anregungen aus der sogenannten Community und der interessierten Öffentlichkeit selbst, die im Kontext des begleitenden Public-History Projektes (www.lsbttiq-bw.de),33 im Kontext von Tagungen, Diskussionsveranstaltungen oder Vorträgen an das Projekt und die Autor_in herangetragen wurden.34 Es sei hervorgehoben, dass der vorliegenden Studie ein Privileg zuteil wurde. Sie entstand im Rahmen des, durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg geförderten, Forschungsprojektes »LSBTTIQ in Baden und Württemberg. Lebenswelten, Repression und Verfolgung im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland« (Universität Stuttgart, Historisches Institut, Abteilung Neuere Geschichte).

Hinsichtlich der Quellenlage ist zu konstatieren, dass Zeitzeugen nicht mehr zur Verfügung stehen, welche die Zeit des nationalsozialistischen Terrors er- bzw. überlebt haben und die insbesondere von der NS-Verfolgung, ihren Verfolgungsschicksalen und Lebenswelten im deutschen Südwesten zwischen 1933 und 1945 berichten könnten. Die wenigen Zeitzeugen, die von der Verfolgung im bundesrepublikanischen Baden-Württemberg berichten können, sind heute meist hochbetagt. Sollten sie im Laufe ihres Lebens aufgrund des § 175 StGB verurteilt worden sein, so wurden diese Strafen bis in das Jahr 2017 nicht aufgehoben. Als Opfer der bundesrepublikanischen Justiz wurden sie über Jahrzehnte nicht rehabilitiert und galten bis dahin als vorbestraft. Daher ist das Zeitzeug_innen-Interview-Projekt der Bundestiftung Magnus Hirschfeld »Archiv der Anderen Erinnerungen« von besonderem Wert, das in den letzten Jahren ein Video-Archiv mit Zeitzeug_innen-Interviews sowie mit individuellen Erfahrungen und Erinnerungen zu LSBTI*-Lebensgeschichten seit den 1950er und 1960er Jahren angelegt hat und auf das für diese Studie zurückgegriffen werden konnte.35 Die außerordentlich gewinnbringende Kooperation des Forschungsprojektes mit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld sei an dieser Stelle herausgestellt. Dr. Daniel Baranowski und Jörg Litwinschuh-Barthel gebührt diesbezüglich herzlicher Dank. Auch die Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte in Gestalt von Prof. Michael Schwartz hat die vorliegende Studie maßgeblich befördert, wofür auch ihm ausdrücklich gedankt sei. Besonders hervorzuheben sind zudem die an diesem Projekt beteiligten Zeitzeugen Alfred, Helmut Kress, Richard Moosdorf und Heinz Schmitz.36

Es liegt auf der Hand, dass die Erinnerungen von Zeitzeugen nur vor dem Hintergrund der methodischen Reflexion über den Quellenwert von »oral history« herangezogen werden können. Es ist in Rechnung zu stellen, dass Erinnerungen an Begebenheiten, die Jahrzehnte zurückliegen, konstitutiv der Verformung nicht zuletzt durch im individuellen Gedächtnis abgespeicherte mediale Repräsentationen unterliegen.37 Doch steht außer Frage, dass vermittels dieser Zeitzeug_innen-Interviews historische Quellen generiert werden, die es überhaupt erst ermöglichen, einen Einblick in die kriminalisierten und damit auch marginalisierten Lebenswelten homosexueller Männer des bundesrepublikanischen Südwestens zu erhalten, über die es kaum schriftliche Zeugnisse gibt. Über homosexuellen Männern schwebte bis 1969 das Damoklesschwert desjenigen Strafrechtsparagraphen, der vermutlich der bekannteste überhaupt war: Was ein »§ 175er« war, war allgemein bekannt und diente auch der semantischen Umschreibung dessen, was als Vergehen nach § 175 (R)StGB mit der historischen, heute nicht mehr gebräuchlichen Deliktbezeichnung »widernatürliche Unzucht« bzw. »Unzucht« bezeichnet wurde.38 Mit der Deliktbezeichnung der »Unzucht«, die seit der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935 und ihrem Inkrafttreten am 1. September 1935 geläufig war, wurden sowohl Vergehen und Verbrechen gegen den § 175 RStGB gefasst, als auch gegen den § 175 a RStGB, Abs. 1–4 (»Schwere Unzucht«). Der § 175 RStGB bezog sich auf einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern, sogenannte einfache Homosexualität, und stellte diese unter Strafe.39 Der § 175 a RStGB bezog sich auf die sogenannten qualifizierten Fälle:

»Als sog. qualifizierte Fälle der Homosexualität galten homosexuelle Handlungen, die unter Anwendung von Gewalt (§ 175a Nr. 1 RStGB), bei Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses (§ 175a Nr. 2 bzw. § 175 in Tateinheit mit § 174 RStGB), an Minderjährigen unter 21 Jahren (§ 175a Nr. 3 bzw. § 175 in Tateinheit mit § 176 RStGB) oder ›gewerbsmäßig‹ (§ 175a Nr. 4 RStGB) vorgenommen wurden.«40

In dieser NS-Fassung blieben die §§ 175, 175 a StGB bis 1969 in Kraft.

In den zentralen Staats- und Landesarchiven Baden-Württembergs konnten zahlreiche Aktenbestände ausgemacht werden, die Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer analysierbar machen. Hierzu gehören: Das Staatsarchiv Ludwigsburg, das Staatsarchiv Sigmaringen, das Hauptstaatsarchiv Stuttgart, das Generallandesarchiv Karlsruhe sowie das Staatsarchiv Freiburg. Die systematische Auswertung dieser Dokumente ermöglicht einen Einblick in unterschiedliche Lebenswelten homosexueller Männer und deren Verfolgungsschicksale.

Viele für dieses Projekt wesentliche Quellen sind heute nicht mehr überliefert. Zahlreiche Gestapo- und Polizeiakten wurden durch gezielte Verbrennungsaktionen und Bombeneinschläge zerstört.41 Durch geplante, willkürliche Zerstörung und archivalische Kassierungen von für diese Forschung aufschlussreichen Aktenbeständen ist von einer entsprechenden Dunkelziffer von nicht gesichteten Fällen auszugehen. Weitere Aktenbestände sind nicht in dem Maße erschlossen, um mit ihnen gewinnbringend arbeiten zu können.

Der Fokus dieser Forschung richtet sich nach den überlieferten Quellen, ohne die überlieferungsbedingten Lehrstellen aus dem Blick zu verlieren.42

»Das Wunschdenken, alle Quellen zu einem historischen Akteur [bzw. einer Akteur_in, Anmerk. d. Verf.] oder gar sozialen Prozess zusammentragen zu können, entspringt einem bürgerlichen Verständnis von Historiografie, das Vergangene möglichst vollständig rekonstruieren zu wollen. Heute ist die ›Vollständigkeit der Quellen‹ für die meisten Historiker [und Historiker_innen, Anmerk. d. Verf.] eine absurde Vorstellung. Nichtsdestotrotz ist diese Wunschvorstellung immer wieder ein nicht zu unterschätzender Antrieb […].«43

Tausende überlieferte Dokumente der staatlichen Verfolgungsinstitutionen, die heute in den bundesrepublikanischen Staats- und Landesarchiven archiviert sind, vermögen es, über das Verfolgungsschicksal homosexueller Männer Auskunft zu geben. Doch lassen sich anhand dieser Dokumente der Verfolgungsinstiutionen auch Lebenswelten homosexueller Männer analysieren?

Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert

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