Читать книгу Das Herz der Kurtisane - Junia Swan - Страница 4

1. Kapitel

Оглавление

17 Jahre später

Summer liebte es, wenn Harrison Cembalo spielte. Dann stellte sie sich vor, auf dem französischen Königshof zu einem Ball geladen zu sein. Nicht, dass sie schon jemals einen besucht hätte. Aber die prunkvollen Feste der Franzosen waren ständiges Gesprächsthema des englischen Adels. Was man sich vom höfischen Leben in dem südlichen Land erzählte, trieb so manchem jungen Mädchen die Schamröte in die Wangen. Summer atmete ein und drehte sich einmal im Kreis, dann sank sie vor einem kunstvoll getrimmten Buchsbaum in Schwanenform in einen tiefen Knicks. Die nächste Saison gehörte ihr! Endlich würde sie in die Gesellschaft eingeführt werden! Sie konnte es kaum erwarten, in den Londoner Trubel einzutauchen. Als ihre Eltern sie das letzte Mal in die Hauptstadt mitgenommen hatten, war Summer ein kleines Mädchen gewesen. Deshalb waren ihre Erinnerungen diesbezüglich äußerst lückenhaft. Trotzdem hatte sich in ihr das Gefühl, dass an jenem Ort alles möglich wäre, festgesetzt. Oh ja, sie würde die Saison genießen! Insbesondere, da sie längst wusste, dass sie eines Tages Harrison heiraten würde. Sie hatten zwar nie darüber gesprochen, doch ihre Vermählung war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Das Cembalo verstummte und Summer drehte sich zu den weit offen stehenden, breiten Flügeltüren des Musikzimmers. Schnell eilte sie darauf zu und klopfte an. Harrison, der soeben den Deckel des Instruments geschlossen hatte, wandte sich in ihre Richtung.

„Summer“, stellte er mit einem erfreuten Lächeln fest. Nicht zum ersten Mal überlegte die junge Frau, wie er sie trotz seiner Blindheit erkennen konnte.

„Wieso hörst du auf?“, fragte sie statt einer Antwort.

„Ich bin deprimiert“, erklärte er und verzog den Mund.

„Aber weshalb nur?“

Leise trat sie auf ihn zu.

„Darüber vermag ich nicht zu sprechen.“

„Warum nicht? Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst.“

Er atmete mehrmals tief durch.

„Wo ist deine Anstandsdame?“, wollte er wissen und Summer runzelte fragend die Stirn.

„Ach, sie trifft sich mit der Zofe deiner Mutter. Wie immer, wenn ich bei dir bin.“

Diese Antwort schien ihn zu ärgern, denn sein Gesicht verdüsterte sich.

„Siehst du?“, beschwerte er sich. „Als würde von mir keinerlei Gefahr ausgehen.“

„Was meinst du damit?“ Summer musterte ihn verständnislos, doch er winkte ab.

„Machen wir einen Spaziergang. Hoffentlich bringt mich das auf andere Gedanken.“

Er bot ihr den Arm und sie hängte sich bei ihm ein. Vorsichtig führte sie ihn in den Garten und auf einen Weg, der sie vom Haus fortbrachte.

„Willst du mir jetzt berichten, was deine Stimmung trübt?“, ließ Summer nicht locker und bog auf einen Waldweg ab. „Achtung, hier liegt ein Ast auf dem Boden. Du musst den Fuß höher heben.“

Er tat wie geheißen und sie überwanden das Hindernis.

„Es ist ein Geheimnis. Wenn du es wissen willst, musst du uns an einen Ort bringen, an dem uns keiner finden oder belauschen kann.“

„In Ordnung.“

Summer lächelte und führte ihn vom Weg ab. Im Laufe der folgenden Minuten konzentrierte sie sich darauf, Harry zu leiten und zu verhindern, dass er gegen einen Baumstamm lief oder über eine Wurzel stolperte. Nach einiger Zeit erreichten sie eine kleine, sonnendurchflutete Lichtung.

„Ich denke, hier wird uns niemand finden“, murmelte Summer.

„Bist du sicher?“

„Ja.“

„Gut. Können wir uns setzen?“

„Ja, dort drüben.“

Summer dirigierte ihn unter einen Baum, dessen Äste sich weit über ihnen wie ein Dach ausbreiteten.

„Du kannst dich an den Stamm lehnen“, erklärte sie fürsorglich und half ihm dabei, sich im Schatten des Baumes niederzulassen.

Dann ging sie gegenüber von ihm auf die Knie. Gespannt musterte sie ihren Freund und tiefe Liebe für ihn durchflutete sie. Seit Kindheitstagen trafen sie einander regelmäßig. Im Laufe der Jahre war Summer so etwas wie seine Beschützerin geworden. Sie genoss es, für sein Wohlbefinden zu sorgen – auch jetzt würde sie alles geben, um seine miserable Laune zu verbessern oder sein Leid zu lindern.

„Es verhält sich folgendermaßen, Summer“, begann er und Nervosität färbte seine Stimme dunkler.

„Ja?“ Aufgeregt beugte sich das junge Mädchen vor. „Los, berichte!“

„Es ist mir reichlich unangenehm“, gestand Harrison und eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen.

„Dafür gibt es keinen Grund! Bis jetzt haben wir alle Geheimnisse miteinander geteilt, oder etwa nicht?“

Er nickte, doch etwas in seinen Gesichtszügen machte sie stutzig. Als belöge er sie. Summer schüttelte diesen irritierenden Gedanken ab. Harry würde sie niemals hintergehen. Nicht er. Schließlich liebten sie einander und Liebende waren stets ehrlich und ...

„Die anderen machen sich über mich lustig.“

„Die anderen?“

„Deine Brüder Julian und Andrew. Und natürlich James, dieser Taugenichts.“

Summer stieß die Luft aus.

„Pah, was interessiert dich das?“

„Sie haben recht!“

„Das vermag ich kaum zu glauben! Welchen Grund könnten sie denn haben?“

„Meine Unwissenheit.“

„Deine Unwissenheit?“, wiederholte Summer verständnislos. „Du bist weitaus mehr gebildet als diese Angeber.“

„Das ist in vielen Bereichen wahr. Aber in einer überaus wichtigen Sache bin ich ein unbeschriebenes Blatt.“

„Was mag das wohl sein?“, überlegte die junge Unschuld laut.

Sie konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen, worauf er hinauswollte.

„Mädchen“, murmelte er und wandte den Kopf ab.

Summer richtete sich ratlos auf.

„Was soll das heißen? Was meinst du damit?“

„Ich habe keinen blassen Schimmer, wie eine Frau aussieht“, erklärte er säuerlich. „Während meine Freunde nur einen Blick auf ein weibliches Wesen werfen können und wissen, wie sie aussehen, bleibt mir nur ihre Stimme, um zu erkennen, dass sie sich von mir unterscheiden. Verdammt, ich bin bald achtzehn und habe nicht die leiseste Ahnung von der Beschaffenheit des anderen Geschlechts!“

Summer zog verwundert die Augenbrauen zusammen.

„Aber du weißt doch, wie ich aussehe!“

„Ich kenne dein Gesicht, Summer, mehr nicht.“

Sein Frust war deutlich zu spüren und sie zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie ihm helfen könnte. Schweigen dehnte sich zwischen ihnen aus.

„Siehst du?“, stellte er nach einer Weile wütend fest. „Daran vermagst sogar du nichts zu ändern.“

Summer senkte den Blick zu seinen schlanken Pianistenhänden. Was, wenn sie seine Hand führte? Wenn sie ihm gestattete ... Aber das wäre eine Sünde! Von klein auf hatte man ihr eingebläut, dass es nur ihrem Ehemann zustünde, sie zu berühren. Allerdings war das hier etwas anderes. Hier ging es genau genommen gar nicht um Unsittlichkeiten, sondern darum, ihrem über alles geliebten Freund das Leben zu erleichtern. Abgesehen davon wäre sie ohnehin bald Harrisons Frau.

„Ich könnte dir helfen“, schlug Summer leise vor und ihre Wangen färbten sich rosig.

Sofort hellte sich seine Miene auf.

„Das würdest du für mich tun?“, fragte er hoffnungsvoll und ihr Herz weitete sich.

„Ich würde alles für dich machen, Harry! Das weißt du doch.“

Er setzte sich aufrecht hin und streckte eine Hand auffordernd nach ihr aus.

„Dann lass uns nicht länger warten“, drängte er, sofort Feuer und Flamme.

Mit einem mulmigen Gefühl rutschte das Mädchen näher und direkt zwischen seine Beine, die er aufgestellt hatte.

„Führe mich“, bat er und hielt ihr beide Hände hin.

Nervös legte sie seine Handflächen auf ihre Schultern und wölbte ihre Hände darüber. Hoffentlich machte sie keinen Fehler! Ihre Gedanken rasten und sie kämpfte darum, die aufsteigende Sorge zu unterdrücken und ihr schreiendes Herz zu beschwichtigen. Es ist alles in Ordnung. Harry braucht meine Hilfe. Ich tue nichts Unrechtes!

„Hier ist mein Hals“, flüsterte sie und seine Daumen strichen über ihre Kehle.

„Meine Arme.“

Sie schob seine Hände entlang ihrer Arme, bis hin zu den Fingerspitzen.

„Mein Rücken.“ Jetzt musste sie sich etwas verrenken und er lächelte.

„Warte, das kann ich allein“, schmunzelte er und glitt mit seinen Fingern tiefer.

Bevor er geheime Regionen erreichte, umklammerte sie ihn an den Unterarmen und zog diese wieder vor ihren Körper.

„Mein Bauch.“

„Nun ja“, brummte er. „Wie mir scheint, unterscheidet sich eine Frau kaum von einem Mann. Ist es so?“

Summer schloss die Augen und atmete tief durch. Dann nahm sie seine Hände und legte sie auf ihre Brüste. Er stieß die Luft aus.

„Oh, mein Gott!“, stöhnte er und bewegte seine Finger, um sie genauer zu untersuchen. „Bist du weich! Das ist unglaublich!“

Summers Herz pochte wie verrückt, während er sie eingehender abtastete. Im nächsten Moment schob er ihr Dekolleté tiefer und die junge Frau hielt erschrocken die Luft an, als er ihre jetzt nackten Brustspitzen berührte.

„Nein, das darfst du nicht“, wimmerte sie verwirrt.

„Keine Angst, ich werde dir nicht wehtun. Aber welchen Sinn hat deine Bereitschaft, wenn ich erst wieder nicht erfahre, wie ein Frauenkörper beschaffen ist?“

Er hatte recht. Sie hatte versprochen, ihm zu helfen, deswegen durfte sie keinen Rückzieher machen. Abgesehen davon behandelte er sie überaus sanft und es war nicht unangenehm, was er mit ihr anstellte. Sie vertraute ihm vorbehaltlos.

Nach einer Weile zog er die Hände zurück und es schien, als wartete er auf etwas. Schnell rückte Summer ihr Dekolleté zurecht.

„War das schon alles?“, fragte er da und das Mädchen schluckte.

„Den Rest kann ich dir nicht zeigen.“

„Bitte, Kleines! Jeder lacht über mich, weil ich keine Ahnung von der weiblichen Anatomie habe. Es ist nicht zu ertragen! Sie haben meine Selbstachtung in den Staub getreten.“

Summer ballte die Hände und rang mit sich. Wieder gewann ihre Liebe für den jungen Mann, der ihr so nahe war wie kein anderer Mensch auf dieser Welt. Deswegen drehte sie sich um und lehnte ihren Rücken an seinen Brustkorb. Sie winkelte die Beine an und schob die Röcke ihres Kleides bis über die Knie. Dann legte sie seine Hände auf ihre Oberschenkel. Sein Herz pochte ebenfalls, sie konnte es deutlich spüren. Schon glitten seine Hände höher, als kannten sie den Weg, um das Geheimnis der Weiblichkeit zu lüften, genau. Summer keuchte auf, als er sie an ihrer intimsten Stelle berührte. Unbeirrt tastete er sich langsam weiter, während sich die Atmung der jungen Frau beschleunigte. Sie konnte nicht verstehen, weshalb seine Berührung sie fast um den Verstand brachte. Es war nicht das erste Mal, dass sie einander nahe waren – nie hatte ihr ganzer Körper dabei gekribbelt wie jetzt.

„Und hier? Wohin geht es hier?“, fragte er rau.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie matt.

„Dann werde ich es herausfinden“, erklärte er entschlossen und schob sich tiefer.

Summer keuchte auf und versuchte, ihr Gefühlschaos in den Griff zu bekommen, doch es war unmöglich. Ihr ganzer Körper hatte sich auf ihn ausgerichtet. Trotzdem verkrampfte sich ihr Herz und ein Schluchzen stieg in ihre Kehle. Das, was Harry hier tat, war verboten! Er durfte sie nicht auf diese Weise berühren, nicht ihr Verlangen und ihre Neugierde schüren! Sie vertraute ihm und er riss dieses Geschenk, ohne sich der Kostbarkeit und Einzigartigkeit ihrer Liebe bewusst zu sein, auf. Sie unterdrückte einen Aufschrei, als ein undefinierbares Gefühl sie wie eine mächtige Welle überrollte und ihren Leib zucken ließ. Ein merkwürdiger Laut entrang sich seiner Kehle und Summer meinte, sich niemals zuvor so verletzlich und hilflos gefühlt zu haben wie in dieser Sekunde. Aber Harry bemerkte davon nichts und liebkoste sie weiter. Vollkommen durcheinander wagte sie nicht, sich ihm zu entziehen. Wollte seine Freundschaft, seine Liebe nicht verlieren. Summer entglitt jegliches Empfinden für Raum und Zeit und sie kämpfte eine gefühlte Ewigkeit lang gegen die Tränen an, die in ihren Augen brannten. Sie verstand nicht weshalb, aber sie wünschte sich, an einem anderen Ort zu sein und fühlte sich gleichzeitig wie eine Verräterin. Als Harrys Freundin war sie es ihm schuldig, ihn zu unterstützen, wenn er Hilfe benötigte. Trotzdem ahnte sie instinktiv, dass ihre Freundschaft sich durch diesen Vorfall verändert hatte. Sie war nicht mehr rein und unbekümmert wie in all den Jahren zuvor. Seine Berührungen hatten ihr die Leichtigkeit genommen und etwas unwiederbringlich zerstört. Als Harry sich endlich zurückzog, war Summer erleichtert, dass es ihm unmöglich war, die Tränen auf ihren Wangen zu sehen.

Auf dem Rückweg schwiegen sie und schlichen sich unbemerkt ins Musikzimmer zurück. Da beugte er sich zu ihr und flüsterte: „Morgen wieder, Summer?“

Die junge Frau schluckte, hin- und hergerissen zwischen Neugierde und Scham.

„Du zögerst? Hat es dir nicht gefallen?“

Da sie nach wie vor schwieg, seufzte er bekümmert.

„Es tut mir leid, dass ich so tollpatschig war. Ich hätte wissen müssen, dass ich unfähig bin, eine Frau glücklich zu machen.“

„Nein“, entgegnete Summer tonlos. „Das stimmt nicht. Du bist atemberaubend! Ich ... ich komme dich morgen wieder besuchen.“

Dieses Mal drückte sie ihm nicht wie sonst einen flüchtigen, heimlichen Kuss auf die Wange, sondern eilte auf der Suche nach ihrer Anstandsdame aus dem Raum.

An jenem Abend konnte sie lange nicht einschlafen. Erinnerungen wirbelten durch ihre Gedanken und ihr Herz schmerzte, obwohl sie sich einzureden versuchte, dass es dafür keinen Grund gäbe. Harry liebte sie und würde im kommenden Herbst um ihre Hand anhalten. Somit hatte er sich nur genommen, was ihm ohnehin zustand. Es war vollkommen in Ordnung, wenn sie morgen wieder zu ihm ginge. Und übermorgen. Und überübermorgen. So lange, bis sie seine Frau wäre.

Das Herz der Kurtisane

Подняться наверх