Читать книгу Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert - Julia Noah Munier - Страница 12

2.1.1 Von ersten Impulsen zu Lebenswelten im Aufbruch

Оглавление

Für die Entstehung lebensweltlicher Gefüge homosexueller Männer bzw. Freunde in der Region des heutigen Baden-Württemberg ist vor allem die Bedeutung der zumeist in Berlin publizierten sogenannten »Homosexuellenzeitschriften« hervorzuheben. Hintergrund hierfür bildet einerseits die Aufhebung der Zensur durch Artikel 118, Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung, aber auch die Entstehung einer zunehmenden Konsum- und Freizeitkultur sowie technische Neuerungen der Zeit, die es überhaupt erst ermöglichten, diese Blätter und Zeitungen günstig zu vervielfältigen und u. a. durch ein Abonnentensystem zu vertreiben.164

Die im Gewand von »Freundschaftsmagazinen« und »Menschenrechtspublikationen« im deutschen Südwesten abonnierbaren und an spezifischen Verkaufsstellen erwerbbaren Publikationen waren wiederholt, auch durch Anzeigen des württembergischen Innenministeriums, mit Zensurforderungen konfrontiert.165

Grundlage hierfür war im Wesentlichen das ab 1926 eingeführte »Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften« (1926),166 das anders als das Lichtspielgesetz keine Vorzensur, sondern eine nachträgliche Indizierung vorsah.167

»Mit dem ›Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften‹ schuf eine Reichstagsmehrheit aus Liberalen (Teile der DDP, DVP), Konservativen (Zentrum) und Reaktionären (DNVP) Ende 1926 ein neues, effektives Zensur-Instrument, mit dem auch die Zeitschriften gleichgeschlechtlich begehrender Menschen bekämpft wurden. […] Ein Großteil der Zeitschriften gleichgeschlechtlich begehrender Menschen wurde zwischen 1928 und 1932 auf die Liste für ›Schund- und Schmutzschriften‹ gesetzt, einige sogar mehrfach.«168

Durch das am 18. Dezember 1926 erlassene Gesetz waren »[…] neben zahlreichen weiteren Druckerzeugnissen fast alle Zeitschriften gleichgeschlechtlich begehrender Menschen […] betroffen.«169

Obwohl in Berlin produziert und herausgegeben, fungierten die Publikationen dennoch auch für den deutschen Südwesten als wichtige Ermöglichungsbedingung, als Kommunikations- und Vernetzungsplattform, die die Herausbildung und Verstetigung subkultureller Lebenswelten und ihre teilweise emanzipatorische Politisierung in der Region des heutigen Baden-Württemberg maßgeblich beförderten.170

Die Zeitschriften und Blätter waren besonders zu Beginn auf Berliner Rezipient_innen zugeschnitten, wie die abgedruckte Zuschrift eines Lesers aus Württemberg an die Berliner Leser_innen der »Freundschaft« verdeutlicht. Der Stuttgarter beklagte den Berlin-Fokus mit dem Hinweis auf zahlreiche Leser_innen in der Provinz, zu der dieser auch Stuttgart zählte:

»Sehr egoistisch scheinen die Berliner veranlagt zu sein, die am liebsten ihre ›Freundschaft‹ ganz für sich behalten würden. Denn sie denken scheinbar nicht daran, daß es auch draußen in der ›Provinz‹ und im weiten Deutschland noch viele Hunderte und Tausende gibt, denen die ›Freundschaft‹ eine liebe Freundin geworden ist.«171

Jener Stuttgarter Leser der Zeitschrift »Die Freundschaft«, der sich bereits über die Absetzung des Filmes »Anders als die Andern« empört hatte, forderte im Februar 1920 öffentlich:

»Sehr zu begrüßen wäre es, wenn das Komitee [gemeint ist das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee, Anmerk. d. Verf.] sich mehr um andere Städte [als Berlin, Anmerk. d. Verf.] und die Provinz kümmern würde; in dieser Hinsicht sind wir leider ganz auf Berlin angewiesen. Daher mag auch zum großen Teil die Unkenntnis, das fehlende Interesse beruhen.«172

Weiter führte er aus:

»Gerade in kleineren Städten leiden so viele unter ihrer Veranlagung, nicht wissend, daß Menschen für sie tätig sind und eintreten. Berlin hat häufig Vorträge populär-wissenschaftlicher Art, während wir fern von da, so gut wie nichts zu hören bekommen.«173

Mit seinem Leserbrief versuchte dieser Stuttgarter den Mitgliedern des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK: ein 1897 von dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, dem Verleger Max Spohr [1850–1905], dem »Juristen« Eduard Oberg [1858–1917] sowie dem Schriftsteller Franz Joseph von Bülow [1861–1915] in Berlin gegründeter politisch-wissenschaftlicher Zusammenschluss, der sich für die Aufhebung des § 175 RStGB einsetzte und der eng mit dem 1919 gegründeten Institut für Sexualwissenschaft verbunden war), aber auch den homosexuellen Menschen bzw. »Freunden und Freundinnen« im deutschen Südwesten einen ersten Impuls zur politischen Organisierung zu geben. Er fragte, ob es nicht möglich wäre »[…] daß das Komitee einen Mitarbeiter als Pionier senden würde, denn auch wir in den mittleren Städten und in der Provinz ringen nach Freiheit und Aufklärung.«174 Um seine Bitte zu untermauern, schrieb er:

»Speziell hier herrschen noch die krassesten, mittelalterlichen Ansichten, eine heuchlerische Presse trägt noch Wasser auf die Mühle. Das wissenschaftlich-humanitäre Komitee hätte hier eine dankbare Aufgabe, der Erfolg würde sicher nicht ausbleiben. Ich glaube hier im Sinne Vieler gesprochen zu haben. Vielleicht wären ›Wir‹ dankbarer als die Berliner. Zum Schlusse möchte ich einem Jeden ernstlich zurufen und bitten: laßt alle falsche Scheu fahren, nimmt selbst Teil am Kampf, tretet dem wissenschaftlich-humanitären Komitee bei […].«175

Bereits ein Jahr später, 1921, gründete sich, nachdem es in Mannheim bereits eine Ortsgruppe des Wissenschaftlich-humanitären Komitees gab, auch in Stuttgart eine Ortsgruppe des WhK (Abbildung 6).176


Abb. 6: Gründung einer Ortsgruppe des WhK in Mannheim-Ludwigshafen im Frühjahr 1921. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 21. Jg., H. 1–2., Januar u. April 1921.

Unter dem Titel »Nimm mich mit, ich zeige Dir den Weg« wurde im Januar 1932 in den »Blättern für Menschenrecht« ein »Internationaler Reiseführer« (Martin Radszuweit-Verlag) angekündigt,177 dessen Kapitel oder Teile in der Zeitschrift »Die Freundschaft« noch im Januar und Februar 1933 einzeln zur Bestellung beworben wurden.178 Unmittelbar nach der Ernennung Adolf Hitlers (1889–1945) zum Reichskanzler wurde in dieser Anzeige auf eine Reihe badischer und württembergischer Großstädte verwiesen, für die es sich offenbar lohnte einen damals noch nicht so genannten Cityguide mit Hinweisen auf einschlägige Treffpunkte und anderes zum Versand anzubieten (Abbildung 7).179


Abb. 7: Bewerbung von Reiseführern bzw. Adressverzeichnissen auch aus Baden und Württemberg. Die Freundschaft. 15. Jg., Nr. 1, Jan. 1933.

Insbesondere in den südwestdeutschen Mittel- und Großstädten Stuttgart, Mannheim,180 Ludwigshafen181 und Pforzheim,182 der durch die Schmuck- und Uhrenindustrie in den 1920er Jahren florierenden Stadt am Nordschwarzwald, bestanden der Anzeige zufolge derart lebendige Lebenswelten, dass diese gewissermaßen »genug zu bieten« hatten, um den Verkauf und Briefversand entsprechender »Reiseführer« vermittels einer Anzeige zu bewerben. Gleichzeitig zeugt diese Reklame davon, dass die entsprechenden Lebenswelten in diesen südwestdeutschen Städten untereinander und auch durchaus mit der Hauptstadt Berlin vernetzt waren.183

Die Werbeanzeige verdeutlicht, was aus den »Reiseführern« über Lebenswelten homosexueller Männer im deutschen Südwesten zu erfahren war, etwa der damalige »Sitz« und die »Zusammenkünfte evtl. vorhandener Organisationen, homoerotische Verkehrslokale, preiswerte Hotels mit guter Verpflegung« sowie »verständnisvolle Ärzte und Rechtsanwälte«.184 Die »Reiseführer« gaben einen ersten Überblick über mögliche stadträumliche Koordinaten und möglicherweise verwiesen sie auch auf wichtige Akteur_innen und Anlaufstellen, die die Entstehung von Lebenswelten maßgeblich beförderten und zwischen denen sich Lebenswelten homosexueller Männer im deutschen Südwesten aufspannten und verräumlichten. Zugleich lässt die Anzeige mit dem Hinweis auf »preiswerte Hotels«, »verständnisvolle Ärzte und Rechtsanwälte« etwas aufscheinen von den Repressionsrealitäten im deutschen Südwesten, wie auch im Rest der jungen Republik.185 Erhalten scheint lediglich ein sehr frühes Exemplar des Reiseführers aus dem Jahr 1920/21, der für diese Studie ausgewertet wurde.186 Spätere Varianten gelten als nicht erhalten.187

Die Bewerbung der Reiseführer zeugt aber auch davon, dass die historischen Akteure den Repressionsrealitäten etwas entgegenzusetzten vermochten und Lebenswelten in der Aushandlung mit Repressionsrealitäten und ihren Akteuren aktiv gestaltet wurden, etwa durch politische Organisierung und Vernetzung, durch juristische Beratung und die Verfügung über medizinische Expertise. Zudem wird in der Werbeanzeige die Kurzlebigkeit solcher Informationen betont. Die historischen Akteure wechselten im deutschen Südwesten ihre Treffpunkte und »Verkehrslokale« in den 1920er und beginnenden 1930er Jahren regelmäßig. Auch konnten die für die lebensweltlichen Gefüge zentralen Persönlichkeiten beispielsweise durch polizeiliche Verfolgung plötzlich nicht mehr ansprechbar sein und wichtige Anlaufstellen von heute auf morgen zumindest zeitweise nicht mehr zur Verfügung stehen.188 Die Lebenswelten homosexueller Männer waren durch die geltende Gesetzeslage und durch bestehende Strafverfolgungspraxis verfolgungsbedingt dynamisiert, aber sie waren auch hochgradig prekarisiert durch eine heteronormative, im deutschen Südwesten trotz der liberalen Tradition weitgehend christlich geprägte Gesellschaftsordnung, im Badischen vorwiegend katholisch, im Württembergischen protestantisch bzw. pietistisch.189

Die Publikationen der homosexuellen Emanzipationsbewegung der 1920er und beginnenden 1930er Jahre, wie etwa die von dem Berliner Verleger Karl Schultz190 herausgegebene Zeitschrift »Die Freundschaft« (08/1919–03/1933),191 die von Friedrich Radszuweit (1876–1932) publizierten »Blätter für Menschenrecht« (1923–1933),192 das von Magnus Hirschfeld herausgegebene »Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen« (1899–1923) u. a., sowie die im Kontext dieser Studie untersuchten Polizei- und Gerichtsakten lassen skizzenhafte Rückschlüsse auf und kaleidoskopische Einblicke in Lebenswelten homosexueller Männer im deutschen Südwesten in den 1920er und beginnenden 1930er Jahren zu, teilweise entfalten sich anhand der zusammengesetzten Quellensplitter ganze Lebensschicksale.193

Die Jahre 1919 bis 1923 gelten sowohl in der Weimarer Republik als auch in den südlichen Nachbarstaaten Österreich und Schweiz als eine Aufbruchsphase der Organisation gleichgeschlechtlich begehrender Menschen.194

Im deutschen Südwesten ist in dieser Zeit der Aufbruch der Emanzipationsbewegung zu spüren, die einen genuin links-bürgerlichen Charakter aufwies. Die großen Emanzipationsvereine, die sich in dieser Zeit im deutschen Südwesten nachweisen lassen, wie das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee und der Bund für Menschenrecht, setzten in ihren Selbstbezeichnungen mit den Leitkategorien des »Humanitären« und der »Menschenrechte« den Akzent nicht etwa auf »Klassenrechte« und damit soziale Forderungen, sondern auf individuelle Persönlichkeits- und Freiheitsrechte, die wissenschaftlich begründet wurden und im Fall des WhK durch einen Sachverständigenrat erstritten werden sollten.195

Der emanzipative »Geist von Weimar« beflügelte homosexuelle Männer in den städtischen Zentren im deutschen Südwesten der 1920er Jahre, nicht zuletzt jene, die in der württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart lebten, die sich damals bevölkerungspolitisch, ökonomisch, aber auch kulturell rasant entwickelte.196 Bereits in den 1920er Jahren zeugte die Industriemetropole von einer beträchtlichen politischen und kulturellen Entwicklung,197 auch in Gestalt einer Anbindung an avantgardistische Ideen der Zeit und intellektuelle Zentren Europas. In den europäischen Metropolen Berlin und Paris wurde die Garçonne und der Bubikopf en vogue, ein Look, der in Kombination mit Trenchcoat und Herrenhose oder dem modernen Damenkostüm auch in intellektuellen Zirkeln im deutschen Südwesten zu sehen war.198

Alexander von Gleichen-Rußwurm (1865–1947) schrieb im Karlsruher Tagblatt 1926:

»Auch die Wirkung der jüngsten Revolution läßt sich gut an Hand der Mode studieren. Sie schreibt dem weiblichen Wesen Vermännlichung vor, nicht nur aus praktischen Gründen der Arbeit wegen, die beide Geschlechter gleichmäßig leisten müssen, noch mehr wegen der stetig zunehmenden Auflösung des Heims. Wahrscheinlich spielen sexuelle Motive mit, wenn nicht nur Mädchen, sondern auch Frauen durchaus wie Knaben aussehen wollen, und zu dieser Erscheinung kommt es, daß Knabenliebe und lesbische Liebe heute ebenso allgemein verbreitet sind, als zu anderen Zeiten Polygamie und Polyandrie sich in Sitten und Unsitten bemerkbar machten.«199

Wer diesen Überlegungen heute folgt, geht unweigerlich von einer inflationären Verbreitung des Typus der Neuen Frau im öffentlichen Raum aus. Möglicherweise aber künden diese Worte mehr noch von einer verunsicherten hegemonialen Männlichkeit, als dass sie über die tatsächliche Verbreitung der Garçonne oder homosexueller Männer (auf die das Wort Knabenliebe im damaligen Sprachgebrauch durchaus auch anspielen konnte) im Karlsruher Stadtbild Auskunft geben.


Abb. 8: Mann-männliche Homoerotik im zeitgenössischen modernen Tanz: Tanzgruppe Herion (Stuttgart 1920er Jahre).

Im Feld künstlerischer Repräsentationen werden zu dieser Zeit bestehende Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität auch hier zumindest vereinzelt irritiert und auch mann-männliche Homosexualität bzw. Homoerotik wird beispielsweise im Feld moderner Kunst oder des zeitgenössischen Tanzes auch im deutschen Südwesten etwa im Kontext der Karlsruher Avantgarde oder der Stuttgarter Tanzgruppe Herion zu sehen gegeben (Abbildung 8).200 Erinnert sei hier etwa an künstlerische Arbeiten von Rudolf Schlichter (1890–1955), dem Décadent und »Oskar Wilde von Karlsruhe« (Matthias von der Bank)201 sowie an Arbeiten von Georg Scholz (1890–1945).

So zeigt das Aquarell »Tingel-Tangel« (1919/1920) des Mitbegründers der Karlsruher Künstlergruppe »Rih« Rudolf Schlichter das Setting einer verruchten, Bar-, Varieté- oder Cabaretsituation mit Live-Musik, in der mehrere Figuren einer intimen Bühnenshow beiwohnen (Abbildung 9).202 Schlichters Tuschezeichnung läßt zentral eine androgyne, erotisch gekleidete Figur erkennen, die mit freiem Oberkörper performt. Ihr Körper ist tätowiert. Zwischen dem Ansatz einer weiblichen Brust wirkt er behaart. Im vorderen Bildraum, einem deutlich von diesem Setting der Bühnenshow abgegrenzten Bereich wird eine Figurengruppe ersichtlich, deren Mitglieder auch als homosexuelle Männer deutbar sind. Schlichter


Abb. 9: Queeres Setting in der Provinz? Rudolf Schlichter: Tingel-Tangel (1919/1920). Aquarell auf Papier, 53,0 × 45,5 cm.

zeigt im linken Bildraum eine Figur im Herrenanzug und mit Feodora. Vor dieser Figur, vielleicht sogar auf dem Schoß dieses Mannes, befindet sich an einem kleinen runden Tisch eine deutlich kleinere und jünger erscheinende, rauchende Figur im Uniformrock. Auf dem Tisch befindet sich etwas weggerückt, ein einziger, fast abstoßend erscheinender Sektkelch, in dem ein Stück Frucht schwimmt. Während die soldatische Figur tendenziell in Richtung Betrachter_in blickt, ist das Gesicht des Mannes dahinter auf eine Figurengruppe im rechten vorderen Bildraum ausgerichtet. Die Blickrichtung der Figuren im linken Bildraum richtet sich damit weniger auf die Performerin, als auf die anderen zwei männlichen Figuren im rechten Bildvordergrund. Eine der dort sitzenden Männerfiguren, ein korpulenterer Herr mit Seitenscheitel, blickt mit leicht geöffneten Lippen in einer Art distanziertem Interesse zurück. Der Andere, vielleicht sein Begleiter, ist ihm zugewandt. Die Szenerie mit der androgynen, transvestitisch wirkenden Performer_in, kann auch als queeres Setting gelesen werden, wobei Schlichter die in Orangetönen, in Blau und Schwarz gehaltene Szene in einer ambivalenten, dekadenten Stimmung zwischen Lust und Verfall ins Bild setzt. Schlichter zog 1919 nach Berlin. Gerade der Titel »Tingel-Tangel« verweist weniger auf das Varieté der Großstadt, sondern auf einen kleinstädtischen oder gar ländlichen Bezug. Der Begriff des Tingelns deutet auch auf eine Praktik des Umher- oder des Über-das-Land-Ziehens. In diesem Sinne ist Schlichters Arbeit vielleicht auch im Sinne eines von ihm zu sehen gegebenen queeren Settings in der Provinz zu deuten.203

Inwiefern innerhalb eines z. B. in Stuttgart und Karlsruhe durchaus erkennbaren künstlerisch-avantgardistischen, intellektuellen und sexualreformerisch liberalen Milieus Männer begehrende Männer ebenso wie Frauen begehrende Frauen bzw. lesbisch liebende Frauen Anerkennung fanden, mehr noch gerade dem künstlerischen Milieu vielleicht auch einen spezifischen Reiz mitverliehen, ist bisher nicht untersucht, jedoch für diesen Kontext stark anzunehmen.204


Abb. 10: Berlin als queerer Sehnsuchtsraum? (2) Rudolf Schlichter: Tanzendes Paar/Lesbierinnen (um 1926). Aquarell auf Papier, 54,0 × 39,5 cm.


Abb. 11: Hirschfeld als Sachverständiger vor dem Stuttgarter Amtsgericht (1923).

Der »langjährige Spezialist und Facharzt«,205 der sich unermüdlich für die Emanzipation und die Abschaffung des § 175 RStGB einsetzende Mitbegründer des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, Magnus Hirschfeld, besuchte Anfang der 1920er Jahre die Stadt Stuttgart, um als sachverständiger Mediziner während eines Prozesses aufgrund von § 175 RStGB am Stuttgarter Amtsgericht als Gutachter zu fungieren (Siehe Abbildung 11).206 Zugewandte, sich mit der Emanzipationsbewegung assoziierende oder mit ihr verbunden fühlende medizinische Sachverständige und Ärzte berieten ratsuchende Männer nicht nur, sie konnten vermittels der von ihnen erstellten Gutachten etwa Gerichtsprozesse, bei denen Männer aufgrund von § 175 RStGB angeklagt waren, entscheidend beeinflussen und mögliche Verurteilungen mit der Folge von Geld- oder Gefängnisstrafen abwenden.207

Über derartige, auch über die Publikationsorgane in Berlin erschließbare Netzwerke konnte im südwestdeutschen Raum staatliche Repression durchaus abgefedert werden.208 Hingewiesen sei darauf, dass zusätzliche medizinische Gutachten und zugewandte Anwälte nicht für jeden verfügbar waren. Es bedurfte eines gewissen Knowhows und ausreichender ökonomischer Ressourcen, um diese für sich in Anspruch nehmen zu können. Der Sohn eines württembergischen Oberinspektors aus Stuttgart etwa konnte dies, während die ebenfalls mit ihm der »widernatürlichen Unzucht« überführten Männer aus der einfachen Arbeiterschicht über diese Ressourcen nicht verfügten.209


Abb. 12: Württembergischer Obmann des WhK: Friedrich »Fritz« Doederlein (1922).

Anzunehmen ist, dass Hirschfeld zu solchen Anlässen auch mit der sich in Stuttgart seit Beginn der 20er Jahre bestehenden Gruppe politisch aktiver gleichgeschlechtlich orientierter Männer und Frauen oder einzelnen Vertreter_innnen zusammenkam, die sich auf die politischen Ziele des WhK bezog(en).210 Wie schwierig es trotz bekannter Fürsprecher wie dem Berliner Medizinalrat für die Mitglieder der Gruppe war, öffentlich für die Ziele des WhK einzutreten, davon zeugt eine Anzeige dieser Gruppe in der Zeitschrift »Die Freundschaft«. Kündet die Anzeige einerseits selbstbewusst von der feierlichen Gründung »[…] unter zahlreicher Beteiligung von Personen aus den ersten Kreisen Stuttgarts […]«, so wird hier andererseits auch die Exklusivität der Gruppe hervorgehoben, indem betont wird, dass »,[…] die künstlerischen Darbietungen das Mittelmaß weit überstiegen […]«,211 wohinter sich eine auch heute noch geläufige Anerkennungsstrategie verbirgt.212 Dass gleichgeschlechtliche Lebensweisen in Württemberg zu Beginn der 1920er Jahre hier wie in den meisten städtischen Zentren der jungen Republik in der überwiegenden Mehrheit nicht frei und offen gelebt werden konnten mehr noch, Anlass zu Furcht, Scheu und Scham boten, wird deutlich anhand der Kommunikationsform, die die Gruppe wählt, um neue Mitglieder anzusprechen: Damen und Herren, die, so die Anzeige, für »[…] unsere Bestrebungen und für Zusammenkünfte im Sinne des WhK Interesse haben […]« konnten sich unter einer Postlagerkarte an die Stuttgarter Hauptpost wenden.213 Die 1910 eingeführten Postlagerkarten hatten den Vorteil, dass sie zwar gegen Gebühr, jedoch ohne Nachweis der Identität des Antragstellers oder der Antragstellerin ausgestellt wurden. Über den Weg der »Postlagerkarte« konnten postlagernde Briefsendungen abgeholt werden. Die Karte sollte nicht nur eine anonymisierte Kommunikation mit möglichen Interessierten ermöglichen, sondern mit ihr sollte ein niedrigschwelliger Zugang zu der sich gerade formierenden politisch-emanzipatorischen Gruppe eröffnet werden.214


Abb. 13: Doederlein privat mit seinem Motorrad (o. D.).

Stuttgarter bzw. württembergischer Obmann des WhK215 in Berlin war zu dieser Zeit (1925) der homosexuelle Arzt Dr. med. Fritz, bzw. Friedrich Doederlein (1882–1959) (Abbildung 12 u. 13).216 Der Mitte der 1920er Jahre am Ludwigspital in Stuttgart als Oberarzt tätige Mediziner gab verschiedenen homosexuellen Männern vor allem schriftlich, aber auch telefonisch Auskunft ihre Belange betreffend (Abbildung 14).217 Als begeisterter Leser von Fachliteratur des WhK in Berlin wirkte er in seinem Zuständigkeitsbereich als informierter Multiplikator.218 Wie vorsichtig er dabei auch mit den persönlichen Daten seiner Klientel verfuhr, wird im Rahmen einer Vernehmung auf dem Polizeipräsidium Stuttgart im Februar 1925 deutlich. Doederlein, der bereits 1922 eine Wohnungsdurchsuchung aufgrund von Verdacht des Verstoßes gegen den § 175 RStGB über sich ergehen lassen musste, betonte bezüglich der Korrespondenzen, vermutlich auch um eine weitere Wohnungsdurchsuchung abzuwenden: »Diese Anfragen vernichte ich in den meisten Fällen, nachdem ich entsprechende Antwort gegeben habe.«219 Selbstbewusst konstatierte er gegenüber den Beamten:

»Dass ich selbst homosexuell veranlagt bin, bestreite ich nicht, bestreite dagegen entschieden, mich in dieser Richtung je einmal strafbar gemacht zu haben. Was ich in dieser Richtung im Ausland vornehme, ist dort nicht strafbar.«220

Damit gibt der Obmann des WhK in Württemberg auch Auskunft über eine mögliche Strategie, sich der Strafverfolgung gerade in grenznahen Regionen zu entziehen. Über die hiesige strafrechtliche Verfolgung wohlinformiert, verfügte er als praktizierender Arzt über die nötigen Mittel und entsprechenden Kontakte, um sein Begehren in Ländern ohne strafrechtliche Sanktionierungen mann-männlicher homosexueller Handlungen ausleben zu können und hatte als promovierter Mediziner das nötige Standing oder die Chuzpe, dies vor der Ermittlungsbehörde auch offen zuzugeben.221


Abb. 14: Schriftliche Beratung durch den Obmann des WHK in Stuttgart (1924).

Politische Rückendeckung erhielt die Stuttgarter Ortsgruppe und der mutige Obmann des WhK Friedrich Doederlein auch durch die republikweiten Emanzipationsbemühungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees in Berlin, etwa durch die Gesetzesinitiative zur Abschaffung des § 175 RStGB. Noch heute befindet sich in den Akten des württembergischen Staatsministeriums zum Entwurf eines Allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches eine »Eingabe« des WhK vom 5. August 1924 »gegen das Unrecht des § 175 R.St.G.B.«, mit der das WhK die nationalen Reformbemühungen auf einer regionalen Ebene stärken wollte (Abbildung 15).222 Die Emanzipationsbewegung setzte auf klassische Mittel bürgerlicher Aufklärung, d. h. sie bemühte eine rationale Argumentationsstrategie und berief sich dabei auf wissenschaftliche Befunde der Zeit, um einen politisch-gesellschaftlichen Wandel mitzugestalten. So wurde nicht nur großen Wert gelegt auf die Unterstützung der Kampagne durch wissenschaftliche Persönlichkeiten, sondern in den Magazinen der Emanzipationsbewegung kamen wiederholt auch Mediziner und Juristen zu Wort, um dort um Aufklärung und Anerkennung zu werben.223


Abb. 15: Eingabe des WhK gegen das Unrecht des § 175 (1924).

Im Jahr 1925 legte die konservative Reichsregierung einen amtlichen Entwurf zur Reform des Strafgesetzbuches vor (AmtlE 1925), in dem nicht etwa eine Aufhebung des § 175 RStGB vorgesehen war, sondern eine Verschärfung.224 Der AmtlE 1925 hielt »[…] an der Strafbarkeit auch der einfachen Homosexualität unter dem Hinweis auf die Gewährleistung der Reinheit, der Kraft und der Gesundheit des Volkslebens fest (§ 267 Abs. 1 AmtlE 1925).«225 Trotz dieses Rückschlags konzentrierte sich das WhK auch vermittels neuer Allianzen in einem »Kartell für Reform des Sexualstrafrechts« darauf, seine emanzipativen Bemühungen weiter umzusetzen.226 Neben den fundierten Strafrechtsreformbemühungen – die Reichstagsvorlage von 1927 trennte erstmals einfache und schwere Unzucht zwischen Männern (§§ 296, 297 E 1927),227 die wiederum in einen Gegenentwurf zum E 1927,228 den GE 1927,229 mündeten – zielte das WhK insbesondere in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auf die wissenschaftliche Aufklärung zur Gewinnung von Multiplikator_innen in Politik, Justiz und Wissenschaft.230 Ziel war es, anerkannte Persönlichkeiten als Mitstreiter_innen und Unterzeichner_innen für die WhK-Petitionen zur Abschaffung des § 175 RStGB zu gewinnen.231 Diese Bemühungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees in Berlin wurden von zahlreichen Einzelpersonen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im deutschen Südwesten wie in den anderen Teilen der jungen Republik zunehmend unterstützt. Der Geschichtsforscher Ralf Bogen konstatiert:

»Mehrere Kulturschaffende, Lehrer, Rechtsanwälte und Professoren, u. a. von den Universitäten Heidelberg und Tübingen, unterstützten die Unterschriftensammlung der homosexuellen Verbände gegen den aus dem Jahr 1872 stammenden § 175 und trugen dazu bei, dass ein vom Reichstag eingesetzter Ausschuss für eine Strafrechtsreform sich am 16. Oktober 1929 für eine Legalisierung von einverständlichen homosexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen aussprach.«232

Unter den zahlreichen prominenten Unterstüzer_innen wie August Bebel (1840–1913), Ernst Bloch (1885–1977), Martin Buber (1878–1965), Sigmund Freud (1856–1939), Thomas und Heinrich Mann (1875–1955; 1871–1950), der Bildhauerin Käthe Kollwitz (1867–1945), der Ärztin, Sexualreformerin, Frauenrechtlerin und Gründerin des »Bundes für Mutterschutz« Helene Stöcker (1869–1943) befanden sich namhafte Persönlichkeiten aus dem deutschen Südwesten wie der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers (1883–1969), der bekannte Industrielle Robert Bosch (1861–1942), darunter auch bekannte Juristen wie der Strafrechtswissenschaftler Wolfgang Mittermaier (1867–1956), der Rechtswissenschaftler Richard Thoma (1874–1957), der führende Staatsrechtslehrer und Kommentator der Weimarer Reichsverfassung Gerhard Anschütz (1867–1948) und Gustav Radbruch (1878–1949).233

Die Reformbemühungen zur Liberalisierung des Strafrechts kulminierten im Oktober 1929. Der neue 21. Strafrechtsausschuss des Reichstags stimmte in der 85. Sitzung am 16. Oktober 1929 mit 15 zu 13 Stimmen dafür, den § 296 RStGB (»Unzucht zwischen Männern«) abzulehnen, was einer Streichung der Strafbestimmung gegen die sogenannte einfache Homosexualität gleichkam.234 Die Entscheidung des Rechtsausschusses zum § 296 zeugt davon, welches emanzipatorische Potential unter den Bedingungen des Weimarer Parlamentarismus mobilisiert werden konnte: Die der Abstimmung vorausgegangen Anträge auf Streichung des § 296 vom 8. Oktober 1929 stellten der Ossietzky-Anwalt Dr. Kurt Rosenfeld, der Badische Rechtsanwalt Dr. Ludwig Marum, Wilhelm Dittmann, der später im KZ Theresienstadt ermordete Mediziner Dr. Julius Moses und die Münchenerin Antonie »Toni« Pfülf (alle SPD) sowie der Rechtsanwalt Dr. Eduard L. Alexander, Peter Maslowski und Arthur Ewert (alle KPD).235 Im Zuge der 85. Sitzung des Rechtsausschusses ergriff auch der liberale Rechtsexperte der DVP, der Leiter des Strafrechtsausschusses des Reichstags und langjährige Streiter einer Strafrechtsreform Dr. Wilhelm Kahl (1849–1932)236 das Wort und erklärte, obwohl er die »Homosexualität« als eine »naturwidrige Betätigung des Geschlechtstriebes« verstand:

»[E]r habe sich im Einverständnis mit Männern, die in diesen Fragen eine ernste Stellung einnähmen, mit Richtern, Anwälten, Ärzten und Geistlichen nach gewissenhafter Prüfung dahin schlüssig gemacht, die Strafbestimmung des § 296 nicht mehr aufrechtzuerhalten.«237

Kahl spielte im Abstimmungsverhältnis des Rechtsausschusses zum Homosexuellenparagrafen das Zünglein an der Waage, indem er sich gegen die Auffassung seiner Fraktionskollegen der Deutschen Volkspartei entschied und für die Streichung votierte. Ein erheblicher Teil der emanzipationspolitischen Bemühungen von Seiten des WhK und BfM hatte sich in den Jahren zuvor auf die Schlüsselfigur Wilhelm Kahl konzentriert und dessen Einstellung zum Strafrechtsparagrafen.238 Kahl erläuterte im Strafrechtsausschuss seine Position:

»Die Aufhebung des § 296 bedeute […] nicht Anerkennung einer Gleichberechtigung, sondern die traurige Feststellung der Tatsache, daß das Mittel des Strafrechts versage, und das Begleiterscheinungen dabei einträten, wie Erpressung und Propaganda, die es äußerst bedenklich machten, diese Bestimmung aufrechtzuerhalten.«239

Seine Argumentation zielte dabei in keiner Weise auf eine Anerkennung gleichgeschlechtlicher Handlungen, die er weiter als unsittlich erachtete. Vielmehr war es für ihn das Strafrecht selbst, das gegenüber dem Tatbestand des § 296 versage, und das es zu reformieren gelte.

Während diese Abstimmung einerseits die Empfehlung der Aufhebung der Pönalisierung der sogenannten einfachen Homosexualität (unter erwachsenen Männern über 21 Jahren) bedeutete, wurde in der 86. Sitzung des Rechtsausschusses vom 17. Oktober 1929 entgegen der vorliegenden Streichungsanträge für die Empfehlung der Aufrechterhaltung des neuen Straftatbestandes § 297 (»Schwere Unzucht zwischen Männern«) gestimmt, der Strafvorschriften für sogenannte qualifizierte Homosexualität vorsah und der beabsichtige erstmals auch nicht beischlafähnliche Handlungen unter Strafe zu stellen.240 Das WhK sah sich in seinen Mitteilungen aus diesem Grunde veranlasst, seine Mitglieder über die neue Situation aufzuklären und die verfrühte Euphorie in den Freundschaftskreisen zu bremsen, indem es erläuterte:

»Die Beschlüsse des Strafrechtsausschusses hinsichtlich der Homosexualität bedeuten mithin einen Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück.«241

In dem Bemühen um eine Vereinheitlichung zwischen dem Deutschen und Österreichischen Strafgesetzbuch fanden zudem übergreifende parlamentarische Strafrechtskonferenzen zum E 1927 statt.242 Im Zuge der Abstimmung des »Interparlamentarischen Ausschuß für die Rechtsangleichung des Strafrechts zwischen Deutschland und Österreich« im März 1930 erlitt die Emanzipationsbewegung einen weiteren schwerwiegenden Rückschlag, denn der Ausschuss stimmte mit 23 zu 21 Stimmen dafür, den § 296 wieder in das Reformpaket aufzunehmen und damit beide Paragrafen beizubehalten.243 D. h. neben dem § 296, der dem alten § 175 entsprach, sollten nun auch »jene schweren Verschärfungen des § 297 bestehen bleiben […], die weit über das hinausgehen, was das geltende Recht bestimmt.«244 Das WhK urteilte: »Ein voller Triumpf einstweilen der klerikalen Reaktion.«245

Möglicherweise besuchte der unermüdliche WhK-Aktivist Hirschfeld während seiner Aufenthalte als medizinischer Gutachter am Stuttgarter Amtsgericht in den 1920er Jahren auch den Verlag Julius Püttmann, bzw. dessen Inhaber Paul Neubert (*09.07.1891 in Leipzig-Gohlis). Im Stuttgarter Püttmann-Verlag gab der Sexualwissenschaftler den letzten Jahrgang des von 1899 bis 1923, zuvor bei Max Spohr in Leipzig verlegten »Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen«246 heraus. Hier erschien 1926 auch der erste Band seiner zwischen 1926 und 1930 dort publizierten fünfbändigen Monumentalstudie »Geschlechtskunde«.247


Abb. 16: Paul Neubert vom Püttmann-Verlag. Passfoto (Mitte der 20er Jahre).

Die 1869 von dem Verlagsbuch- und Kunsthändler Julius Püttmann gegründete,248 seit 1912 von dem Inhaber Paul Neubert geführte Verlagsbuchhandlung Julius Püttmann (Abbildung 16),249 die sich Anfang der 1920er Jahre in der Stuttgarter Liststraße 33 und Ende der 20er und zu Beginn der 1930er Jahre in der Eberhardstraße befand,250 brachte wissenschaftliche Literatur heraus und verlegte auch eine Anzahl jüdischer Autoren. Das Portfolio zeichnete sich außerdem durch einen sexualwissenschaftlichen Schwerpunkt aus.251

Hirschfelds »Geschlechtskunde« offerierte der Verlag Julius Püttmann als günstigere leinengebundene oder hochwertige halbledergebundene Variante. Das fünfbändige Werk ließ Paul Neubert in einer Auflage von 8.000 Exemplaren in der Stuttgarter Druckerei »Stähle & Friedel« drucken.252 Anlässlich des AE 1925 publizierte der Püttmann-Verlag »§ 267 des Amtlichen Entwurfs des Allgemeinen deutschen Strafgesetzbuchs. ›Unzucht unter Männern‹. Eine Denkschrift gerichtet an das Reichsjustizministerium.«253

Der Püttmann Verlag setzte in seinem Portfolio neben der explizit sexualwissenschaftlichen Fachliteratur auch auf exquisite, ausgesprochen seriös und wissenschaftlich aufgemachte Publikationen mit zahlreichen erotischen Repräsentationen.254 Zu diesen zählt beispielsweise Gaston Vorbergs »Über das Geschlechtsleben im Altertum« (1925), mit hochwertigen Lichtdrucktafeln und vom selben Autor »Ars erotica veterum: Ein Beitrag zum Geschlechtsleben des Altertums« (1926). Der Verlag bewarb erstere Publikation und nahm dabei recht unverblümt auf die spätestens ab 1926 sich nochmal verstärkende »Schund- und Schmutz-Debatte« Bezug. Das Buch, so die entsprechende Werbeanzeige »[…] zeigt die hervorragende Rolle, die das Sinnliche auf sittlichem und künstlerischem Gebiete spielt. Die ›kraftstrotzende‹, Sinnlichkeit des Altertums widerspricht allerdings den heutigen Anschauungen von ›Zucht und Sitte‹, Aufgabe der Wissenschaft ist es nicht, zu richten oder Sittengesetze aufzustellen.«255

Vorbergs Publikation von 1926, eine hochwertige Loseblattsammlung aus Büttenpapier mit passepartoutumrahmten Farbdrucken in limitierter Auflage verweist in ihrer Machart auf den Sammlerwert, den derartige Publikationen hatten. Die Aufmachung, aber auch der Kontext künstlerischer Repräsentationen der griechisch-römischen Antike, wertet die Szenen, darunter einige Repräsentationen mann-männlicher sexueller Interaktionen im Kontext griechischer Vasenmalerei sichtbar auf. Die Art der Inszenierung oder des Arrangements etwa von einander zugeneigten fotografierten Miniaturen mit erigiertem Phallus homoerotisiert diese.256


Abb. 17: Die Antike als imaginärer sexueller Möglichkeitsraum. Innenbild einer altgriechischen rotfigurigen Schale (o. D.).

Erkennbar wird hier die »Antike« zu einem imaginierten homoerotischen Möglichkeitsraum einer kaufkräftigen und gebildeten Leser_innenschaft über den deutschen Südwesten hinaus. Beispielsweise gibt der in der Drucksammlung abgebildete Boden einer rotfigurigen Schale (Tafel XIX) eine mit einer Art herunterfallender Toga und Kopfbekränzung bekleidete männliche Figur zu sehen, die unter freiem Himmel in einem angedeuteten Landschaftsraum masturbiert (Abbildung 17). Die terrakotta-farbene Figur, deren Blick sich in den Himmel richtet, ist gerahmt von griechischen Buchstaben, die um sie herum den Satz »Ich begrüße (dich)« formen. Diese Begrüßung wirkt im Zusammenspiel mit der Repräsentation fast amüsant. Wer begrüßt hier wen? Auch der Betrachtende wird unmittelbar adressiert. Die Repräsentation, die den Boden eines runden Gefäßes bildet, erscheint durch die dunkle Lasierung des Inneren des Gefäßes dunkel gerahmt. Sie ist in Vorbergs Publikation so in Szene gesetzt, dass sie wie ein Guckfenster in eine andere, »freiere« Welt erscheint, in der sexuelle Sehnsüchte zur Entfaltung kommen und in der der homosexuelle Betrachtende mit seinem Begehren freudig begrüßt wird.257 Im Einleitungsteil der Loseblattsammlung heißt es entsprechend:

»Die bildende Kunst des Altertums steht ganz im Banne der Sinnlichkeit. Diese Sinnlichkeit ist unbefangen, frisch und ungezwungen, frei von beengenden sittlichen Fesseln, frei von der Vorstellung der ›Sünde‹. […] Was der Mucker von heute als ›widerwertig obszön‹ ansieht, war es damals nicht. Selbst über widernatürliche Darstellungen erhob sich kein Geschrei. Unbehindert malte Brygos seine kecken Vasenbilder.«258

Auch Paul Englischs »Geschichte der erotischen Literatur« (1927) bewarb der Verlag unter Bezugnahme auf die Schund- und Schmutz-Debatte. In der Härte der Formulierung wird hier bereits eine zunehmend schärfer geführte Debatte erkennbar:

»In unseren Tagen, in welchen durch das kürzlich erlassene Schund- und Schmutzgesetz die Inquisitionstribunale in Deutschland eingeführt werden, ist Dr. Paul Englischs Geschichte der erotischen Literatur als Aufklärungswerk zeitgemäß, eine wahrhaft rühmliche Tat zum Schutze gegen die staatlich unternommene Ächtung der Literatur und die versuchte geistige Volksverseuchung.«259

Während der Verlag Julius Püttmann im Jahr 1928 bereits Hirschfelds zweiten Band der Geschlechtskunde herausbrachte, wurde zur gleichen Zeit der aus einer liberalen jüdischen Familie stammende Jurist Fritz Bauer (1903–1968), der für die bundesrepublikanische und internationale juristische »Aufarbeitung« des Holocaust, wie – was weniger bekannt ist – der Überarbeitung des bundesrepublikanischen Sexualstrafrechts260 später so wichtig werdende gebürtige Stuttgarter, am Stuttgarter Amtsgericht Gerichtsassessor.261 Zeitgleich eröffnete eine junge emanzipierte Ärztin, Else Kienle (1900–1970), die bisher in der Abteilung für Geschlechtskrankheiten am Stuttgarter Katharinenhospital in der Polizeistation der (geschlossenen) Abteilung für Geschlechtskrankheiten arbeitete, in der Marienstraße eine eigene Praxis.262 Die sich in den 1920er und beginnenden 1930er Jahren für die Selbstbestimmung der Frau und gegen den § 218 RStGB maßgeblich engagierende Frauenrechtlerin und Sexualreformerin, die in ihrer Praxis auch ambulante Schwangerschaftsabbrüche263 durchführte und ihr Weggefährte, der sich lebensreformerisch ebenso wie politisch kommunistisch engagierende Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf (1888–1953), der später auch mit Hirschfeld im Kontakt stand, betrieben Ende der 1920er Jahre in der Neckarstraße eine der wenigen Sexualberatungsstellen des »Reichsverbandes für Geburtenregelung und Sexualhygiene« im süddeutschen Raum.264

Bekannt ist, dass in der von Kienle und Wolf betriebenen Stuttgarter Beratungsstelle nicht nur Beratungen in Bezug auf geplante Schwangerschaftsabbrüche und sexuell übertragbare Krankheiten durchgeführt wurden, sondern beispielsweise auch heute möglicherweise als transident bezeichnete Personen Beratung suchten.265

Auch in der badischen Planstadt Mannheim, deren städtebauliche Ordnung in »Quadraten« durch den holländischen Festungsarchitekten Bartel Janson begründet wurde und bis in das 17. Jahrhundert zurückreicht, existierte seit 1924 eine »Ehe und Sexualberatungsstelle« des »Bundes für Mutterschutz und Sexualreform«.266 Die im alten Krankenhaus im Quadrat R5 jeden Freitagnachmittag für eine Stunde geöffnete Beratungsstelle musste bereits kurze Zeit nach ihrer Eröffnung anerkennen, dass der Kreis der Ratsuchenden deutlich größer wurde, und damit ein vielfältigerer Beratungsbedarf entstand, weshalb das Beratungsangebot der Sexualberatungsstelle auch im Hinblick auf mann-männliches homosexuelles wie lesbisches Begehren erweitert wurde. Zu den üblichen Beratungsgebieten trat vor allem die Beratung bei – im Sprachduktus der Zeit – als »geschlechtliche Perversionen« bezeichneten Beratungsbedarf hinzu«.267 Hierunter verstand die Sexualberatungsstelle auch Homosexualität:

»Im heranreifenden Alter zeigen sich oft die ersten Anzeichen geschlechtlicher Perversionen, über die ebenfalls den Eltern, zum Teil auch den Jugendlichen selbst, Aufklärung erteilt werden muß. Im erwachsenen Alter sind die Anforderungen des Sexuallebens sehr mannigfaltig […] Durch das Sexualleben kommt es bei der heutigen Lage des Zivil- und Strafrechts nicht selten zu rechtlichen Verwicklungen. Von besonderer Bedeutung sind hier die Fragen der Ehescheidung. Ferner sind die geschlechtlichen Perversionen, insbesondere die der Homosexualität des Mannes und des Weibs, häufig Ursache zu [sic] Konflikten, die nur durch eine sachverständige Beratung gelöst werden können. […] Der Aufgabenkreis der Sexualberatungsstelle […] ist demnach ein recht umfangreicher.«268

Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert

Подняться наверх