Читать книгу Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert - Julia Noah Munier - Страница 9
1.2 Die Analyse von Lebenswelten und Verfolgungsschicksalen in der Perspektive einer historisch-praxeologischen Forschung
ОглавлениеIm Fokus der vorliegenden Studie steht die Erforschung von Lebenswelten und Verfolgungsschicksalen homosexueller Männer im deutschen Südwesten. Welcher methodische Zugriff ist am besten geeignet, um dem Untersuchungsgegenstand möglichst reichhaltige heuristische Erträge abzugewinnen? Die vorliegende Studie ist einem praxeologischen Zugriff verpflichtet, der bislang in der Erforschung der Geschichte der Homosexualitäten noch nicht systematisch angewandt wurde.65
Wodurch zeichnet sich dieser Ansatz aus und worin liegt sein Vorzug? Der praxeologische Ansatz geht davon aus, dass gemeinsame Praktiken es sind, die einzelne Akteure zu Gemeinschaften verbinden. Wenn man mithin das lebensweltliche Profil einer spezifischen Gruppe verstehen möchte, bietet sich der Zugang über deren gemeinschaftsstiftenden Praktiken vor allem dann an, wenn es an Ego-Dokumenten mangelt, in denen sich die Akteure reflexiv über ihr eigenes Tun auslassen.
»Historische Praxeologie ist eine historiographische Forschungsperspektive. Sie ist eine Herangehens- und Betrachtungsweise in der Geschichtswissenschaft, die einen bestimmten Blickwinkel auf die Vergangenheit nahelegt. Sie rekonstruiert die Vergangenheit in der Analyseeinheit ›Praktik‹. Damit verbindet sich zugleich eine gewisse historiographische Grundhaltung. Historische Praxeologie versteht die Vergangenheit und deren ›Sozialwelt[en]‹ als eine Verkettung von Praktiken.«66
Sven Reichardt, der diesen Ansatz theoretisch fundiert und in seiner großen Studie über linksalternatives Leben auch eingelöst hat, betont: Der Ansatz zielt darauf, »[…] sowohl Mikro- und Makroperspektiven zu verbinden als auch die sozialhistorische Analyse mit der kulturhistorischen Untersuchung von Denkstilen, Verhaltensmustern und Diskursen zu verknüpfen […]. Soziale Beziehungen, Diskurse, die symbolische Organisation von Wirklichkeit und situativ bedingte Handlungsformen werden nicht als voneinander getrennte, sondern als miteinander kompatible Untersuchungsebenen verstanden, die in Institutionen und soziale Netzwerke eingebettet sind. Der methodologische Relationalismus dient dazu, eine vermittelnde Position zwischen den klassischen Oppositionspaaren von Subjektivität und Objektivität, von Handeln und Struktur, von Individuum und Gesellschaft einzunehmen.«67
Der praxistheoretische Ansatz denkt in »einem ›wechselseitig bedingenden dialektischen Verhältnis‹, in dessen Mitte Praktiken als ausführendes Organ und Sinninstanz eingesetzt werden.«68
Der Soziologe Thomas Alkemeyer hat diesen Ansatz weiterentwickelt. Sein Verdienst ist es u. a., die mikrosoziologische Ebene der handelnden Subjekte mit der makrosoziologischen Systemebene zu verbinden und für die Geschichtswissenschaft anschlussfähig zu machen.69 Alkemeyer konstatiert:
»Immer sind die konkreten historischen Subjekte […] durch spezifische […] Lebens- und Erfahrungsweisen bedingt und gekennzeichnet, die systematisch mit ihrer Position im sozialen Raum zusammenhängen. Das heißt, Lebenswelt […], Sozialintegration und Systemintegration, sind in der historischgesellschaftlichen Praxis nie voneinander zu trennen […].«70
Dies bedeutet, dass der Ansatz, der die handelnden Subjekte, die historischen Akteur_innen und ihre Praktiken, ins Zentrum der Untersuchung rückt, stets die Brücke zu den sozialen und politischen Konfigurationen schlägt, in denen sich Subjekte praxeologisch entfalten und eine intersubjektive Akteursidentität konstituieren. Nimmt man mithin aus dieser Perspektive die lebensweltliche Formierung und Selbstformung homosexueller Akteure in den Blick, dann müssen zugleich die soziopolitischen Kontexte einbezogen werden, innerhalb derer sich solche Praxen entwickeln.
In einer praxeologischen Perspektive gilt es den Blick zu richten auf Lebenswelten, die im Sinne eines doing culture in und durch performative Praktiken hervorgebracht werden. Lebenswelten sind dabei nicht als sozio-kultureller »Hintergrund« von sich vor diesem »Hintergrund« ereignenden sozialen Praktiken zu begreifen, sondern (historische) Lebenswelten werden in einer praxeologischen Perspektive begriffen als in und durch (historische) soziale Praktiken hervorgebracht.
Zu diesen Praktiken zählen zunächst die performativen Praktiken historischer Akteure und ihre Interaktionen. Zu analysieren sind dementsprechend Praktiken, in denen das soziale Miteinander der historischen Akteure erkennbar und beobachtbar wird, etwa in ihren schriftlichen privaten Korrespondenzen, über die Liebesbriefe, Aufzeichnungen und Publikationen Auskunft geben. Hierzu gehören ebenso Alltagszeugnisse und Egodokumente, vermittels derer Rückschlüsse auf Lebenswelten möglich sind, etwa Rückschlüsse auf öffentliche und private Orte des Zusammenkommens und deren Nutzung.71
In einer praxeologischen Perspektive stellt sich damit nicht nur die Frage nach den spezifischen Topografien homosexueller Lebenswelten, also nach den Räumen und Orten, an bzw. in denen homosexuelle Männer sich trafen,72 sondern ebenso danach, wie homosexuelle Männer diese Räume gestaltet haben:
»Wie haben sich die Männer zurechtgefunden in einer ständigen Restrukturierung urbaner Räume? Es waren umkämpfte Räume, nicht nur bedrohte, sondern auch eroberte, temporär erkundete und genutzte Räume, die homosexuelle Männer an öffentlichen Orten, in [damals noch nicht so genannten, Anmerk. d. Verf.] Cruising Areas und in Lokalen für sich in Anspruch nahmen.«73
Diese Nutzung städtischer Räume verweist auf individuelle Handlungsoptionen aber auch auf kollektive Handlungsräume, die es u. a. vermittels der von den Überwachungs- und Verfolgungsinstitutionen überlieferten Quellen zu analysieren gilt.74 Andreas Pretzel stellt auch für diese Studie und die Analyse von Lebenswelten in Baden und Württemberg virulente Fragen:
»Welche Orte konnten bspw. noch aufgesucht werden, um Geselligkeit unter Gleichen zu finden, Freunde und Liebhaber? Wo und von wem konnte man das in Erfahrung bringen? Welche Vorsichtsmaßnahmen wurden getroffen, um unentdeckt zu bleiben? Welche Unachtsamkeiten waren verhängnisvoll?75«
Neben den sozialen Praktiken der historischen Akteure gilt es ebenso die, die Lebenswelten konstituierenden »Praktiken der Bedeutungsproduktion« (Stuart Hall) in den Blick zu nehmen.76 Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz betont, dass Diskurse als ein Netzwerk sprachlicher sowie visueller oder auch architektonischer semiotischer Aussagesysteme »[…] selbst nichts anderes [sind] als spezifische soziale Praktiken der Produktion von geregelten Repräsentationen; sie sind Praktiken der Repräsentation, […] die regeln, was wie darstellbar ist.«77 In den Blick geraten damit auch Praktiken des Zu-sehen-Gebens und Zu-lesen-Gebens.78 Visuelle und textuelle Repräsentationen gilt es in der Tradition der Cultural Studies als Modi oder Praktiken der Wirklichkeitsproduktion zu begreifen.79 Im Sinne der Cultural Studies gilt es die Praktiken der Bedeutungsproduktion als Praktiken zu begreifen, »[…] die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.«80 Diskursive Praktiken oder »Praktiken der Bedeutungsproduktion« sind damit als performative Praktiken zu verstehen.81 In diesem Sinne bilden Repräsentationen die Realität nicht einfach ab, sondern sie sind, wie die sozialen Praktiken der historischen Akteure, beteiligt an der performativen Herstellung von Lebenswelten. Diskursive Praktiken werden als Äußerungsmodalitäten, Handlungskontexte und Funktionsweisen von Diskursen verstanden, die sich in die Körper einschreiben.82 Diskursive Praktiken sind damit grundlegender Bestandteil der Lebenswelten homosexueller Männer und ihrer Subjektivierung.
Für eine Erforschung der Lebenswelten homosexueller Männer im deutschen Südwesten bedeutet dies, Publikationen mit homosexuellem Inhalt, also die in der Weimarer Republik zumeist in Berlin herausgegebenen Publikationen der ersten deutschen homosexuellen Emanzipationsbewegung sowie die nach 1945 neu entstehenden Publikationsorgane auszuwerten. Zudem einbezogen wird eine fokussierte Analyse von Tageszeitungen, in der ersichtlich wird, wie bestimmte sexualpolitische Themen in der Region des heutigen Baden-Württembergs zur Sprache gebracht wurden und damit Lebenswelten homosexueller Männer prägten.83
Eine langfristige Aufgabe gegenwärtiger Forschung besteht im Weiteren darin, »[…] die Forschungsergebnisse zur Homosexuellenverfolgung in Deutschland – vor, während und nach der NS-Zeit (vgl. Pretzel 2004) – in die Darstellungen zur Geschichte der Sexualpolitik, Sexualitäten und Geschlechterbeziehungen einzuordnen.«84
Vermittels einer praxeologischen dispositiven Analyse von Lebenswelten und Verfolgungsschicksalen homosexueller Männer im deutschen Südwesten ist genau dies auch zu leisten.
Die Frage danach, was in welchem gesellschaftspolitisch-historischen Kontext wie zu sehen gegeben werden kann, lenkt den Blick auch auf das vielleicht »Unsägliche«, auf – um mit Alfred Douglas und Oskar Wilde zu sprechen – die Liebe, die ihren Namen nicht zu sagen wagt,85 und dementsprechend auf die subkulturellen Praktiken und Codes, die grundlegend waren zur Konstituierung der Lebenswelten homosexueller Männer im deutschen Südwesten.86 Erinnert sei an die Verklausulierung und Kodifizierung homosexuellen Begehrens in dem in der deutschen Romantik wurzelnden Konzept des »Freundes« bzw. der »Freundschaft«, wie sie etwa der ganz im Sprachduktus der republikweiten Homosexuellenbewegung der 1920er Jahre sich konstituierende »Freundschaftsbund Stuttgart« pflegte.87
Codes spielen nicht nur in den auf Anerkennung zielenden Organisationen homosexueller Männer eine Rolle, sondern auch in den informellen Kontexten des »Sich-zu-Erkennen-Gebens«, in den Räumen anonymen sexuellen Zusammenkommens, meist in öffentlichen oder halböffentlichen Kontexten. Wie gaben sich die Akteure in den sozialen Praktiken des Zusammenkommens und der halböffentlichen sexuellen Interaktion als involvierte Mitspieler zu erkennen?
Teil der Lebenswelten ist überdies auch das, was in diesen konkreten Lebenswelten vielleicht nicht lebbar war – also auch die imaginierten Sehnsuchtsräume homosexueller Männer in den hier zu untersuchenden politisch-historischen Phasen.88 Neben materiellen Artefakten gilt es daher kognitive Artefakte in die Analyse miteinzubeziehen.
Die Lebenswelten homosexueller Männer entstehen in der Verschränkung von performativen Praktiken historischer Akteure, der Verräumlichung der spezifischen Lebenswelten an spezifischen Orten oder innerhalb bestimmter städtischer Zonen sowie von medialen Praktiken der Bedeutungsproduktion. Lebenswelten werden also in »doings and sayings« (Theodore Schatzki) performativ hervorgebracht, d. h. in wiederholten und wiederholbaren kulturellen Praktiken und werden anhand qualitativ unterschiedlicher historischer Quellen in einer praxistheoretischen Perspektive beobachtbar.
Um die Lebenswelten homosexueller Männer im deutschen Südwesten zu erforschen gilt es verstreute, heterogene Quellensplitter zusammentragen, zu systematisieren und cross-medial zu analysieren.
Eine praxeologische Perspektive, wie sie in dieser Studie zur Anwendung kommt, vermag es, einem in der Forschung zur NS-Verfolgung homosexueller Männer lange tradierten Dilemma zu entgehen: In der überwiegenden Mehrheit der in den Regionalstudien veröffentlichten biografischen Schilderungen werden bisher individuelle Verfolgungsschicksale in viktimisierender Perspektive dokumentiert.89 Mit Ulrike Jureit und Christian Schneider (2010) sei angemerkt, dass sich in Bezug auf dieses Gedenken an die verfolgten homosexuellen Männer von Seiten der Community bzw. Communities eine »opferzentrierte Erinnerungskultur« diagnostizieren lässt. Andreas Pretzel begründet die Jahrzehnte währende Einschreibung homosexueller Männer in einen Opferstatus von Seiten der Forscher_innen folgendermaßen:
»Weil den Verfolgten hierzulande nahezu ein halbes Jahrhundert der Status als NS-Opfer verweigert und abgesprochen wurde – von Staatswegen, durch andere Opferverbände und durch die etablierte akademische Historikerzunft –, wurden sie jahrzehntelang in einen Opferdiskurs eingeschrieben, um ihnen historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«90
Abb. 3: Cover des Sondermagazins Schwulst, 2010. Schwulst e. V.; Weissenburg e. V. 2010.
Auch heute zeigt sich diese für die Schwulenbewegung so wichtige weil identitätsbildende Figur eines »opferzentrierten Erinnerns« z. B. im Blick auf die Publikation des Stuttgarter »Szenemagazins« Schwulst vom April 2010 »Ausgrenzung aus der Volksgemeinschaft – Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit« (Schwulst-Sonderheft), einem Gemeinschaftsprojekt von Schwulst e. V. und Weissenburg e. V. (Abbildung 3).91 Den Betrachter_innen des Magazins wird mit dem Cover insbesondere eine Figurengruppe als Identifikationsangebot zu sehen gegeben: Ein homosexuelles Freundespaar, das sich vor der Silhouette eines städtischen Hintergrundes – der sich bei genauerem Hinsehen als Stilisierung des ehemaligen Gestapo-Gebäudes in Stuttgart entpuppt – eingewickelt in einen Stacheldraht, aneinanderschmiegt. In der Bildmitte bewirbt ein rosa Winkel das Heft und die Ausstellung. Rechts dahinter wird ein lesbisches Paar zu sehen gegeben – vielleicht handelt es sich aber auch um Transvestiten, transgender Personen oder transsexuelle Frauen – deren inniger Tanz vor dem Gestapo-Gebäude durch den über das Gesäß verlaufenden Stacheldraht seltsam erotisiert erscheint. Im Feld der Visualisierung homosexueller NS-Opfer werden klassische Topoi wie der rosa Winkel und der Stacheldraht – Tobias Ebbrecht (2011) bezeichnet diese als Superzeichen92 – mit neuen Opfer-Figuren kombiniert zu einer Melange aus »Kitsch und Tod« (Saul Friedländer), aus Opferidentifizierung, -erotisierung und Erinnerungskitsch. Letzteren analysierte die Germanistin und Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger. Vom Kitsch der Erinnerung schreibt sie:
»Erinnerung ist keine gemütliche, badewasserlaue Annehmlichkeit, sondern ist eigentlich immer ein Graus, eine Zumutung und eine einzige Kränkung der Eigenständigkeit. Und zwar deshalb, weil wir ja keine Kontrolle über das, was schon passiert ist, haben, weder als Einzelne noch als Mitglieder einer Gruppe. […] Darum haben wir die Nostalgie erfunden, d. h. den Kitsch der Erinnerung, die Verklärung, mit der wir so gern Blut, Schweiß und Kotze der wirklichen Gedächtnisprodukte verpacken.«93
Jureit und Schneider zeigen in Bezug auf den bundesrepublikanischen Kontext, dass die »Figur des gefühlten Opfers« sich für das deutsche Gedenken an die NS-Verbrechen als strukturbildend erweist. Der »[…] Wunsch der Identifizierung mit den Opfern scheint mittlerweile zur erinnerungspolitischen Norm geworden zu sein.«94 Ein solches gerade auch von der zweiten Generation, den Nachgeborenen der Täterinnen und Täter gewähltes Gedenken verstellt den Blick auf »[…] die komplexen Geschehnisse und wirft die Frage auf, was eigentlich von wem und vor allem wie erinnert wird und was wir möglicherweise gleichzeitig auch vergessen.«95 Eine opferidentifizierte Erinnerungskultur, die über den Identifizierungswunsch die Täter und ihre Taten, die Akteurinnen und Akteure der Verfolgungsinstitutionen anonymisiert und pauschal verurteilt, hat ein starkes Verleugnungspotential; eine verklärende, verkitschte Erinnerungskultur ebenso. Diesem gilt es eine wissenschaftliche Bearbeitung der Thematik entgegenzuhalten, die es vermag, diese mühsam gewonnenen Selbstverständlichkeiten und Zugehörigkeitskonstrukte zumindest teilweise zu irritieren.
Eine »opferzentrierte Erinnerungskultur« und eine Einschreibung in einen Opferdiskurs von Seiten der Forscher_innen bedürfen künftig »[…] einer perspektivischen Ergänzung und Neuausrichtung, um den individuellen Handlungsräumen der Verfolgten mehr Aufmerksamkeit und Beachtung zukommen zu lassen sowie die Formen der Solidarität und Unterstützung, gemeinschaftliche Netzwerke und Freundeskreise, Formen des Widerstands und der Selbstbehauptung der Verfolgten zu erkunden und sichtbar zu machen.«96
In einer praxistheoretischen Perspektive auf Lebenswelten, die ihren Blick auf historische Akteure und ihre Praktiken richtet, kann eine von Pretzel problematisierte klassische Opferperspektive umgangen werden. In dieser Perspektive erscheinen die verfolgten homosexuellen Männer »[…] weniger als amorphe Opfergruppe in den Händen von Verfolgern […]«, sondern sie werden als handlungsfähige Subjekte wahrnehmbar. So kann ihren Möglichkeiten von Selbstbehauptung und Eigensinn unter den Verfolgungsumständen bis hin zum Widerstand – dazu zähle ich auch die Emigration – wissenschaftlich nachgespürt werden.97 Der Publikation des Schwulst-Sonderheftes ist zugutezuhalten, dass sich der Tanz der verschiedenen Figuren vor dem Stuttgarter-Gestapo-Gebäude auch in diesem Sinne verstehen ließe.
»Die Wahrnehmung der Verfolgten als Akteure eröffnet neue Forschungsperspektiven auf die Verfolgten und ihre Lebenswirklichkeiten, ihre Fähigkeiten, z. B. in bedrohlichen Situationen Handlungsstrategien zu entwickeln, um der Repression, Bedrohung und Verfolgung aus dem Weg zu gehen bzw. ihnen zu trotzen.«98
Andreas Pretzel betont in seiner Publikation »Verfolgung und Selbstbehauptung – homosexuelle Männer während der Zeit des Nationalsozialismus« (2014), dass es in künftigen Forschungen gilt, »[…] die herkömmlichen Blickwinkel auf Verfolgung, Denunziation und Fremdbestimmung zu erweitern und auf bislang unbeleuchtete Aspekte auszudehnen.«99 In diesem Sinne stehen die verfolgten homosexuellen Männer in dieser Forschung nicht mehr als bloße Opfer im Fokus der Forschung, sondern als Akteure.100 In der Methode historischer Praxeologie ist diese Perspektive gewissermaßen intrinsisch enthalten.
Mit dieser eröffnen sich Fragestellungen nach Handlungsmöglichkeiten der historischen Akteure, die auf das engste mit denen der Lebenswelten verschränkt sind. Es stellen sich Fragen nach Selbstschutz- und Reaktionsmustern in heiklen Situationen, etwa um den Verfolgern zu entkommen oder drohende Sanktionen zu mildern. Weiter wäre zu fragen nach der möglichen Entwicklung von Strategien zur Selbstverteidigung strafbedrohter Männer. Aber auch Fragen nach ihrem Umfeld rücken in den Fokus, etwa die Frage danach, wo, wie und bei wem die Männer Hilfe, Rückhalt oder Unterstützung fanden und wem sie vertrauten. Zugleich rücken Fragen nach den Auswirkungen der spezifischen Verfolgungserfahrung auf das eigene Selbst und das gemeinsame Miteinander in den Blick der Forschung:101
»Wie haben das Wissen um die Bedrohung und die Verfolgungserfahrungen das eigene Selbst und das Miteinander geprägt und verändert? Wie haben die Männer ihre Lebensentwürfe, ihre Freundschaftsnetzwerke und Liebschaften behaupten können? Wie haben sie ihr Verhalten den sich verändernden Verfolgungssituationen im Verlauf der Radikalisierung angepasst? Wer stand ihnen noch zur Seite und bemühte sich um Hilfe und Beistand, wenn sie in Haft kamen? Wer kümmerte sich währenddessen um die Wohnung, das Vermögen oder die Habseligkeiten und wer um den Nachlass?«102