Читать книгу Das Herz der Kurtisane - Junia Swan - Страница 8
5. Kapitel
ОглавлениеMit einem Schrei erwachte sie und schlug gleichzeitig hart auf dem Boden auf. MacDougall starrte düster wie ein Racheengel auf sie herab, seine Hände umfassten die Stuhllehne. Offensichtlich hatte er sie soeben von der Sitzfläche gekippt.
„Au“, stöhnte sie und rieb sich die malträtierten Knie und schmerzenden Handgelenke.
„Das ist mein Stuhl“, knurrte er, dann deutete er zum Nebenraum. „Mein Bett, mein Zimmer. Du kannst auf dem Strohsack schlafen, der neben der Küche in der Ecke liegt.“
Er zeigte darauf und Summer folgte seiner Geste. Die Erinnerung an ihr weiches Bett in London stieg in ihr auf und verpuffte mit einem leisen „Plopp“.
„Worauf wartest du noch? An die Arbeit mit dir!“
Schleppend vergingen die folgenden Wochen, in denen Summer lernte, ein Feld anzulegen, Gemüse anzubauen, eine Ziege zu melken. Meistens war sie allein, denn MacDougall ritt frühmorgens davon und kehrte erst bei Einbruch der Dämmerung zurück. Oft brachte er Lebensmittel oder Haushaltsutensilien mit. Deswegen nahm die einsame Frau an, dass er es sich im Dorf schmecken ließ, denn ihre Kochkünste waren nach wie vor mangelhaft und er rührte die von ihr zubereiteten Speisen kaum an. Ihr blieb ungerechterweise keine andere Wahl, als ihre eigenen Kreationen zu essen. Mit jedem Tag, der verging, wuchs ihr Hass auf ihren Entführer. Er rief sie nie beim Namen, sondern nannte sie Hure oder Dirne. Tief in ihrem Inneren wusste Summer, dass er recht hatte. Sie war eine Hure, sie war Dreck und hatte kein Recht darauf, respektvoll behandelt zu werden. Sie verstand sogar, dass MacDougall befürchtete, schmutzig von ihrer Berührung zu werden, die er tunlichst zu vermeiden suchte. Sollte es doch einmal passieren, dass sie ihn unabsichtlich streifte, wusch er sich danach ausführlich. Oft, wenn sie im Garten arbeitete, vermochte sie den Anblick ihrer Hände kaum zu ertragen. Zu detailliert erinnerte sie sich daran, wen diese gestreichelt hatten. Wenngleich sie aber die Erde abwaschen konnte, klebte ihre Vergangenheit wie Pech an ihr oder war wie eine zweite Haut, die jeder Seife trotzte. So allein und ohne Ablenkung ihren Erinnerungen überlassen, gestalteten sich die endlosen Stunden immer mehr zu einer inneren Qual. Die bittere Wahrheit darüber, wie tief sie gefallen war, ragte wie eine Festungsmauer vor ihr empor, gegen die sie täglich mehrmals prallte, weil sie wie aus dem Nichts plötzlich vor ihr in die Höhe schoss.
Summer jätete Unkraut und hockte neben dem Gemüsebeet, dankbar, dass die Erde vom letzten Regenguss feucht war und ihr die Arbeit leicht von der Hand ging. Ein deftiger Fluch riss sie aus ihrer Versunkenheit und sie richtete sich auf. MacDougall stürmte von der Koppel her auf die Hütte zu. Summer kam schnell auf die Beine, wagte es aber nicht, sich ihm zu nähern. Er hielt seine linke Hand vom Körper weg und sie bemerkte Blut, das auf den Boden tropfte.
„Verdammt, ich habe mir einen Nagel in die Hand gejagt“, schimpfte er. „Komm her! Du musst mir helfen!“
Ungeduldig winkte er sie näher und Summer gehorchte. Drei Fußbreit vor ihm blieb sie stehen. Er hielt ihr die verletzte Hand hin, in der ein rostiger Nagel steckte.
„Worauf wartest du? Zieh mir das Ding endlich aus dem Fleisch!“
Summer schüttelte entschieden den Kopf und suchte trotzig seinen Blick.
„Das werde ich nicht tun“, sagte sie leise und ihre Stimme klang eingerostet.
„Was?“, verblüfft musterte er sie sekundenlang, dann fluchte er wieder.
Da sie keine Anstalten machte, ihm zu helfen, verdüsterte sich seine Miene.
„Dann werde ich deinen Kopf dazu verwenden, den Nagel aus meiner Hand zu klopfen“, drohte er unheilvoll.
Entsetzt riss Summer die Augen auf und griff nach seiner Hand. Was hatte sie auch gedacht? Die dumme Demonstration ihres Mutes hätte sie sich sparen können. Ohne Mitgefühl und nicht sonderlich vorsichtig, zog sie den Nagel mit den Fingernägeln heraus. Er biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Wangenmuskeln zuckten und schloss die Augen. Zufrieden beobachtete sie, wie er deutlich an Farbe verlor. Es musste höllisch wehtun. Er atmete tief aus und schlug die Augen wieder auf.
„Muss ich dir jeden Schritt befehlen? Los, versorge die Wunde!“
Summer wandte sich ab und ging weiter in die Wiese hinein, dann bückte sie sich.
„Verdammt, Hure, was machst du? Ich habe nicht gesagt, dass du mir einen Blumenstrauß pflücken sollst, du Schwachsinnige!“
Da hob sie ein schmales Blatt, das entfernt an eine Feder erinnerte und zeigte es ihm.
„Das ist eine Acker-Witwenblume. Sie wird helfen.“
Ohne ihn weiter zu beachten, setzte sie ihre Suche fort. Da wandte er sich um und stürzte ins Haus. Mit der rechten Hand griff MacDougall nach einer Schnapsflasche, deren Inhalt er über die Wunde goss.
„Verflucht“, stöhnte er, da es fürchterlich brannte.
Zur inneren Anwendung trank er die halbe Flasche leer und wandte sich Summer zu, als diese leise eintrat. In der Küche schnitt sie mit dem Messer die Blätter kleiner. Er setzte sich an den Tisch und legte seine Hand vorsichtig auf die Platte. Mit einem sauberen Tuch trat sie neben ihn. Zögernd griff sie nach seiner Hand und platzierte diese auf dem weichen Stoff. Mit grimmig verzogenem Gesicht beobachtete er, wie sie die Blätter auf der Wunde verteilte und es danach festband. Als sie fertig war, erhob er sich ohne Dank und warf die Tür hinter sich zu. Summer sah ihm reglos nach, doch plötzlich teilte ein erfreutes Lächeln ihren Mund. Das geschah ihm recht! Sollten ihn die Schmerzen bis zur Besinnungslosigkeit peinigen!
Am nächsten Tag verlangte er, dass sie die Wunde säuberte und mit frischer Acker-Witwenblume versorgte. Summer sammelte die heilungsunterstützenden Blätter ohne Eile, dabei wurde ihre Aufmerksamkeit auf den Waldrand gelenkt. Brennnesseln schwankten dort im leichten Wind. Langsam richtete sie sich auf. Eine böse Idee schlug in ihr Wurzeln. Schnell warf sie einen Blick über die Schulter, nur um sicherzugehen, dass MacDougall sie nicht beobachtete. Dann huschte sie zu jener Stelle und versuchte, die Nesseln so anzufassen, dass sie sich selbst nicht daran verbrannte. Leider bekam sie ihren Teil ab, als der Wind sie tückisch in ihre Richtung wehte. Aber das war ihr gleichgültig. Dieser kleine Schmerz war es ihr wert. Der Kontakt der Pflanze mit einer frischen Wunde musste schreckliche Pein verursachen. Von tiefer Zufriedenheit erfüllt, legte Summer die Acker-Witwenblume so, dass sie die Nessel tragen konnte, ohne letztere zu berühren. Um zu verhindern, dass MacDougall das verräterische Gewächs zu Gesicht bekam, verbarg sie es in den Falten ihres Rockes, während sie auf den Küchentisch zusteuerte. Schnell schnitt sie einige der Blätter ab und mischte sie mit der Heilpflanze. Mit dem Messer strich sie alles auf ein Tuch und trat damit zu ihm. Ohne sie weiter zu beachten, legte der Schotte seine Hand auf die Platte. Summer bemühte sich darum, das Tuch so zu halten, dass sie die Blätter direkt auf seine Handfläche schütteln konnte. Es gelang problemlos. In der nächsten Sekunde zuckte er zurück. Er riss den Kopf in die Höhe, um sie anzusehen, und sie erkannte mit Befriedigung, dass Schmerz seinen Blick trübte.
„Verdammt, Hure, was hast du getan?“, ächzte er und schüttelte die Blätter von der Hand.
Er beugte sich über die am Boden liegenden Streifen und erkannte die verräterischen Zacken der Brennnesseln. Fragend sah er zu ihr auf, während er zu begreifen versuchte, wie das hatte passieren können. An ihrem zufriedenen Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie ihn mit Absicht verletzt hatte. Tödliche Wut verdrängte jeglichen Schmerz und er richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
„Das wirst du bereuen, Bella!“
Sie befürchtete, dass es kein gutes Zeichen war, dass er ihren Namen aussprach. Trotzdem zuckte sie gleichgültig mit den Achseln.
„Das war es allemal wert“, lachte sie ihm ins Gesicht.
Aufgrund ihrer Kaltschnäuzigkeit fehlten ihm sekundenlang die Worte.
„Hinaus mit dir“, befahl er wütend, als er wieder Herr seiner Sinne war.
Triumphierend drehte sie sich um und ließ ihn allein zurück.
Nachdem sie am Abend das Essen abgeräumt und die Teller gespült hatte, wusch sie sich und eilte dann vor die Hütte, um das Wasser auszuleeren. Da hörte sie die Tür zufallen und den Riegel, der vorgeschoben wurde. Entsetzt ließ sie die Schüssel fallen und rannte zur Tür, versuchte, diese zu öffnen. Doch sie bewegte sich nicht.
„Mylord“, schrie sie außer sich, „lasst mich herein!“
„Nein. Du wirst für die nächsten Wochen im Freien schlafen.“
„Nein! Nein! Das könnt Ihr mir nicht zumuten! Es gibt hier überall Wölfe! Bitte, lasst mich ein!“
Keine Reaktion. Panik entflammte in ihr und sie hämmerte mit den Fäusten gegen das schwere Holz.
„Es tut mir leid! Ich hätte das heute Nachmittag nicht tun sollen!“
Wieder nichts. Minutenlang warf sie sich gegen die Tür, bis sie einsah, dass dies nicht half. Ihre Gedanken rasten und sie überlegte fieberhaft, wo sie sich verstecken könnte. Da fiel ihr der Stall ein. Mit fliegenden Röcken rannte zu den Pferden, doch auch hier ließ sich die Tür nicht öffnen. In der Dunkelheit war es unmöglich zu erkennen, was MacDougall angestellt hatte, um ihr Eindringen zu verhindern. Tastend kehrte sie zur Hüttentür zurück. Erneut hämmerte sie verzweifelt dagegen.
„Bitte, lasst mich ein! Bitte!“
„Ruhe jetzt!“
„Bitte!“
Schluchzend sank sie in die Knie und lauschte. Plötzlich hörte sie das Heulen eines Wolfes. Sofort stimmte das restliche Rudel in das schaurige Lied ein. Summer befürchtete, vor Angst zu sterben. Wieder schlug sie gegen die Tür.
„Bitte, lasst mich ein! Bitte! Ich habe doch solche Angst!“
Mittlerweile zitterte sie am ganzen Leib und Tränenbäche rannen über ihre Wangen.
„Ihr habt mehr Erbarmen mit Eurem Pferd, als mit einem Menschen“, klagte sie ihn bitter an. „Ich hasse Euch, MacDougall! Ich hasse Euch!“
Um das Heulen der Wölfe nicht länger hören zu müssen, presste sie die Hände auf ihre Ohren und rollte sich, so gut es ging, vor der Tür zusammen. Erst als sich die Frühnebel lichteten und das Jaulen der wilden Tiere verstummte, fiel sie in einen erschöpften Schlummer.
MacDougall stürzte über Summer, als er am nächsten Morgen die Tür öffnete. Er wäre zu Boden gegangen, wenn er sich nicht geistesgegenwärtig mit den Händen an den Türrahmen geklammert hätte. Dabei belastete er die Verletzung und Schmerz zuckte wie ein glühendes Eisen durch seine Glieder.
„Au, verdammt“, fluchte er und beobachtete grimmig, wie Summer müde blinzelte und zu ihm aufsah.
Als sie ihn erkannte, sprang sie auf die Beine und senkte schnell den Kopf.
„Du solltest dir einen anderen Platz für deine Nachtruhe suchen“, stellte er schlechtgelaunt fest. „Und jetzt bereite das Frühstück!“
Resigniert schleppte sie sich in die Küche.
An jedem Abend flehte sie darum, eingelassen zu werden, doch der Schotte zeigte kein Erbarmen, weshalb sie es irgendwann aufgab. Mit der Zeit verlor Summer die Hoffnung, bald von hier fortzukommen und sie fragte sich, wie lange MacDougall sie noch dabehalten würde. Was ergab das alles für einen Sinn? Sie hassten einander bis aufs Blut und keiner genoss den Aufenthalt in dem engen Tal. Womöglich sollte sie ihm Geld anbieten, damit er sie gehen ließe. Doch aus Angst vor weiteren Strafen unterließ sie es, ihm diesen Handel vorzuschlagen.
Einige Tage nachdem MacDougall sie aus der Hütte verbannt hatte, hatte Summer nur wenige Meter hinter der Waldgrenze einen Baum entdeckt, dessen ausladende Äste bis knapp über den Boden reichten. Das ermöglichte ihr, an ihm emporzuklettern. In ungefähr drei Metern Höhe hatte sie mithilfe herumliegender Zweige eine schmale Plattform errichtet und ihren Strohsack sowie ihre Decke heimlich in ihr Versteck geschmuggelt. Das dichte Blattwerk hielt den meisten Regen ab und ihren Schlafplatz relativ trocken. Es war zwar bei Weitem nicht der Luxus, den sie gewohnt war, aber um einiges besser als die nackte Erde. Abgesehen davon war sie hier in Sicherheit. Kein Wolf konnte klettern. Das hoffte sie zumindest.
„Bella! Schnell, Bella!“
Belindas Rufe wecken sie und sie springt mit einem Satz aus dem Bett und eilt zu ihrer hochschwangeren Freundin, die seit einigen Wochen bei Summer wohnt. Jetzt ist es so weit und ihr Kind kommt. Als Bella ihre Freundin erreicht, erschrickt sie. Unter ihrem Leib breitet sich beängstigend schnell Blut aus.
„Belinda“, schreit sie entsetzt. „Halte durch! Ich hole einen Arzt! Bin gleich zurück!“
Auf dem Absatz macht sie kehrt und brüllt nach ihren Hausangestellten, die wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheinen.
„Schnell! Holt einen Arzt! Einen Arzt!“
Sie wirbelt herum. Ihr Herz rast. Sie ahnt, was passieren wird.
„Belinda! Hab keine Angst! Hier, trink!“
Sie reicht der Gebärenden ein Glas Wasser und sorgt sich aufgrund der Blässe ihres schmerzverzerrten Gesichts.
„Bella, bitte hilf mir! Bella! Bella! Ich ertrage es nicht länger!“
Summers Herz raste und sie fuhr in die Höhe. Die Traumgespenster hatten sich in ihrem Kopf festgesetzt und sie meinte, wieder in ihrem Haus in London zu sein. Angestrengt lauschte sie, doch konnte sie nur ihren gehetzten Atem hören. Sie musste unbedingt nachsehen, wie es Belinda erging! Schnell schob sie die Decke beiseite und richtete sich auf. Sie beugte sich vor, um nach der Öllampe zu greifen, die auf dem Nachttischchen stand. Dabei machte sie einen Schritt in die Dunkelheit hinein. Erschrocken schrie sie auf, als sie ins Leere trat. Wie konnte es sein, dass ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hatte? Sie ruderte mit den Händen, doch zu spät. Sie hatte bereits das Gleichgewicht verloren und stürzte in die Tiefe, knallte mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Einmal, zweimal. Ihr entglitt das Bewusstsein, noch bevor sie auf einem Stein aufschlug.
MacDougall wunderte sich darüber, dass Bella nicht vor der Tür darauf wartete, eingelassen zu werden. Normalerweise fand sie sich im Morgengrauen vor der Hütte ein. Mittlerweile hatte sich die Sonne fast über den Grat eines der Bergrücken gekämpft und die ersten Nebelfelder vertrieben. Ratlos rieb er sich übers Kinn. Da er Hunger hatte, beschloss er, sich auf die Suche nach ihr zu begeben und sie zur Eile anzutreiben. Er musste nicht weit gehen, bis er den Stoff ihres Kleides durchs Dickicht schimmern sah. Was hatte sie dort auf dem Boden verloren? Hoffentlich sammelte sie Pilze für sein Frühstück! Das wäre zumindest einmal eine willkommene Abwechslung zu dem Brei, den sie ihm jeden Morgen vor die Nase stellte.
„Hure, steh auf“, befahl er und trat neben sie.
Da bemerkte er eine Kopfwunde, aus der Blut sickerte.
„Verflucht! Was hast du jetzt wieder angestellt?“
Widerwillig bückte er sich, schob seine Arme unter ihre Kniekehlen und den Rücken und hob sie auf. Dabei tastete er mit den Augen die Umgebung ab und entdeckte die Plattform. Sofort war ihm klar, dass sie abgestürzt war. Verdammt, sollte seine Vergeltung so schnell zu Ende sein?
Vor sich hin fluchend brachte er sie zur Hütte und wollte sie auf den Strohsack legen. Aber der war verschwunden.
„Zum Kuckuck“, schimpfte er und steuerte notgedrungen sein Bett an.
Dort legte er sie ab, holte ein Tuch und tupfte über ihre Wunde. Zum Glück war sie nicht sonderlich tief. Er vermutete, dass sie eine Gehirnerschütterung erlitten hatte und ihr Bewusstsein bald wiedererlangen würde.
Summer hörte das Rauschen des Windes und das Glucksen eines nahen Baches. Ein Sommertag mit Harry. Sie müsste nur die Augen öffnen und er wäre bei ihr. Vermutlich lehnte er an einem Baumstamm und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
„Harry?“, murmelte sie und blinzelte.
Die Helligkeit stach bis in ihren Kopf und sie stöhnte. Ihr war übel und schwindlig. Das war ungewöhnlich für die Stunden mit Harrison. Normalerweise war sie an seiner Seite wie elektrisiert. Da hatte Unwohlsein keinen Platz.
„Harry?“, rief sie etwas lauter. „Wo bist du?“
Nachdem sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, bemerkte sie, dass sie nicht auf einer Lichtung am Boden lag, sondern in einem Bett. Zu der Übelkeit gesellten sich schreckliche Kopfschmerzen und sie stöhnte.
„Mutter?“, weinte sie. „Seid Ihr da? Was ist passiert?“
Das kleine Zimmer, in welchem sie lag, war ihr unbekannt. Es war spartanisch und nur mit dem Nötigsten eingerichtet. Demzufolge war sie nicht zu Hause. Ihr Herz begann zu rasen.
„Hilfe! Wo bin ich nur? Ist da jemand?“
Da näherten sich ihr Schritte und ein eindrucksvoller Mann betrat den Raum. Er war so groß, dass es wirkte, als würde er das Zimmer beinahe vollständig ausfüllen. Erschrocken öffnete sie den Mund und starrte ihn an. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Wie war sie nur hierher gekommen?
„Na endlich“, stellte er lapidar fest. „Ich dachte schon, ich müsste dir ein Grab hinter dem Haus schaufeln.“
Ein Grab? Hinter dem Haus? Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an und überlegte, ob er scherzte. Doch sein Gesichtsausdruck war hart und unergründlich.
„Wer sind Sie?“, wollte sie ängstlich wissen und seine Augen verengten sich forschend.
„Sag bloß, du hast dein Gedächtnis verloren“, brummte er statt einer Antwort.
„Was ist passiert?“, wiederholte sie ihre Frage und klammerte sich schutzsuchend an die Bettdecke.
„Vermutlich bist du gestürzt.“
Erschrocken starrte sie ihn an.
„Von einem Pferd? Oh Gott, ich hätte auf Mutter hören sollen!“
MacDougall fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Er überlegte, was es mit diesem Theater auf sich hatte. Sie konnte doch nicht annehmen, damit durchzukommen. Hoffte sie, ihn mit der Darbietung der kleinen Unschuld dazu zu bewegen, sie freizulassen? Nachdenklich runzelte er die Stirn. Es wäre ein genialer Schachzug, ihm eine Amnesie vorzutäuschen. Eine derartige Geistesgegenwart hätte er ihr niemals zugetraut. Trotzdem war er ihr haushoch überlegen. Denn er hatte dieses kleine Miststück durchschaut.
„Und Sie haben mich gerettet?“, flüsterte sie errötend.
Mal sehen, wie lange sie durchhält. Vorerst würde er bei diesem Possenspiel mitmachen.
„Ja, heldenhaft wie ein königlicher Ritter“, stimmte er ironisch zu.
Unter gesenkten Wimpern musterte sie ihn neugierig.
„Sie sehen wahrhaftig wie einer aus. Ich danke Ihnen von Herzen. Aber jetzt bringen Sie mich bitte nach Hause.“
Ja, sicher! Ich habe dich durchschaut, du kleines Luder.
„Es ist unschicklich, dass ich mich in den Räumen eines Junggesellen aufhalte. Oder sind Sie verheiratet?“
Für derlei Scham ist es längst zu spät.
„Gott bewahre mich vor den Tücken einer Ehe“, entgegnete er herablassend. „Dir bleibt nichts anderes, als diese unschicklichen Umstände zu ertragen. Denn ich kann dich leider nicht nach Hause zu deinen Eltern bringen. Vor einer Reise musst du nämlich erst genesen.“
Er betonte jedes Wort, als wäre sie geistig zurückgeblieben und beobachtete, wie sie erblasste. Entsetzt musterte sie ihn. Dieses Theaterspiel reizte und nervte ihn gleichermaßen.
„Kann ich Ihnen vertrauen?“, fragte sie schüchtern und ihre klaren Augen betrachteten ihn hoffnungsvoll. Er meinte, eine Unschuld und Verletzlichkeit in ihnen zu erkennen, die ihm bisher nie aufgefallen war. Aber er würde sich von ihr nicht bezirzen lassen. Er war immun gegen den Charme einer Dirne.
„Selbstverständlich“, gelobte er und sie seufzte erleichtert.
Dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Sekunden später war sie eingeschlafen.