Читать книгу Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert - Julia Noah Munier - Страница 8

1.1 Zur Analyse von Lebenswelten homosexueller Männer anhand von Dokumenten der Verfolgungsorgane44

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Im Zuge der Erforschung und Dokumentation der »Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg« wurden zahlreiche Strafprozess-, Strafvollzugs- oder Polizeiakten aufgespürt, gesichtet und analysiert.45

Es erscheint befremdlich, durchaus problematisch und möglicherweise auch wenig ergiebig, das Konzept der Lebenswelten verwenden zu wollen, wenn Lebenswelten vorwiegend auf der Grundlage von archivalischen Nachlässen der Verfolgungsbehörden und -institutionen dokumentiert und rekonstruiert werden. Der augenscheinliche Einwand, dass diese Quellen weniger Lebenswelten als Verfolgungsschicksale dokumentieren, scheint zunächst berechtigt.46

Doch worüber genau geben diese Quellen Auskunft, und können sie zur Erforschung von Lebenswelten homosexueller Männer fruchtbar gemacht werden? Wie vermögen es diese Quellen Einblicke in Lebenswelten zu geben? Und wie muss eine historiografische Forschung konzeptualisiert sein, die es vermag vermittels dieser archivalischen Nachlässe der Verfolgungsorgane Lebenswelten homosexueller Männer zu erforschen und zu dokumentieren?

In seinen Überlegungen zu dem Forschungsprojekt »Lebenssituation, polizeiliche Repression und justizielle Verfolgung von Homosexuellen in Mecklenburg 1932 bis 1945« (2014) beschreibt der Historiker Michael Buddrus den möglichen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisgewinn durch Häftlingsakten.47 Buddrus konstatiert, dass Häftlingsakten und jene darin zumeist befindlichen Gerichtsurteile Auskunft über die persönlichen Verhältnisse der Gefangenen geben, dass vermittels dieser die Tatumstände, die herangezogenen rechtlichen Bestimmungen und das Strafmaß deutlich werden.48 Darüber hinaus enthalten sie Informationen über Alter, Namen, Herkunft und die Nationalität der Verurteilten. Buddrus betont:

»Wir erfahren, wie das Delikt den Polizei- oder Justizbehörden bekannt geworden ist, wer angezeigt und denunziert hat, aber auch, welche Dienststellen (zumeist Kripo und Gestapo) und welche Beamten die Ermittlungen geleitet haben. Deutlich wird weiterhin, welches Gericht sich mit der Verfolgung des Straftatkomplexes § 175 RStGB befasst hat.«49

So lässt die Auswertung dieser Quellen Rückschlüsse über die Organe und Akteure der Verfolgung zu. Beispielsweise lässt sich erfahren, ob es sich um Amts- bzw. Landes- oder Oberlandesgerichte handelte, oder, in der NS-Zeit, um Kriegsgerichte, um das Reichsgericht sowie Sondergerichte, die an der Verurteilung homosexueller Männer beteiligt waren. Zugleich lässt sich in Erfahrung bringen, ob Gefängnisaufenthalte lediglich durch Oberstaatsanwaltschaften oder die Gestapo veranlasst wurden, also nicht auf einem Urteilsspruch beruhten.50

Auch ist zu ersehen, welche Richter die Angeklagten verurteilt haben, welche Staatsanwälte die Anklage verfasst haben und wer die Angeklagten vor Gericht vertreten hat.51 Zudem, und dies betont Buddrus für den Kontext Mecklenburg, zeichnet sich auf dieser Grundlage ab, und einiges deutet darauf hin, dass dies auch im deutschen Südwesten so war,52 dass sich eine bei Staatsanwaltschaften und Gerichten »[…] deliktbezogen herausbildende Spezialzuständigkeit entwickelte«.53

»Aus den Häftlingsakten werden […] Einzelheiten und Spezifika des Strafvollzugs an Homosexuellen erkennbar, so über das Einlieferungsprozedere, den Gesundheitszustand und die Haftbedingungen, über mögliche Delikte während der Haft und darauf folgende Hausstrafen sowie über die kriminalpsychologische Beurteilung durch Strafanstaltsbeamte.«54

Außerdem – und hier klingt zumindest an, wie diese Quellen möglicherweise nicht nur über die Verfolgungsschicksale Auskunft geben können, sondern weitere Einsichten in Lebenswelten ermöglichen – liegen in nicht wenigen Fällen auch die von der »[…] Anstaltszensur zurückgehaltenen und in der Gefangenenakte überlieferten Briefe eines Häftlings und seiner Angehörigen Zeugnis ab vom persönlichen Befinden des Verurteilten, dem Verhalten seiner Familie und dem Alltag innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern.«55

Es ist also zu konstatieren, dass wir vermittels dieser Quellen – »[…] durch den spezifischen Blick der Verfolgungsinstanzen gefilterte – Einblicke […]« in die Lebenswelten homosexueller Männer erhalten.56

Auch in der Quellengruppe der Strafprozessakten sind Rückschlüsse auf die Lebenswelten homosexueller Männer möglich. Sie enthalten ebenfalls Angaben zum Anfangsverdacht, wie z. B. Denunziationsschreiben; darüber hinaus enthalten sie die Aussagen der Beschuldigten und ggf. auch die möglicher Zeugen, Anwaltsschreiben und medizinische Gutachten. Weiter beinhalten sie aus der Perspektive einer historiografischen Forschung als Ego-Dokumente einzustufende »Beweisstücke« wie Tagebücher und Terminkalender, aber auch Zeitschriften, Fotografien, private Korrespondenzen zwischen Freunden, Liebhabern und Partnern sowie Korrespondenzen mit offiziellen Vertretern von Homosexuellenorganisationen u. v. m. Hinzu kommen Anklage und Verteidigungsschriften, der Verlauf der Gerichtsverhandlung, das Strafmaß sowie teilweise auch Angaben über die Strafverbüßung.57

Bezüglich des Auskunftswertes von Polizeiakten konstatiert Jan-Henrik Peters, der die Verfolgung homosexueller Männer auf dem Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns im »Dritten Reich« untersucht hat, dass diese Quellen Aussagen zu allen Ermittlungsfällen enthalten, auch zu »[…] denjenigen, bei denen es zu keiner Anklageerhebung gekommen war. Außerdem informieren sie über Ansätze und Methoden der Ermittlungsarbeit. Nicht zuletzt dokumentieren die Akten dieser Sicherheits- und Terrororgane die sogenannte ›polizeiliche Vorbeugung‹, d. h. Deportation Schwuler in die Konzentrationslager.«58

Überdies konnten im Kontext der Quellenauswertung wiederholt Dokumente ausgemacht werden, in denen Männer gegen den Paragrafen 175 a, Nr. 1–3 (R)StGB verstießen. Doch wie ist mit diesen Quellen im Kontext einer Studie zu den Lebenswelten und Verfolgungsschicksalen homosexueller Männer zu verfahren? Deutlich wird, dass es sich bei diesen besonders sensiblen Quellen um einen Grenzbereich handelt. Die Gruppe der nach § 175 a (R)StGB verurteilten Männer und ihre deliktbezogenen Handlungen sind in sich stark differenziert. Vor dem Hintergrund eines gegenwärtig veränderten Normbewusstseins erscheint die Einbeziehung von Quellen, die u. a. darüber Auskunft geben, dass erwachsene Männer über 21 Jahren mit Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren einvernehmlich sexuell verkehrten, möglicherweise nachvollziehbar.59

Sind aber beispielsweise Quellen miteinzubeziehen, die u. a. darüber Auskunft geben, dass erwachsene Männer über 21 Jahren sexualisierte Gewalt an männlichen Personen zwischen 14 und 21 Jahren verübten? Sind also beispielsweise Gerichtsurteile nach § 175 a, Nr. 1 (Anwendung von Gewalt) in diese Studie miteinzubeziehen und damit auch die auf diesen Urteilen basierenden Verfolgungsschicksale historischer Personen? Ähnlich brisant erscheint die Einbeziehung von Quellen und damit von Verfolgungsschicksalen, die auf Verurteilungen nach § 175 a, Nr. 2 (Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses) zurückgehen. Zu bedenken ist allerdings auch, dass derartige Straftatbestände über ihre strafrechtliche Bedeutung hinaus von den historischen Akteuren der Verfolgungsinstitutionen genutzt werden konnten, um gegen politisch missliebige Personen vorzugehen.

Einzuräumen ist, dass die Quellen und Urteile, in denen Personen nach § 175 a, Abs. 1 u. 2 verurteilt wurden, möglicherweise seltener explizit Auskunft über Lebenswelten homosexueller Männer geben. Dennoch sollten sie in Bezug auf die Dokumentation von Verfolgungsschicksalen berücksichtigt werden. Fasst man den Begriff der »homosexuellen Männer« hier sexologisch und nicht explizit identitätspolitisch, dokumentieren diese Quellen ebenso Verfolgungsschicksale homosexueller Männer.

Es ergibt keinen Sinn, vergangene historische Handlungen oder Delikte z. B. auf der Grundlage unseres gegenwärtigen Jugendschutzgesetzes neu beurteilen zu wollen. In dem hier skizzierten Rahmen erscheint es kaum durchführbar auf der Grundlage gegenwärtiger Wissens- und Normbestände, der Grundlage der erhaltenen durch die NS-Justiz geprägten Dokumente und den oft unter Anwendung von Gewalt erzwungenen Aussagen der Betroffenen, vergangene historische Praktiken – gemeint sind sowohl sexuelle Handlungen wie auch die Praxis der Strafverfolgung – neu zu betrachten, zu interpretieren und beurteilen zu wollen.60 Die Urteile der NS-Rechtsprechung entstammen einem genuinen Unrechtssystem.

Die vorliegende Studie erachtet den § 175 (R)StGB als Unrechtsparagraphen. Vor diesem Hintergrund plädiert sie für einen differenzierten Zugang zu dieser Problematik und gibt zu bedenken, dass der Unrechtscharakter von NS-Strafgesetzgebungen in Bezug auf (mutmaßliche) Sexualstraftäter – so zeigt es auch die Regelung zur Rehabilitierung der Opfer des § 175 RStGB von 2002 – nicht unmittelbar evident erscheint.61 Der Erforschung des NS-Unrechts an dieser Gruppe stehen historisch-gesellschaftlich gewachsene hochemotionalisierte Ressentiments gegenüber (mutmaßlichen) Sexualstraftätern und ihrer ambivalenten Rolle changierend zwischen »Täter« und »Opfer« entgegen, die einen differenzierten Zugang zur Forschung oft verstellen. Mit einer Nichtbearbeitung dieses Feldes tradiert sich ein gesellschaftliches Tabu des Sprechens über sexualisierte Gewalt auch in der Geschichtswissenschaft.

Ausdrücklich distanzieren möchte sich die vorliegende Studie von einer in homophober Manier auch heute noch geläufigen imaginären Verknüpfung von mann-männlicher Homosexualität und dem, was vielfach immer noch unter dem euphemistischen Begriff der »Päderastie« oder auch »Pädophilie«, präziser vielleicht als »Pädosexualität«, bzw. als »sexualisierte Gewalt an Kindern« zu fassen ist.62 Quellen, die aus einer gegenwärtigen Perspektive ausschließlich als Kindesmissbrauch einzuschätzen sind, erhalten keinen Eingang in diese Untersuchung. Fundamental infrage steht der Auskunftswert derartiger Quellen hinsichtlich der Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer.63 Um einen differenzierten Zugang zu gewährleisten, erscheint es jedoch wichtig, bei einer (mutmaßlichen) Vermischung der Tatbestände oder bei mehrfacher Verurteilung z. B. nach § 175 a, Ziffer 3 und § 176, oder § 174, diese auch zu erwähnen.

Einzuräumen ist, dass eine gesellschaftlich zirkulierende imaginäre Verschränkung von Homosexualität und Päderastie nicht allein auf Homophobie beruht, sondern sie gewissermaßen als historisch gewachsen zu betrachten ist: Vor dem Hintergrund eines Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts verbreiteten Bezugs zu antiken Vorbildern wurde das Konzept der Päderastie zur Rechtfertigung und Idealisierung eines sexuellen Begehrens zumeist älterer Männer an kindlich-jugendlichen Körpern (nicht selten auch an denen einer südeuropäischen Subalterne) appropriiert.64 Diese Tendenzen, Überschneidungen von Interessensgruppen und Allianzen wie Konflike offenzulegen, scheinen für eine kritische historiografische Forschung zur Geschichte der Homosexualitäten unabdingbar.

Strafprozess-, Strafvollzugs- und Polizeiakten, die homosexuelle Männer betreffen, können trotz der geschilderten scheinbar einseitigen Auskunftsfähigkeit zu Verfolgungsschicksalen auch die Erforschung von Lebenswelten ermöglichen und zwar sowohl im Kontext staatlicher Repression wie beispielsweise des »Strafvollzugs«, aber teilweise auch von Lebenswelten jenseits des Strafvollzugs.

Um die unterschiedlichen Lebenswelten jedoch nicht zu reduzieren auf die Repressions- und Verfolgungsrealitäten und Lebenswelten facettiert zu dokumentieren, scheint es sinnvoll, den Quellenkorpus um weitere Quellen zu ergänzen. Hierzu gehören weitere private Dokumente, Publikationen der homosexuellen Emanzipationsbewegung, zeitgenössischer Film, Literatur, künstlerische Repräsentationen oder sexualpolitische Diskurse der jeweiligen Untersuchungszeit.

Vor dem Hintergrund der möglicherweise nur reduziert Auskunft über die Lebenswelten gebenden Quellen und der Ergänzung dieser durch weitere Quellenbestände scheint eine Erforschung von Lebenswelten durch die Perspektivierung einer kulturwissenschaftlich informierten Geschichtswissenschaft gewinnbringend zu sein. In dieser kann der Quellenvielfalt, die zur Untersuchung der Lebenswelten homosexueller Männer unabdingbar ist, aus einer praxeologischen Forschungsperspektive begegnet werden.

Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert

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