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Im Sommer davor

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Marlene betrat vorsichtig Massimilianos Atelier. In seinem Kopf und unter seinen Händen entwickelte sich eine neue Idee. Diese Zeitspanne war heikel, das wusste sie. Dann und wann war er so absorbiert von seinen Gedanken, dass eine Störung unabsehbare Folgen haben konnte. Ein einziges Mal, vor vielen Jahren, hatte sie in einer solchen Phase ahnungslos sein Reich betreten. Sie hätte es grün und blau verlassen, wenn Massimilianos Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, nicht so hoch wäre. Das war ihr eine Lehre gewesen.

Mit dem Raum konnte sie sich nicht anfreunden, auch wenn sie um seine ausserordentliche Geschichte wusste. Der Marchese Rosales hatte den gewaltigen, mehrere Stockwerke hohen Blashochofen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erbauen lassen, um die italienischen Freiheitskämpfer mit Eisen für die Waffenherstellung zu versorgen. Dass es gescheiter war, dieses Vorhaben nicht an die grosse Glocke zu hängen, lag auf der Hand. Deshalb errichtete er zur Tarnung ein stattliches Haus um den Ofen herum. Spätere Umbauten machten aus dieser Tarnung ein bewohnbares Objekt. Der Hochofen befand sich nach wie vor gut versteckt im Inneren. Das hatte ihn davor bewahrt, von den Einheimischen in seine schönen, exakt behauenen Quader zerlegt und als Baumaterial verwendet zu werden.

Vor dessen riesigem Schlund mit dem gemauerten Rundbogen sass Massimiliano. Marlene erkannte Anzeichen von Entspannung, möglicherweise hatte er den fiebrigen Arbeitsdrang überwunden, weil sich seine Energie nun auf ein Ziel richten konnte. Sie wagte es, einige Schritte auf ihn zuzugehen, und sah erleichtert, dass er sie anlächelte und sich erhob. Sie reichte ihm eines der beiden Gläser mit sizilianischem Weisswein.

«Es ist alles eine Frage der Relation.» Er deutete ein Zuprosten an.

Sie musterte ihn fragend.

«Das Weltall sei unendlich, die Entfernungen unvorstellbar. Per l’amor di Dio, das ist doch völliger Blödsinn!»

«Warum?», fragte Marlene.

Er rang die Hände, sodass der Wein überschwappte. «Siehst du diese Fliege?» Massimiliano deutete auf eine Stubenfliege, die durch den Raum surrte. «Ich frage dich: Was bedeutet für sie der Begriff Unendlichkeit? Ihre Welt ist dieses Haus, ihr Universum das Tal. Sie weiss, dass es hinter den Bergen ringsherum vielleicht weitergeht, aber sie hat keine Vorstellung von anderen Tälern, sie weiss nichts vom Meer oder davon, dass die Erde rund ist.»

Marlene lächelte. «Du meinst, sie macht sich dieselben Gedanken über die Unendlichkeit wie wir?»

«Ja!» Massimiliano verweigerte sich dem leicht ironischen Tonfall. «Und wenn sie es tut, geht sie von anderen Grössenverhältnissen aus.» Er blickte in Marlenes Gesicht und erkannte, dass sie seinen Gedankengängen nicht folgen konnte. Er trank einen Schluck und dachte nach, bevor er neu begann. «Stell dir vor, du wärst eine Darmbakterie.»

«Eine Darmbakterie!», rief Marlene verblüfft. «Ich versuche es. Ich bin eine Darmbakterie.»

«Wo fängt deine Welt an, wo hört sie auf?»

«Im Bauch eines Menschen?»

«Nein!» Massimiliano schüttelte den Kopf, dass der Steinstaub aus seinen Locken flog. «Du hast doch keine Ahnung, dass du dich in einem Bauch befindest. Von einem Menschen hast du noch nie etwas gehört. Also, wo fängt deine Welt an, wo hört sie auf?»

«Hm …», überlegte Marlene. «Im Vergleich zur Nahrung, die durch den Darm befördert wird, bin ich winzig. Ich denke, ich bin in einem bestimmten Abschnitt des Darms zu Hause und verarbeite immer wieder neue Nahrung, die an mir vorbeizieht.»

«Ja, ja, ja!», rief Massimiliano begeistert. «Vielleicht hast du gehört, dass es irgendwo ein Tor gibt, durch welches die Nahrung kommt. Das erzählt man sich über die paar Meter Darm oberhalb von dir, es ist eine Legende. Noch nie ist irgendjemand durch das Tor getreten.»

Marlene liess sich von seiner Leidenschaft anstecken. «Genauso wissen die Darmbakterien unterhalb, dass es irgendwo ein Tor gibt, durch das die verarbeitete Nahrung das Universum verlässt. Man erzählt es sich seit Generationen, aber niemand hat es je gesehen.»

«Niemand, der es je gesehen hat, ist zurückgekehrt», korrigierte er, «deshalb kann niemand erzählen, wie es hinter dem Tor aussieht.»

«Du meinst, das Universum der Darmbakterie ist der Darm?», fragte Marlene. «Der Urknall ist der Anfang beim Magenausgang?»

«Genau!» Massimiliano lachte. «Und der Schliessmuskel ist das Jüngste Gericht.»

Marlene stimmte ein. «Was bedeutet es für die Darmbakterien, wenn jemand Durchfall hat?»

«Dann ist das eine Naturkatastrophe», folgerte er. «Eine Überschwemmung, ein Murgang, ein Ereignis, das viele Opfer fordert.»

«Eine Antibiotikakur?»

«Oh, daran gehen noch viel mehr Darmbakterien zugrunde. Fast alle! Antibiotika sind wie die Pest.»

«Einige überleben immer», merkte Marlene an, «das war bei der Pest auch so.»

«Richtig», stimmte Massimiliano zu. «Sie wissen nicht, was passiert ist und weshalb sie verschont wurden, während ihnen ihre Liebsten genommen wurden. Was machen sie also?»

Marlene hob fragend die Augenbrauen.

«Was machen die Menschen, wenn sie sich etwas nicht erklären können?», drängte er. «Wenn sie dankbar sind, dass sie von etwas nicht heimgesucht wurden, das ausserhalb ihrer Macht steht?»

«Sie vermuten, dass Gott dahintersteckt», begriff Marlene.

Massimiliano nickte eifrig. «Ja, ja, ja! Sie beten!»

Sie nippte am Glas und grinste. «Und wie, du göttliches Wesen, willst du die Darmbakterien in Stein meisseln?»

Er blieb ernst, sein Blick ging in die Weite. «Jedes noch so kleine Teilchen ist ein Universum. Jedes dieser Universen ist Bestandteil eines grösseren Universums. Jede Unendlichkeit ist für das grössere System endlich. Es gibt immer ein grösseres System.»

«Vielleicht.»

«Sicher! Alles, was irgendwo fertig ist, geht jenseits dieses Punkts auf eine andere Art weiter. Es gibt kein Ende.»

«So, wie man zu jeder Zahl noch eins dazuzählen kann?», fragte sie.

Er nickte. «Ich habe eine Idee. Nein», korrigierte er sich, «ich habe eine Ahnung einer Idee. Ich habe einen Funken in meinen Gedanken, der noch nicht greifbar ist. Er muss sich erst festigen, er muss sich Platz verschaffen.» Er nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es zu seinem auf den Boden vor dem Ofenloch. «Komm!», sagte er und fasste sie bei der Hand. «Ich brauche Luft, Raum, Weite.»

Marlene lächelte ihn an und liess sich bereitwillig mitziehen.

Tod in Andeer

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