Читать книгу Das Herz der Kurtisane - Junia Swan - Страница 5

2. Kapitel

Оглавление

Was hatte sie nur getan? Wie hatte sie sich in Harry nur so irren können? All die Jahre! Wenn er jemandem erzählte, welche Intimitäten sie ihm gestattet hatte? Man würde sie verstoßen und aus der Gesellschaft ausschließen. Sie wäre ruiniert, kein Mann, der etwas auf sich hielt, würde sie heiraten. Oh Gott, was hatte sie nur angestellt? Wie leichtsinnig war sie gewesen, ihm zu vertrauen und ihre Zukunft in seine Hände zu legen. Nun hatte er alles zerstört und es gab keinen Ort mehr, an dem sie in Sicherheit war. Womit hatte sie das verdient? Warum war er so grässlich zu ihr? Weshalb hatte er sie nicht gewarnt und kaltblütig ins offene Messer laufen lassen?

Wie eine Blinde rannte Summer durch immer einsamer werdende Gassen, bis ihre Lunge brannte und die Tränen auf ihrer Wange getrocknet waren. Als sie innehielt und sich umsah, bemerkte sie, dass sie sich verlaufen hatte. Aber das war belanglos. Ihr Leben hatte keinen Sinn mehr. Der Mann, den sie von ganzem Herzen liebte, hatte sie verraten und zurückgestoßen. Das tat so schrecklich weh, dass sie es nicht ertragen konnte. Nicht eine Sekunde länger. Wie von Sinnen rannte sie weiter. Die Abstände zwischen den Gaslaternen wurden größer, der Gestank der Themse drang immer intensiver an ihre Nase. Nur nebenbei stellte sie fest, dass sie zweifellos durch eines der schäbigen Stadtviertel hetzte. In ihrem jugendlichen Kummer war sie überzeugt davon, dass es nichts gab, was sich mit dem soeben erlittenen Schmerz zu messen vermochte, deswegen fürchtete sie sich nicht und verschwendete keinen Gedanken an ihre Sicherheit.

Plötzlich fand sie sich am Ufer des breiten Flusses wieder und hielt sekundenlang inne. In fünfzig Metern Entfernung spannte sich eine Brücke über den langsam fließenden Strom. Als hätte die Laterne, welche auf deren Mitte platziert worden war, sie mit einem Netz eingefangen, um sie näher zu ziehen, huschte sie darauf zu. Bis auf jenen spärlich beleuchteten Lichtkreis blendete Summer die restliche Umgebung aus. Deswegen bemerkte sie die einsame Kutsche nicht, die am Ufer stand. Außerdem entging ihr der dunkle Schatten eines Menschen, der sie auf ihrem Weg reglos beobachtete.

Summers Dasein hatte keinen Sinn mehr. Auf Dauer würde sie es nicht ertragen, ohne Harry zu leben. Das hatte sie in der letzten halben Stunde erkannt. Deswegen konnte sie sich genauso gut sofort in den Tod stürzen und mit einem Schlag all ihre Probleme lösen.

Ihre Hände zitterten, als sie sich am Holzgeländer nach oben zog und mit den Armen den Laternenpfahl umschlang. Dann richtete sie sich schniefend auf. Der Fluss war in der Dunkelheit kaum wahrzunehmen, die Welt um sie herum, bis auf die Lichtglocke, die sie umspannte, tiefschwarz.

„Schätzchen, er ist es nicht wert“, durchbrach eine Stimme die Unwirklichkeit dieses Augenblicks und Summer zuckte erschrocken zusammen. Um nicht zu fallen, klammerte sie sich fester an den Pfeiler.

Langsam wandte sie den Kopf und entdeckte den Umriss einer Frau, die einen knappen Meter neben ihr stand und zu ihr aufblickte.

„Glaube mir, ich weiß, wovon ich spreche.“

„Ich kann nicht länger leben“, schluchzte das verzweifelte Mädchen. „Ich bin ruiniert und er hat mir das Herz gebrochen.“

Wieder sprudelten Tränen über ihre Wangen und Summer war unfähig, diesen Gefühlsausbruch zu unterbinden.

Kurz war es still und die schattenhafte Frau trat näher.

„Nur wenn du es zulässt“, erklärte sie nach einer Weile. „Nur wenn du ihm gestattest, dein Leben zu ruinieren.“

Ein winziger Hoffnungsschimmer entzündete sich in Summers Herz.

„Weißt du, Schätzchen, es gibt ausgezeichnete Möglichkeiten, sich als Frau an der männlichen Gattung zu rächen.“

Trotz der aufkeimenden Hoffnung schüttelte Summer weinend den Kopf.

„Ich habe keinen anderen Ausweg! Ich bin vollkommen allein!“

„Hör zu, Mädchen: Komm da runter und ich werde dir helfen!“

Summer schniefte und überlegte sekundenlang. Dann ging sie vorsichtig in die Knie und ließ sich auf den Boden hinab. Hoffnungsvoll suchte sie den Blick ihrer Retterin. Bei genauerer Betrachtung erkannte sie, dass diese vornehm gekleidet war und teuren Schmuck trug. Außerdem war sie unerhört attraktiv. Was machte eine solch elegante Frau bloß ohne Begleitung in der Nacht an einem Ort wie diesem? Die geheimnisvolle Dame erwiderte Summers Blick mit einem aufmunternden Lächeln.

„Ich bin Madame Aury“, stellte sie sich mit weicher Stimme vor.

„Summer Davies“, murmelte die Jüngere, da legte ihr die schöne Frau einen Finger über die Lippen.

„Pscht! Dieses Mädchen gibt es nicht mehr. Es ist soeben in den Fluss gesprungen, oder etwa nicht?“

Verwirrt blinzelte Summer, dann nickte sie zustimmend. Diese Vorstellung vermittelte ihr Trost.

„Ich werde einen neuen Namen für dich finden“, erklärte die Frau und zog sie weiter in den Schein der Gaslaterne.

Eingehend musterte sie das hoffnungslose Mädchen.

„Bella“, erklärte sie nur Augenblicke später. „Ab jetzt bist du Bella. Du hast etwas an dir, womit du erheblich Macht erlangen wirst.“

„Macht?“, wiederholte Bella verständnislos.

„Ja, Macht“, bekräftigte Madame Aury und nickte nachdrücklich. „Denn eines musst du wissen, Schätzchen: Alle Männer sind gleich. Sie brechen Frauenherzen, ohne etwas dabei zu empfinden. Sie verfügen über unsere Körper und benutzen uns ohne schlechtes Gewissen. Trotzdem sind sie schwach. Ich werde dir zeigen, wie du es anstellen musst, damit sie dir verfallen und du sie beherrschen kannst. Wenn sie dir aus der Hand fressen, wirst du ihnen alles nehmen können! Sie werden dich mit Schmuck überhäufen, dir Häuser kaufen und aus Angst, von dir verlassen zu werden, zittern.“

Bella konnte den Worten ihres Gegenübers nicht folgen. Deswegen schluckte sie und schüttelte ablehnend den Kopf. „Ich hasse Männer! Ich will mit ihnen nichts mehr zu tun haben!“

„Das ist sehr gut!“, lobte Madame Aury. „Dein Hass wird dich bis an die Spitze führen. Aber sehnst du dich nicht danach, sorgenfrei und in Luxus zu leben?“

Bella verstand nicht, worauf die andere Frau hinauswollte.

„Ja, trotzdem bin ich ruiniert! Verstehen Sie das doch!“

„Das bist du nicht. Ab jetzt ruinierst du die Männer. Das ist deine Rache. Dein Herz wird erst Linderung erfahren, wenn sie dir zu Füßen liegen. Dann wirst du ihnen jenen Schmerz bereiten, den dieser Mann dir zugefügt hat.“

Bella schloss die Augen und dachte angestrengt nach.

„Was muss ich tun?“, fragte sie leise.

„Zuerst einmal kommst du mit mir. Ich habe ein Zimmer, das du für kurze Zeit bewohnen kannst.“

„Oh, vielen Dank!“

Das erste Mal, seit Harry sie von sich gestoßen hatte, fühlte sie sich etwas besser. Madame Aury griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich von der Brücke und auf eine Kutsche zu, die am Straßenrand wartete. Wie Summer jetzt feststellte, zierte diese kein Wappen. Nacheinander stiegen sie ein. Nachdem sich das Gefährt in Bewegung gesetzt hatte, beugte sich die ältere Frau vor und umschloss Bellas Unterarm.

„Du musst mir vertrauen“, sagte sie dann. „Es ist wichtig, dass wir gleich heute beginnen.“

„Womit?“

„Ich nehme an, dieser Mann hat deine Unschuld geraubt?“, wollte die andere Frau statt einer Antwort wissen.

Bella errötete und wandte sich ab. Da sie nichts erwiderte, fuhr die Madame fort: „Es besteht kein Grund, sich zu schämen. Dergleichen gehört ab jetzt zu deinem Geschäft. Je eher du dich daran gewöhnst, frei über Intimitäten zu sprechen, desto schneller wirst du Erfolg haben.“

Bella schluckte.

„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie.

„Du weißt es nicht?“, wiederholte die Ältere fassungslos. „Was soll das heißen? Hat er seinen Pfahl in dich gerammt, oder nicht?“

Bella zuckte erschrocken zusammen.

„Seinen Pfahl? Was soll das sein?“, stammelte sie verwirrt. Das klang ja schrecklich!

„Was genau hat er mit dir angestellt?“

„Er hat mit seinem Finger ...“ Verlegen brach sie ab und die Madame atmete tief durch.

„Dann bist du demnach noch Jungfrau“, stellte sie sachlich fest und Bella zuckte die Achseln.

Eine Zeit lang überlegte die ältere Frau mit gerunzelter Stirn, dann wandte sie sich erneut an ihren Schützling.

„Ein Umstand, den wir schnellstens ändern müssen. Die Frage ist nur, ob du das wirklich willst. Überlege es dir gut! Solltest du dich dafür entscheiden, verspreche ich dir, dass dir kein Mann jemals wieder Schmerzen wird zufügen können, nachdem du die Lehre bei mir abgeschlossen hast.“

Bellas Herz pochte wie verrückt, ihre Gedanken kreisten wild in ihrem Kopf. Die ganze Situation erschien ihr immer unwirklicher.

„Deine Rache wird dich reich machen und du wirst tun können, was immer du möchtest. Nachdem du den richtigen Umgang mit Männern gelernt hast. Willst du dieses Leben?“

Madame Aury hatte ihr die Tür zum einzigen Ausweg aus dieser Misere geöffnet. Warum fühlte sich Summer trotzdem so, als würde sie in eine Falle tappen? Doch die Aufrichtigkeit in den Augen der anderen beruhigte sie. Wenn die Frau davon überzeugt war, dass sie es schaffen würde, durfte sie nicht länger zweifeln. Denn, was sollte sie auch sonst machen? Nach Hause konnte sie nicht mehr zurückkehren. Harry würde allen erzählen, dass sie ein leichtes Mädchen wäre. Abgesehen davon war Summer vor nicht einmal einer halben Stunde in den Fluss gesprungen. Somit war die Entscheidung gefallen. Zögernd nickte sie.

„Ja, ich will das.“

„Der Anfang wird nicht leicht sein“, offenbarte ihr Madame Aury. „Glaubst du, du hältst durch?“

Angst schnürte ihr das Herz noch fester zusammen.

„Ja“, flüsterte sie und die Kutsche hielt mit einem Ruck vor einem stattlichen Haus.

Ein Page öffnete ihnen die Tür und sie entstiegen dem Gefährt. Madame Aury führte ihren Gast in die hell erleuchtete Halle und über eine Treppe in den ersten Stock. Wie Bella überrascht feststellte, war es teurer eingerichtet als ihr Elternhaus.

Das Gästezimmer, in welches Madame sie brachte, war riesig und nobel ausgestattet.

„Siehst du?“, sagte sie mit einem zufriedenen Lächeln und deutete um sich. „All dies habe ich mit verletztem, männlichem Stolz bezahlt.“

Trotz ihres Kummers lächelte Bella zaghaft. Sie fühlte sich bereits etwas besser.

„Ich frage dich ein letztes Mal: Willst du das ebenso?“

„Ja!“, bekräftigte Bella mit neuerwachtem Mut.

„In Ordnung, dann gebe ich dir ein paar Minuten Zeit, um deine Tränen abzuwischen und dich zu entkleiden. Ich werde dir etwas Passenderes bringen und dir zeigen, wie man sich schminkt. In der Zwischenzeit werde ich einen Bekannten kontaktieren, der ein kleines Vermögen dafür zahlt, ein Mädchen zu entjungfern. Der komplette Betrag soll dir gehören. Diesmal verlange ich keinen Anteil.“

Bella nickte wie betäubt, obwohl sie nur die Hälfte von dem verstand, was die andere Frau ihr erklärte. Augenblicke später war sie allein. Nervös trat sie zur Waschschüssel, goss sich aus einem Krug Wasser ein und reinigte ihr Gesicht. Kaum war sie damit fertig, betrat eine junge Frau das Zimmer. Sie war nur wenige Jahre älter als Bella selbst.

„Ich bin Belinda. Madame Aury schickt mich, um dir beim Entkleiden behilflich zu sein“, erklärte diese und Bella wandte ihr schweigend den Rücken zu.

Innerhalb kürzester Zeit hatte sie Kleid, Überkleid, die voluminösen Unterröcke und das Korsett abgelegt. Das Unterkleid ließ sie an. Nachdem Belinda gegangen war, kreuzte Bella die Arme abwartend vor der Brust, um sich nicht so nackt zu fühlen.

Madame Aury kehrte zurück und musterte ihren Körper prüfend.

„Zuallererst wirst du ein Bad nehmen“, erklärte sie aufmunternd und streckte dem Mädchen auffordernd eine Hand entgegen. „Komm mit mir!“

Unbehaglich folgte ihr Bella und fand sich bald darauf in einem prunkvollen Bad wieder, in dessen Mitte eine dampfende Porzellanwanne stand. Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, half Madame ihrem Schützling aus dem Unterkleid und beobachtete Bella abschätzend, als diese in die Wanne stieg.

„Du hast einen erotischen Körper“, stellte sie zufrieden fest. „Es ist wichtig, dass du nie vergisst, dass er dein Kapital ist. Du musst immer perfekt hergerichtet sein, wenn du dich einem Mann präsentierst. Trage stets Parfum und exotische Kleidung. Das alles wird Teil deiner neuen Persönlichkeit sein, der Frau, als die du in der Öffentlichkeit auftrittst. Bella wird so etwas wie einen Schutzwall für dich darstellen, hinter dem du dich verstecken kannst. Zeige dich einem Freier niemals ungeschminkt! Wie du unter all diesen Schichten aussiehst, darf keiner der Herren je erfahren, denn dein wahres Gesicht gehört nur dir. Sie denken, du gibst dich ihnen vollständig hin, doch in Wirklichkeit verachtest du sie und hältst alles, was dich wahrhaftig betrifft, zurück.“

Madame Aury holte tief Luft und streckte zur Unterstreichung des folgenden Rates einen Zeigefinger in die Höhe.

„Merke dir außerdem, niemals einen Mann zu küssen. Das gilt es unter allen Umständen zu vermeiden! Verstehst du das?“

Obwohl Bella nicht gänzlich nachvollziehen konnte, wovon die andere Frau sprach, brannte sich jedes ihrer Worte in ihre Gedanken ein. Sie nahm sich fest vor, diese Ratschläge nie zu vergessen. Instinktiv ahnte sie, dass es überlebenswichtig war, sich an das zu halten, was Madame Aury sie lehrte.

„Mr Delane wird für eine Stunde so viel bezahlen, wie normalerweise für eine ganze Nacht. Auch, wenn er darauf besteht, länger zu bleiben, musst du ihn fortschicken. Vertröste ihn auf nächste Woche.“

„Mr Delane?“

„Dein erster Freier.“

Kälte übermannte Bella und langsam dämmerte ihr, was sie erwartete.

„Wird er seinen Pfahl in mich rammen?“, wollte sie tonlos wissen.

„Ja.“

„Wird es weh tun?“

Madame Aury zuckte mit den Achseln und deutete ihr, aufzustehen. Dann reichte sie ihr ein Badetuch.

„Das kommt sowohl auf ihn als auch auf dich an.“

„Was muss ich tun, damit es nicht schmerzt?“

„Ihn verführen, ihn um den Finger wickeln, bis er dir aus der Hand frisst.“

„Wie soll ich das anstellen?“

Sinnend beobachtete Madame Aury Bella dabei, wie sie sich abtrocknete. Ein Glück, dass Bella nicht ahnte, dass die Stunde mit Mr Delane dazu gedacht war, ihre Abneigung gegen Männer zu verstärken und ihren Hass zu schüren.

„Das ist unwichtig. Du wirst es in den nächsten Tagen lernen“, meinte sie ausweichend.

Sie half Bella in ein aufreizend durchsichtiges Kleid und in einen Morgenmantel. Dann dirigierte sie das verunsicherte Mädchen vor ihren Schminktisch und zeigte ihm, wie man Farbe auf Augenlidern und Wangen verteilte. Fachmännisch tuschte Madame Bellas Wimpern und trug ein dunkles, frivoles Rot auf deren Lippen auf. Vor den Augen der jungen Frau verwandelte sie sich in eine fremde Person, die sich selbst nicht erkannte, als sie fertig war.

„Nun ist es Zeit. Also, komm mit! Ich bringe dich jetzt in den Raum, in dem du Mr Delane empfangen wirst.“

Auf dem Weg pochte Bellas Herz so heftig, dass sie befürchtete, es würde ihr aus der Brust springen. Was machte sie hier eigentlich? War sie von allen guten Geistern verlassen? Nein. Sie ballte die Hände. Sie würde zurückschlagen und Harry nicht gestatten, ihr ganzes Leben zu zerstören.

Ein breites Bett, auf dem sich unzählige Kissen stapelten, zog ihren Blick sofort auf sich.

„Gib mir den Morgenmantel!“

Zitternd gehorchte die junge Frau ihrer Lehrmeisterin. Bevor sich Madame Aury zurückzog, tätschelte sie Bella aufmunternd die Wange.

„Du schaffst das“, sagte sie ernst, wandte sich um und ließ sie allein zurück.

Nervös und am Rande ihrer Kräfte durchmaß Bella das Zimmer. Da sie barfuß war, machte sie dabei keinen Laut. Sie meinte, eine Ewigkeit wäre vergangen, bis sich die Tür öffnete und ein großer, schwerer Mann eintrat. Angesichts seiner wuchtigen Statur wurde Bella ihre Hilflosigkeit umso deutlicher bewusst. Ängstlich suchte sie in seinen riesigen Pranken nach jenem Pfahl, von dem Madame Aury gesprochen hatte. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf sie und seine Augen glitten ungeniert über ihren Körper. Dann teilte ein zufriedenes Lächeln seinen schmallippigen Mund. Mit einer Hand warf er lässig die Tür hinter sich zu und schob den Riegel vor.

„Also Bella, richtig?“

Sie nickte entgeistert, unfähig, den Blick von ihm zu wenden. Dies war er also, der Mann, der sie zu einer Frau machen würde. Während Madame Aury von ihrer Zukunft gesprochen hatte, war ein anderes Bild in ihrem Inneren aufgestiegen. Es waren Gentlemen gewesen, die sich vor ihr verneigt und um ihre Gunst gebuhlt hatten. Nicht rohe, grobschlächtige Männer wie Mr Delane. Ohne es beabsichtigt zu haben, vergrößerte sie den Abstand zu dem furchteinflößenden Mann.

„Wir haben nur eine Stunde“, erklärte dieser ungeduldig. „Deswegen sollten wir gleich zur Sache kommen.“

Mit drei Schritten war er bei ihr, hob seine Hände und umspannte damit ihre Schultern, was sie erstarren ließ. Ohne Vorwarnung entblößte er ihr Dekolleté und zerrte das Negligé tiefer, bis es zu ihren Füßen lag und Bella nackt vor ihm stand. Das war der Moment, in dem sie vehement bereute, sich auf dieses Unterfangen eingelassen zu haben.

„Bitte“, flüsterte sie ohnmächtig vor Angst, „bitte hören Sie auf! Ich habe es mir anders überlegt!“

„Ha“, lachte er gnadenlos. „Zu spät! Ich bin schon bereiter als bereit!“

Da zerrte er an seiner Hose und Bella wich noch weiter zurück, als sich sein erigiertes Glied in ihr Blickfeld drängte. Instinktiv wusste sie, dass es sich dabei um jenen Pfahl handelte, von dem Madame Aury gesprochen hatte. Ihre Furcht steigerte sich ins Unermessliche und sie wandte verschämt den Kopf ab.

„Bitte“, wiederholte sie entsetzt, als er aus der Hose stieg.

Rücksichtslos packte er sie und warf sie aufs Bett. Er war zu schwer, um ihm zu entkommen, deswegen schloss sie die Augen und stellte sich vor, er wäre ein anderer: ein Mann ohne Gesicht. Sie fand keine Erklärung dafür, aber auf diese Weise war die Qual leichter zu ertragen.

In jener Stunde lernte Bella, wie sich tödlicher Hass anfühlte. Eine Feindseligkeit, die, gepaart mit Ekel und Verachtung, die Kraft hatte, ihr Herz von ihrer Umwelt abzuschotten.

Als Madame Aury, nachdem er gegangen war, neben ihr auf dem Bett saß und ihre Hand hielt, hatte Bella begriffen, was ihre Lehrerin zuvor gemeint hatte. Dies alles geschah einem anderen Mädchen, nicht ihr. Bella war das Mittel zum Zweck, eine Persönlichkeit, die sie nach Belieben formen konnte. Die Eigenschaften besitzen würde, die Summer nie gehabt hatte. Die bis zur letzten Konsequenz bereit war, sich zu rächen. Die niemals weinte, da ihr Herz derart hart war, dass jeder Kummer an ihm abprallte. Die für sie sorgen, sie beschützen würde, weil kein anderer es tat. Weil es niemanden auf dieser Welt gab, dem sie vollkommen vertrauen konnte.

„Erinnere dich ein Leben lang an Mr Delane“, erklärte Madame Aury und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Denn so wie er sind sie alle. Kalte, lüsterne Tiere. Begehren sie dich, hast du Macht über sie und sie können dir nichts anhaben.“

Bella verstand. Heute hatte sie die wichtigste Lektion ihres Lebens gelernt: Es gab keine Liebe auf dieser Welt und um zu überleben, musste man die Oberhand gewinnen.

Madame Aury zählte einen stattlichen Packen an Geldscheinen auf das Nachtkästchen.

„Für den Anfang gar nicht übel“, lächelte sie mit einem Zwinkern, dann griff sie in ihre Tasche und zog eine feingliedrige Halskette hervor, an der ein Anhänger in Schuhform baumelte. Schweigend legte sie Bella die Kette um und diese strich mit den Fingerkuppen darüber.

„Behalte sie“, forderte die Ältere das Mädchen auf. „Sie soll dich immer an diese Nacht erinnern.“

Bella nickte und schwor sich, die Kette niemals abzulegen.

Am nächsten Tag brachte Madame Aury einen jungen Mann namens Morgan und Belinda, jenes Mädchen, das Bella am vergangenen Abend beim Auskleiden geholfen hatte, zu ihr ins Zimmer.

„Mo und Belinda werden dich alles lehren, was sie wissen. Sei eine aufmerksame Schülerin und lass dich zu einer scharfen Waffe formen!“

Bella schluckte unbehaglich und hielt das Laken, in welches sie sich mangels anderer Kleidung eingewickelt hatte, verlegen vor ihrer Brust zusammen. Die Ereignisse der letzten Nacht lagen ihr nach wie vor schwer im Magen.

Nachdem Madame Aury gegangen war, senkte sich Stille über die Anwesenden.

„Also“, durchbrach Belinda das Schweigen, „ich werde dir zeigen, wie du den Essigschwamm einsetzt. Es ist wichtig, dass du ihn stets frisch machst und jederzeit trägst.“

„Wozu soll das gut sein?“, wollte Bella verwirrt wissen.

Sie meinte, eine unsichtbare Grenze überschritten zu haben und dabei in eine andere Welt geraten zu sein. Das Leben, welches sie bis gestern geführt hatte, war so weit weg wie ein surrealer Traum.

„Du willst doch nicht schwanger werden?“

„Oh!“ Röte schoss Bella in die Wangen. „Und letzte Nacht? Da habe ich keinen gehabt.“

„Das Risiko des ersten Mals“, offenbarte Belinda mitfühlend. „Dir bleibt nur zu hoffen, dass es keine Auswirkungen hat.“

Oh nein! Obwohl Bella in Zusammenhang mit der Empfängnis bisher vollkommen ahnungslos gewesen war, stellte sie augenblicklich eine Verbindung zu der vergangenen Nacht her. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich hatte sie kein Kind von diesem Rohling empfangen! Sie biss sich ratlos auf die Unterlippe.

Mo warf sich auf einen Stuhl und blickte gelassen aus dem Fenster, während Belinda sie an ihrem Wissen teilhaben ließ. Mit geröteten Wangen lauschte Bella ihren Ausführungen. In Gegenwart eines Mannes über die intimsten Regionen eines Frauenkörpers zu sprechen, war an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Ein Thema, das normalerweise sogar Frauen untereinander vermieden.

Als Belinda fertig und Bellas Schwamm platziert worden war, wandte sich Mo den Frauen wieder zu, erhob und entkleidete sich. Sofort drehte Bella verlegen den Kopf weg.

„Schau her“, befahl er freundlich. „Du musst einen Mann immer ansehen! Und zwar so, als wärest du sowohl von seiner Manneskraft als auch von seinem Körperbau überwältigt.“

Zögernd kam Bella seiner Forderung nach und suchte seinen Blick. Ein spöttisches Lächeln umspielte seinen Mund.

„Na los, versuche es! Stell dir vor, ich wäre Apoll!“

Bella konnte ein kurzes Auflachen nicht verhindern und hob eine Hand über ihre zuckenden Lippen. Mo war mittelgroß und schlaksig, weit entfernt von dem Heldenleib eines muskelbepackten griechischen Gottes.

„Gaanz schlecht“, stellte er fest und Belinda kicherte.

„Also gut!“ Bella holte tief Luft und bemühte sich um Konzentration.

Mit gespielter Bewunderung musterte sie ihren Lehrmeister.

„Du siehst aus wie ein liebeskranker Vogel. Belinda, hast du das gesehen?“

„Ja, habe ich! Soll ich dir zeigen, wie ich es mache?“

„Ich bitte darum!“

Belinda kam behände auf die Füße und verwandelte sich vor ihren Augen von dem netten Mädchen zu einer verführerischen Sirene mit wiegenden Hüften. Bella kam aus dem Staunen nicht heraus, sah, wie die Frau nur durch ihren Blick eine körperliche Reaktion bei Mo hervorrief.

„Wenn sie mich so ansieht, kann ich gar nicht anders“, erklärte der junge Mann entschuldigend.

Bella blieb der Mund offen stehen.

„So, jetzt heißt es kurz abwarten, bis sich mein gutes Stück beruhigt hat. Dann bist du wieder an der Reihe.“

„Ich könnte in der Zwischenzeit einen Witz erzählen“, schlug Belinda vor, die jene Rolle der Circe von einer Sekunde auf die nächste abgelegt hatte. Bella entspannte sich das erste Mal seit dem Moment, als sie Harry neben Prinzessin Elizabeth entdeckt hatte.

Im Laufe der nächsten Tage lernte Bella alles über die Kunst zu verführen und einem Mann Lust zu bereiten. Man brachte ihr bei, zu flirten und mit welchen Gesten man die Aufmerksamkeit eines Gentlemans erregt. Belinda und Mo lehrten sie alles über die Anatomie beider Geschlechter und wie man das Verlangen eines Mannes steigern konnte.

Nach einer Woche bat Mr Delane um Bellas Begleitung ins Theater. Sie wollte vehement ablehnen, doch Madame Aury erinnerte sie an ihre Rache. Deswegen stimmte Bella zu, begleitete den verhassten Mann und warf ihm verliebte Blicke zu. Für die junge Frau war es unfassbar, dass er auf ihr Schauspiel hereinfiel. Jede seiner Gesten vermittelte den Eindruck, dass er sich ob ihrer Aufmerksamkeit geschmeichelt fühlte. Wie von selbst wurde sie seine Kurtisane und er schenkte ihr diamantbesetzte Ohrringe, ein Armband. Dann kaufte er ihr eine eigene Wohnung und führte sie täglich aus, wobei stets jene Orte gemieden wurden, an denen die feine englische Gesellschaft verkehrte. Trotzdem gab es Überschneidungspunkte mit Bellas alter Welt. Dieser Umstand beunruhigte Bella nicht sonderlich, da sie Summer, die vor einigen Wochen von einer Brücke in die Themse gesprungen war, nicht mehr ähnelte. Summer war tot. Zumindest hatte Bella diese tief in sich begraben.

Manchmal, wenn sie einsam an einem Fenster ihrer Wohnung stand und in die Dunkelheit hinausblickte, überfiel sie Heimweh. Obwohl sie ihre Eltern früher kaum gesehen hatte, vermisste sie diese derzeit schmerzlich. Doch sie gestattete sich immer seltener, der Vergangenheit nachzutrauern und verbannte die Erinnerungen tiefer in ihr Inneres. Mit jedem weiteren Tag, der verging, gelang es ihr besser und sie schnitt sich kontinuierlich von ihrer Gefühlswelt ab. Damit stärkte sie Bella, die bald den kompletten Raum in ihr einnahm.

Bei einem Hauskonzert, welches Madame Aury in ihrem Salon ausrichtete, traf sie ein halbes Jahr später den Earl of Luxerley, der ihr sofort verfallen war. Da Mr Delane ihre Nerven mit jedem weiteren Tag mehr strapaziert hatte (er war anhänglich wie ein kleiner Hund), gab sie ihm den Laufpass und wurde Luxerleys Kurtisane. Er war gutaussehend, unverschämt reich und ein angenehmer Gesellschafter. Während einer Nacht an seiner Seite hatte sie nahezu vergessen, dass er für ihre Dienste bezahlte und ihn fast gebeten, sie zu küssen. Zum Glück hatte sie sich rechtzeitig besonnen und sich diesen Wunsch verweigert. Davon hatte er gar nichts mitbekommen. Drei Wochen später hatte er sich von ihr getrennt, was Bella zutiefst in ihrem Stolz kränkte. Deswegen beschloss sie, in Zukunft nie zu lange bei demselben Mann zu bleiben. Sie war diejenige, die verließ. Nicht umgekehrt.

Das Herz der Kurtisane

Подняться наверх