Читать книгу Das Herz der Kurtisane - Junia Swan - Страница 6

3. Kapitel

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Zwei Jahre später

Madame Aury hatte recht behalten. Nach nicht einmal einem Jahr besaß Bella ein ebenso prunkvolles Haus wie jene Frau, die ihr das Leben gerettet hatte. Mittlerweile hatte sie den Ruf, Londons begehrteste Kurtisane zu sein und sie konnte sich ihre Liebhaber nach Lust und Laune auswählen. Nicht lange nachdem sie Summer aus ihrer Erinnerung verbannt und sich der erste Erfolg eingestellt hatte, begann die junge Frau ihr Leben sogar zu genießen. Es erfüllte sie mit Zufriedenheit, wenn Männer sie um ihre Gunst anflehten. Sie genoss es, diese bis zum Verlust ihrer Kontrolle zu treiben und zu beobachten, wie ihre Freier Wachs in ihren Händen wurden. Gefühle spielten dabei nie eine Rolle. Aber genau das war der Sinn der Sache und sie verzichtete gerne darauf.

Stanley Fitzroy langweilte Bella. Ein Glück, dass sie geschult darin war, ihre Abneigung zu verbergen und ihn stattdessen strahlend anzulächeln. Seit etwas über einer Stunde hielten sie sich nun in dem prunkvollen Stadthaus eines der begehrtesten Junggesellen Londons auf. Bald würde sie sich Fitzroys Begleitung entziehen und ihrer eigenen Wege gehen können. Es war an der Zeit, sich nach neuen Abenteuern umzusehen!

Fitzroy hatte seinen Arm um ihre Taille gelegt und führte sie zu einem der Spieltische, die in der Mitte des Raumes aufgestellt worden waren. Es war üblich, illegalen Glücksspielen hinter zugezogenen Vorhängen zu frönen.

„Setz dich hierhin“, wies Fitzroy seine Geliebte an und drückte sie auf einen Stuhl, wobei er absichtlich ihre Brust streifte.

Ihre Reaktion erfolgte, wie man es von einer Marionette erwartete, an deren Fäden man zog: Sie seufzte und schloss, als wäre sie erregt, die Augen. Wenn ihr Begleiter ahnte, dass sie das letzte Mal in Luxerleys Armen Lust empfunden hatte? Egal.

Heute oder morgen würde sie dem für sie mittlerweile langweiligen Mann den Laufpass geben. Kein einziges Mal mehr wollte sie einer seiner Anekdoten über die Jagd lauschen! Trotzdem öffnete sie mit flatternden Wimpern die Augen und lächelte ihn verführerisch an. In seinem Blick entzündete sich der altbekannte Funke des Verlangens.

Kaum hatte sie Platz genommen, ließ sie ihre Augen über die anderen Spieler schweifen und zuckte unmerklich zusammen, als sie auf ein Augenpaar traf, welches sie unverhohlen musterte. Sie wusste nicht genau, was sie beunruhigte, aber etwas Geheimnisvolles schimmerte in den unergründlichen Tiefen dieses Blickes. Nur nebenbei registrierte sie, dass der Mann groß war und sich breite Schultern unter dem maßgeschneiderten Anzug abzeichneten. Wenn das schummrige Licht keine falschen Tatsachen vorgaukelte, hatte er dunkelblonde Haare mit einem Kupferstich. Gänsehaut überzog unter seiner eingehenden Musterung ihre Arme und Bella wunderte sich über seine Wirkung auf sie. Außerdem irritierte sie, dass er seinen Blick nicht abwandte, sondern sie anstarrte, als sei sie eine Statue inmitten eines Parkes. Es wäre doch gelacht, wenn es ihr nicht gelänge, ihn zu einer Reaktion zu veranlassen! Sie würde nicht klein beigeben und erst zufrieden sein, wenn sie sein Verlangen nach ihr geschürt hatte. Mit der Zungenspitze leckte sie sich herausfordernd über die Unterlippe. Er bewegte sich nicht, als wäre er zu einer Büste aus Stein erstarrt. Was war mit ihm? Weshalb beeindruckte sie ihn nicht? Angesichts dieser Herausforderung begann ihr Blut zu rauschen und das erste Mal konnte sie nachvollziehen, was Fitzroy meinte, wenn er von Jagdfieber sprach. Bella wollte diesen gelassenen Mann um jeden Preis erlegen. Dafür bedurfte es einer geschickten Taktik. Sie löste sich aus dem Blickwechsel und drehte sich zu Fitzroy.

„Entschuldigt mich kurz“, bat sie, erhob sich und verließ den Spieltisch.

Obwohl sie sich nicht nach dem Fremden umsah, beschäftigte er ihre Gedanken. Äußerlich unbeeindruckt schlenderte sie durch den Raum. Sie hatte diesen Mann von Adel (ein Earl, ein Duke?) nie zuvor gesehen, was an sich kein Wunder darstellte. Es war schlichtweg unmöglich, jeden Bürger des Königreichs zu kennen. Trotzdem vermutete sie, dass sie einen Gentleman seines Auftretens weder vergessen noch übersehen hätte. Der Unbekannte stach aus der Masse heraus, obwohl er nicht vordergründig gutaussehend war. Bezwingend traf es besser. Gespannt wie ein Bogen schlenderte sie in der Hoffnung, er würde ihr folgen, in den Nebenraum und bediente sich am üppigen Buffet.

„Ich überlege, ob es für Sie spricht, dass Ihr Begleiter den Spieltisch Ihrer Gesellschaft vorzieht“, stellte eine tiefe Stimme mit leicht schottischem Akzent neben ihr fest und sie hob den Kopf. Genau genommen musste sie ihn in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Wie erhofft, stand der beunruhigende Mann vor ihr und fixierte sie mit seinem klaren Blick. Der Triumph darüber, dass sie seine Aufmerksamkeit erregt hatte, elektrisierte Bella. Trotzdem ließ sie sich nichts anmerken.

„Womöglich verhält es sich umgekehrt“, erwiderte sie mit einem selbstsicheren Lächeln.

Für den Bruchteil einer Sekunde verengten sich seine Augen und Bella meinte, eine Unbeugsamkeit in ihnen zu erkennen, die sie noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte.

„Darf ich mich vorstellen?“, fragte er, ohne auf ihre Erwiderung einzugehen und deutete eine leichte Verbeugung an. „Rohan MacDougall, zu Ihren Diensten.“

Sie reichte ihm die Hand und er beugte sich formvollendet darüber. Seine Haut war warm, doch sein Griff stahlhart. Ob er der schottische Duke war, über den sich Fitzroy vor einiger Zeit abfällig geäußert hatte? Wenn sie sich recht erinnerte, war er erst vor Kurzem nach London gezogen. Angestrengt versuchte sie sich an Fitzroys Worte zu erinnern. Ja, jetzt entsann sie sich. MacDougall sei ein Miesmacher, der seinesgleichen suchte und humorloser als der Leibarzt Königin Victorias. Außerdem prüde, bigott und jeglichen Fleischesfreuden gegenüber abgeneigt. Sollte das der Wahrheit entsprechen, fragte sie sich, was er an einem Ort wie diesem machte. Offensichtlich handelte es sich demnach bei den unschmeichelhaften Unterstellungen um perfide Gerüchte.

„Bella“, entgegnete sie, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte.

„Und weiter?“

Statt einer Antwort lächelte sie verführerisch.

„Mein Nachname ist ein Geheimnis.“

Er erwiderte ihr Lächeln, trotzdem glänzten seine Augen nach wie vor wie gefrorene Gebirgsseen, so als trüge er die Highlands in sich.

„Was muss ich tun, um dieses Rätsel zu lösen?“

Ausgezeichnet, er hatte angebissen! Genugtuung beschleunigte ihren Puls.

„Gar nichts. Er wird sich Euch niemals offenbaren, Mylord.“

„Oh, das ist eine Herausforderung.“

„Wenn Ihr es so sehen wollt?“

Sie lächelte ihn unverändert freundlich an, obwohl sein Ernst sie zunehmend einschüchterte.

„Dann gestattet mir, diese Herausforderung anzunehmen.“

„Ich wüsste nicht, wie.“

Kurz dehnte sich Stille zwischen ihnen aus und sie meinte, er würde sich den Kopf über eine Lösung zerbrechen.

„Nun, zuerst einmal gilt es herauszufinden, ob Sie über den benötigten Mut verfügen, mich in die Lage zu versetzen, die weiteren Schritte einzuleiten.“

„Mut?“, hinterfragte sie verwundert.

„Selbstverständlich. Es erfordert Mut, meine Geliebte zu werden und mir die Gelegenheit einzuräumen, mich Ihrem Geheimnis anzunähern. Ich bezweifle, dass Sie dem gewachsen sind.“

Bella verengte sekundenlang ihre Augen. Worauf wollte er hinaus? Er bezichtigte sie doch nicht etwa der Feigheit?

„Mut ist nicht das Problem“, erwiderte sie spitz. „Eher, dass ich zurzeit eines anderen Mannes Gefährtin bin.“

Er lüpfte seine rechte Augenbraue.

„Ich vermag mir kaum vorzustellen, wo darin die Schwierigkeit liegt. Soweit mir bekannt ist, kann man in Ihren Kreisen eine innige Beziehung schnell beenden.“

Bella schwieg, griff nach einem Glas Champagner und nippte abwartend daran. Eine vage Ahnung, diesem Mann nicht gewachsen zu sein, geisterte durch ihren Kopf.

„Gibt es etwas, das ich für Sie tun könnte, um Ihnen eine Entscheidung zu meinen Gunsten zu erleichtern?“

Er versuchte ein Lächeln, das seine Mundwinkel jedoch beängstigend zucken ließ. Ihre Nervosität steigerte sich, trotzdem klammerte sie sich unbeirrt an die letzten Reste ihrer Gelassenheit. Es wäre ja gelacht, wenn es MacDougall gelänge, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen! Er war schließlich auch nur ein Mann.

„Hm ...“, überlegte sie und spielte, um etwas Zeit zu gewinnen, als würde sie nachdenken. In ihrem Leben gab es keinen Platz für einen Mann, der sie aus dem Konzept brachte. Zweifellos verfügte der Schotte über alle Voraussetzungen, um genau das zu tun. Deswegen beschloss sie, ihm einen Vorschlag zu unterbreiten, der zu abwegig war, um umgesetzt zu werden. „Eine Reise nach Paris könnte mich umstimmen.“

Überraschenderweise hellte sich seine Miene auf und für den Bruchteil einer Sekunde stockte Bellas Herz. Dieser Mann war atemberaubend; anders als die Gecken, die normalerweise um ihre Beachtung buhlten. Es war erschütternd, zu erkennen, dass sie seine Andersartigkeit weder festmachen noch genauer definieren konnte.

„Das trifft sich ausgezeichnet“, erklärte er. „Ich plane, in drei Tagen nach Frankreich aufzubrechen.“

Bella riss überrascht die Augen auf. Damit hatte sie nicht gerechnet. Abgesehen davon hatte er ihren Rückzug verhindert. Um ihr Gesicht zu wahren, bliebe ihr keine andere Möglichkeit, als sich darauf einzulassen.

„Ich würde Sie als Reisebegleitung akzeptieren“, fügte er mit steifer Freundlichkeit hinzu. „Nun, wie ist es? Wagen Sie den Sprung?“

Ach, du meine Güte! Wieso überlegte sie noch? Vor einer knappen Stunde hatte sie sich aufs Heftigste gelangweilt. Eine Reise auf den Kontinent wäre eine willkommene Abwechslung. Abgesehen davon hätte sie MacDougall innerhalb kürzester Zeit geknackt und von sich abhängig gemacht. Es bestand kein Grund zur Sorge.

„Darüber muss ich nachdenken.“

Ein Glück, dass sie wenigstens nicht jegliches Verhandlungsgeschick verloren hatte! Eine der unzähligen Regeln in Zusammenhang mit Männern bestand immerhin darin, es dem anderen Geschlecht nicht zu leicht zu machen.

„Tun Sie das! Ich erwarte Ihre Nachricht im Laufe des morgigen Tages. Schicken Sie diese nach Glencruitten House.“ Höflich verbeugte er sich vor ihr. „Bella“, grüßte er und wandte sich abrupt ab.

„Mylord“, murmelte sie überrumpelt und blickte ihm nach, als er durch die Menge davonschritt.

Es war unerklärlich, doch das unangenehme Gefühl, einen schweren Fehler zu begehen, wenn sie mit ihm ginge, ließ sich nicht abschütteln.

Trotzdem benötigte sie keine weiteren drei Minuten, um eine Entscheidung zu treffen. Sie würde diesen geheimnisvollen Mann nach Paris begleiten, ihm auf dem Weg dorthin die Taschen leeren, sich in der französischen Hauptstadt von ihm ein Haus kaufen lassen und gegebenenfalls für ein paar Monate dortbleiben. Oder gar nicht mehr nach England zurückkehren. Gleich nachdem er ihr das Haus gekauft hätte, würde sie ihm den Laufpass geben. So war der Plan. Deswegen schickte sie am folgenden Tag einen Boten mit ihrer Zusage zu seinem Stadthaus und erhielt die Anweisung, sich in zwei Tagen am frühen Morgen bereit zu halten.

Seit langer Zeit stieg Vorfreude in Bella auf. Sie hatte das britische Königreich nie verlassen, jedoch schon als kleines Mädchen davon geträumt, einmal auf Versailles zu tanzen. Tja, den Königshof würde sie nur als Mätresse des Königs betreten, was ein eher aussichtsloses Unterfangen war. Aber keiner könnte verhindern, dass sie unter dem Arc de Triomphe hindurch spazierte.

Sie steckte inmitten der Reisevorbereitungen, als ihr der Butler Fitzroy meldete. Meine Güte, den hatte sie ja völlig vergessen!

Bella seufzte und verdrehte genervt die Augen. Sie würde ihn schnell abservieren und dann mit ihrer Arbeit fortfahren.

„Meine liebe Bella“, empfing sie ihr Liebhaber und kam schnurstracks auf sie zu.

Da hob sie abwehrend eine Hand und Fitzroy hielt mitten in der Bewegung inne.

„Ich bitte Euch, mein Guter, haltet ein! Ich habe Euch etwas mitzuteilen.“

Das Lächeln erlosch und er runzelte die Stirn.

„Was ist es Bella? Begehrst du einen neuen Ring?“

Bella schüttelte anmutig den Kopf.

„Nein, Fitzroy. Ich beende unsere Beziehung. Jetzt.“

Sekundenlang starrte er sie verblüfft an, dann wurde er dunkelrot und die Adern an seinen Schläfen schwollen vor Zorn an.

„Du kleines Stück Dreck wagst es, mich abzuservieren?“

Bella musterte ihn gelassen.

„Ihr könnt es nennen, wie es Euch beliebt. Nichtsdestotrotz ist unser Verhältnis mit der jetzigen Stunde beendet.“

Da machte er einen Schritt auf sie zu und packte sie grob am Arm.

„Du Hure, du billige Dirne! Wage es nicht! Genau genommen bin ich deiner überdrüssig, war aber zu feinfühlig, es dir mitzuteilen, du unverschämte Person!“

Er holte aus und stieß sie so fest von sich, dass sie das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte, wobei sie mit dem Kopf schmerzhaft auf dem harten Stein aufschlug.

„Haltet ein!“, keuchte sie beunruhigt.

„Ja, das werde ich. Aber zuvor nehme ich mir, was mir zusteht!“

Er war über ihr, bevor sie sich in Sicherheit bringen konnte.

„Schluss, Fitzroy! Lasst mich los!“, schrie sie und erkannte erschrocken Summers Stimme. Nein, nein! Bleib wo du bist! Du hast hier nichts zu suchen!

Bella schloss die Augen, kämpfte darum, die Oberhand zu behalten. Sie gab auf und öffnete ihm ihre Beine. Er schien gar nicht mehr aufhören zu können und reagierte sich an ihr eine gefühlte Ewigkeit lang ab. Als er fertig war, spuckte er ihr ins Gesicht.

„Hure, wage es nicht, mich jemals wieder um etwas zu bitten.“

Er richtete sich die Hose und stürmte aus dem Raum. Bella blieb kurz liegen, dann rappelte sie sich auf und tupfte mit einem Taschentuch seine Spucke von ihrer Wange. Sie atmete ein paar Mal tief durch, streifte ihre Röcke glatt und damit gleichzeitig ihr Entsetzen ab und straffte die Schultern. Es gab noch viel zu erledigen.

Im ersten Morgengrauen hielt die Kutsche MacDougalls vor Bellas Haus. Der Schotte persönlich stieg aus, um ihr ins Innere zu helfen, und überwachte das Beladen ihrer Koffer. Dann setzte er sich ihr gegenüber auf die Bank, den Blick ins Freie gewandt. Außer einem knappen Gruß hatte er bis jetzt kein Wort an sie gerichtet. Er gehörte wohl eher dem schweigsamen Menschenschlag an.

„Nun, ich bin schon äußerst gespannt auf die Reiseroute. Werden wir am Hafen ein Schiff nehmen?“, wollte Bella freundlich wissen und nutzte die Gelegenheit, um ihn zu einer Konversation zu animieren.

„Nein. Bedauerlicherweise habe ich verabsäumt, Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass wir einen Umweg über Schottland machen. Hoffentlich stört Sie das nicht. Auf meinem Anwesen gibt es einige Gerätschaften, die ich auf den Kontinent mitnehmen muss. Wir werden direkt von Oban nach Frankreich übersetzen. Ich hoffe, das läuft Ihren Plänen nicht zuwider.“

Bellas Gesicht hellte sich auf.

„Nein, natürlich nicht! Im Gegenteil, ich freue mich darauf, Schottland zu bereisen. Ich habe schon viel davon gehört.“

Er wich nach wie vor ihrem Blick aus und starrte ins Freie. Da er nichts erwiderte, versuchte sie auf andere Weise, ihn aus der Reserve zu locken.

„Woher stammt Ihr, Mylord?“

„Oban“, antwortete er knapp und presste den Mund zusammen, als wollte er ihr zu verstehen geben, dass er sich weder eingehender dazu äußern noch mehr von sich preisgeben würde.

Bella runzelte ratlos die Stirn. Es war schwierig, mit dem Mann ins Gespräch zu kommen.

„Habt Ihr Paris schon zuvor bereist?“, brach sie nach einigen Minuten die immer drückender werdende Stille.

Statt einer Antwort griff er nach einer Ledertasche, die neben ihm lag, öffnete sie und zog eine aktuelle Tageszeitung heraus. Ohne Bella weiter zu beachten, begann er zu lesen. Die junge Frau wollte ihm ihren Unwillen angesichts seiner Unhöflichkeit kundtun, beschloss aber, lieber den Mund zu halten. Weshalb nahm dieser einschüchternde Mann sie mit sich, wenn er sich ihr dann nicht widmete? Was auch immer seine Gründe waren: Ihr war es recht. Es war durchaus eine angenehme Abwechslung, nicht ständig Konversation treiben zu müssen. Daher wandte sie sich ihrerseits dem Fenster zu und verfolgte interessiert, was im Freien vor sich ging.

Bald hatten sie die Stadt verlassen und der Verkehr ließ nach. Sie passierten einen hohen Pfeiler, an dem riesige Holzschilder befestigt waren. Darauf standen einige Städtenamen, die in alle Himmelsrichtungen zeigten. Als würden sie soeben das geografische Zentrum Großbritanniens durchqueren. Bellas Herz stocke, als sie Bristol entzifferte, welches nicht weit entfernt ihres Geburtsortes lag. Für den Bruchteil einer Sekunde vergaß sie Zeit und Ort. Brennende Sehnsucht trübte ihren Blick. Wie es ihrer Familie wohl erging? Hatten sie sich mit Summers „Tod“ abgefunden?

Während der ersten Monate nach ihrem Verschwinden hatten diese Fragen Bella ständig gequält. Dann hatte sich ihr neues Leben überraschend exotisch entwickelt und sie hatte sie verdrängt. Bis jetzt. Unwillkürlich legte sie eine Hand über ihr Herz, doch als ihr bewusst wurde, was sie tat, riss sie diese wieder fort und ballte sie zur Faust. Um sicher zu gehen, dass MacDougall nichts von ihrer Gefühlsanwandlung mitbekommen hatte, warf sie ihm einen schnellen Blick zu. Sie hätte sich nicht sorgen müssen. Die Berichterstattung der Zeitung zog den Schotten dermaßen in den Bann, dass er augenscheinlich sein komplettes Umfeld ausgeblendet hatte. Bella lehnte sich erleichtert zurück und schloss die Augen. Sie wollte an etwas Schönes denken. Bereits einen Wimpernschlag später tanzte sie auf Versailles ein kompliziertes Menuett. Wie immer in ihren Fantasien hatte ihr Tanzpartner kein Gesicht. Überall flackerten Kerzen, deren Schein von hunderten Spiegeln zurückgeworfen wurde.

„Meine Dame, darf ich Euch zu einem Stückchen Camembert verführen?“

Ein vornehm gekleideter Galan verbeugte sich vor ihr.

„Was soll das sein, ein Camembert?“, fragte Bella und lächelte angetan.

„Wie bitte? Was?“

„Was soll das sein, ein Camembert?“, wiederholte Bella und fuhr erschrocken zusammen, als sie grob angerempelt wurde.

Sie blinzelte und riss die Augen auf, nur um geradewegs in die von MacDougall zu starren.

„Ist es Ihre Angewohnheit, sinnfreie Selbstgespräche zu führen?“, wollte ihr Gegenüber streng wissen und wirkte nicht im Geringsten amüsiert.

„Verzeihung, normalerweise ist das nicht meine Art.“

„Das ist zumindest beruhigend. Dann ist es nicht unhöflich von mir, darum zu bitten, sich diese Unsitte nicht anzugewöhnen.“

„Nein, Ihr habt recht. Es wird nicht wieder vorkommen.“

Ohne sie länger zu beachten, wandte er sich erneut seiner Lektüre zu und Bella legte eine Hand über ihren Mund, damit ihm ja kein Geräusch mehr entfleuchte.

„Ein spezieller Käse“, erklärte der französische Galan, nachdem sie die Augen zum wiederholten Mal geschlossen hatte. „Ihr müsst ihn unbedingt probieren.“

„Sehr gerne“, erwiderte Bella. „Wenn Ihr so freundlich wäret, mich zum Buffet zu begleiten.“

Ein Räuspern riss sie wieder aus ihren Gedanken. Sie hatte sich doch eine Hand über den Mund gelegt! Oh nein, sie weilte nicht mehr an jenem Ort, sondern hatte sich verräterisch nach der imaginären Käseplatte ausgestreckt. Zögernd öffnete Bella die Augen und ließ den Arm sinken.

„Könnte es sein, dass Sie Hunger verspüren?“, fragte MacDougall gereizt.

„Nein.“ Bella schüttelte den Kopf und versuchte ein beschwichtigendes Lächeln. „Es verhält sich folgendermaßen: ich weile gerade auf einem Fest am Hof von König Ludwig ...“

Sie verstummte, da er sie musterte, als hätte sie den Verstand verloren. Sofort entsann sie sich ihrer Rolle.

„Das war natürlich ein Scherz, Mylord. Mir ist vollkommen klar, dass ich derzeit in einer Kutsche nach Schottland reise.“

Sie beugte sich zu ihm, zupfte an ihrem Dekolleté, damit es tiefere Einblicke ermöglichte und sah ihn von unten herauf mit einem verführerischen Lächeln an.

„Vielleicht wollt Ihr die Zeit nutzen, Euch mir ein wenig anzunähern? Ich stehe Euch jederzeit zur Verfügung.“

Etwas in seinem Blick veränderte sich. Hatte dort zuvor nur Unwillen geschwelt, erkannte sie jetzt Ekel darin. Verwirrt richtete sie sich wieder auf. Was machte sie nur falsch? Weshalb reagierte er überhaupt nicht auf sie?

„Ich werde mich dir eingehend widmen, wenn wir unser Ziel erreicht haben“, erklärte er ausdruckslos und es fröstelte sie. Warum klang das wie eine Drohung? Aber was sollte er ihr schon anhaben können? Sie war eine erfahrene Kurtisane. Es gab kaum etwas, das sie noch erschüttern würde. Er nahm die Lektüre seiner Zeitung wieder auf und Bella blickte erneut zum Fenster hinaus, während die Sonne stetig höher stieg und Grillen ihr Lied anstimmten.

Zu Mittag kehrten sie in einem Gasthof ein. Auch jetzt entpuppte sich ihr Reisebegleiter als überaus verschlossen. Jede seiner Gesten vermittelte ihr, dass er sie verabscheute. Aber weshalb? Was hatte sie getan? Und vor allen Dingen, warum nahm er sie auf eine lange Reise mit, wenn er viel lieber auf ihre Gesellschaft verzichten würde? Doch nicht etwa aus dem Grund, ihren Nachnamen herauszufinden? Warum hatte er sie überhaupt angesprochen, wenn sie ihm dermaßen missfiel? All diese Widersprüchlichkeiten waren unverständlich und obwohl sich Bella stundenlang den Kopf darüber zerbrach, fand sie keine einleuchtende Erklärung für sein Handeln.

Das Herz der Kurtisane

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