Читать книгу Tod in Andeer - Juon Rita - Страница 13
5 September 2019
Оглавление«Nichts.»
«Wie, nichts?», fragte Meta Schäfer ungehalten durchs Telefon. Der Fundort war inzwischen geräumt, die tote Frau abtransportiert worden. Niemand der dort Anwesenden, weder Polizisten noch Rettungsdienst, Ärztin oder Finderin, kannten das Opfer. Sie und Walter Buess, die nach wie vor in Andeer beschäftigt waren, hatten deshalb ihren jungen Kollegen Camenisch auf dem Posten in Thusis beauftragt, die Vermisstmeldungen durchzugehen.
«Nichts, eben. Es wird keine Frau vermisst, auf die eure Beschreibung passt.»
«Wie soll das möglich sein?» Meta verdrehte die Augen. «Irgendjemand wird sie doch vermissen, wenn sie vor ein paar Tagen in den Fluss gefallen ist!»
«Du brauchst mich nicht anzuschnauzen», parierte der Jüngere. «Es ist, wie ich sage. Lass besser deine Fantasie walten, um herauszufinden, wer sie sein könnte.»
Meta verzog das Gesicht, verkniff sich aber eine giftige Bemerkung. «Wir werden im Dorf herumfragen müssen», meinte sie.
«Ja, aber das wird wenig bringen. Dort wissen inzwischen alle, dass eine tote Frau gefunden wurde. Wenn sie jemand vermissen würde, hätten wir das inzwischen erfahren.»
«Ausser, sie hat in einer Ferienwohnung gelebt. Moment, ich rufe dich gleich nochmals an.»
Walter Buess war herangetreten und hatte ihre letzten Sätze mitbekommen. «Sie wird bisher nicht vermisst», mutmasste er.
«Genau», bestätigte Meta Schäfer.
«Immerhin habe ich gute Nachrichten», fuhr Buess fort. «Die Untersuchung des Fundorts hat ergeben, dass sie höchstwahrscheinlich von der Brücke aus in den Rhein gestürzt ist.»
«Woher will der kriminaltechnische Dienst das wissen?», fragte sie.
«Bei der Brücke handelt es sich um eine Hängebrücke», erläuterte der Kollege. «Sie ist aber eher zweckmässig als schön konstruiert. Bei der Befestigung der Tragseile gibt es Metallstifte, die abstehen.»
«Ja, das habe ich gesehen.» Meta nickte.
«Offenbar haben sie dort Fäden oder Spuren von Stoff gefunden, ich weiss es nicht so genau. Grasgrün, wie die Jacke der Frau, und vermutlich aus dem richtigen Material.»
«Vermutlich?»
«Die definitive Bestätigung steht noch aus, aber es spricht alles für einen Sturz von der Brücke.»
«Das ist immerhin etwas», meinte Meta Schäfer. «Höchste Priorität hat jetzt, herauszufinden, um wen es sich bei der Toten handelt. Wir brauchen ihr Bild, um herumzufragen. Hotels, Läden, Mineralbad. Ferienwohnungen. Postautochauffeure.»
«Zunächst Andeer und flussaufwärts, also auch Rofflaschlucht, die Dörfer im Rheinwald und im Avers. Dann abwärts bis und mit Thusis.» Buess schaute auf die Uhr. «Stgier und Demont sind bereits hier, Meuli und Domenig treffen jeden Moment ein. Wir teilen das Gebiet unter uns auf.»
«Camenisch soll die italienischen Kollegen fragen, ob sie etwas wissen. Vorderhand informell. Die Grenze ist nah, sie könnte aus Italien gekommen sein. Ausserdem soll er uns ein passables Foto schicken.»
«Sie sah nicht mehr besonders passabel aus, das wird schwierig», seufzte Buess.
«Wir brauchen das Foto nicht für eine Shampoowerbung, man muss sie nur erkennen können!»
Buess schaute sie strafend an. «Lass mich raten. Du hattest heute Abend etwas vor, und jetzt wird dir klar, dass wir die Sache hier nicht bis zum Feierabend abschliessen können. Habe ich recht?»
«Ja», gab Meta widerwillig zu.
«Trag es mit Fassung. Der gemütliche Abend lässt sich später nachholen.» Er verkniff sich ein Grinsen. «Ausserdem werden wir bis spät abends hier beschäftigt sein, und bis dann ist die Wut deines Gatten verraucht.»
«Auch das stimmt», sagte Meta. «Ich hatte mich allerdings wirklich auf diesen Besuch gefreut.» Nicht zuletzt deshalb, weil der jüngste ihrer drei Söhne ihr mit seinen pubertären Launen gehörig auf die Nerven fiel, doch das erwähnte sie nicht. «Aber egal. Machen wir uns an die Arbeit.»
«Nichts.»
«Wie, nichts?» Annetta schaute ihren Enkel über ihren Kaffee Fertig hinweg an.
Beni vermutete, dass es der zweite war an diesem Sonntagnachmittag, denn die Nana war auf der Jagd nach Neuigkeiten vom «Weissen Kreuz» weitergezogen ins Hotel Fravi. Er war, nachdem er via Mobiltelefon nichts hatte in Erfahrung bringen können, ebenfalls hierhergekommen. Er vermutete, dass sich die Leute der Polizei oder der Gemeindebehörde am ehesten da einfinden würden.
«Man weiss nichts», präzisierte Beni. «Bisher hat sich nicht herumgesprochen, wer die tote Frau ist.»
«Vielleicht weiss man noch gar nicht, um wen es sich handelt», überlegte einer der anderen Gäste am Tisch.
«Eine Auswärtige, meinst du?» Annetta runzelte die Stirn. «Eine Touristin, die bei diesem Wetter am Rhein spazieren ging? Wohl kaum.»
Die Mutmassungen der Handvoll Leute zogen sich eine Weile hin, ohne nennenswerten Erfolg. Bald wandte man sich einmal mehr den Abschüssen auf der Hochjagd zu, von denen man erfahren hatte.
Schliesslich machte sich Annetta auf den Heimweg, während Beni bei einem Kollegen vorbeischauen wollte. Als er am späten Nachmittag nach Hause kam, traf er seine Nana in Gedanken versunken am Küchentisch sitzend an.
«Die Polizei sollte im Dorf herumfragen, wer das sein könnte», teilte sie Beni ihre Schlussfolgerung mit. «Die Einheimischen wissen am ehesten, um wen es sich handeln könnte.»
«Auf diese Idee werden sie bestimmt selbst kommen, wenn sie es auf andere Weise nicht herausfinden.»
«Die Frage ist, ob sie schlau genug sind, die Person zu fragen, die am ehesten Bescheid weiss.» Sie musterte ihn prüfend.
«Und wer wäre das, deiner Meinung nach?» Beni hatte bei aller Neugier allmählich genug von dem Thema. Sein Magen knurrte, und er überlegte, ob in seinem Teil des Kühlschranks wohl noch etwas Vernünftiges zu finden war. Ein grosses Stück Fleisch zum Beispiel. Das Knurren wurde lauter.
«Du.»
«Was, ich?», fragte er abwesend. Offenbar hatte er etwas verpasst. Besser wäre er ein bisschen aufmerksamer, dann konnte er der Nana vielleicht wenigstens eines ihrer Schnitzel abschwatzen, die sie immer vorrätig hatte. Er fürchtete, dass abgesehen von ein paar Eiern gähnende Leere herrschte in seinem Hoheitsgebiet.
«Du bist die Person, die am ehesten Bescheid weiss, wer die Tote sein könnte», erklärte sie ungeduldig.
Beni schaute verdattert auf. «Ich? Wieso denn?»
«Überleg doch mal», wies sie ihn an. «Welcher Briefkasten quillt über, weil er seit ein paar Tagen nicht geleert worden ist? Welche Frau, von der du die täglichen Gewohnheiten kennst, hat diese in letzter Zeit unterlassen? Was ist dir auf deiner Tour Ungewöhnliches aufgefallen?»
«Ich habe keine Ahnung, sonst hätte ich das längst gesagt», antwortete Beni abwehrend.
«Du hast nicht genug darüber nachgedacht», stellte Annetta fest. «Das holen wir jetzt nach.»
«Jetzt?»
«Jawohl.»
«Jetzt habe ich in erster Linie Hunger», widersprach Beni.
«Bei deinen Vorräten herrscht gähnende Leere, ausser Spiegeleiern oder Teigwaren mit Tomatensauce kannst du dir nichts kochen.»
Warum erstaunt es mich nicht, dass sie das besser weiss als ich?, fragte sich Beni.
«Ich trete dir ein Schweinsfiletspiesschen ab und teile mit dir die Spätzli, die ich noch zum Aufwärmen habe.» Die Geräusche aus Benis Körpermitte waren auch für Annetta nicht mehr zu überhören. «Du kochst, ich frage, du antwortest, ich wasche ab.»
Beni kapitulierte. In Windeseile stellte er zwei Bratpfannen auf den Herd und zwei Teller auf den Tisch, würzte, brutzelte und wendete, während ihn Annetta ihrem Verhör unterzog. Systematisch ging sie mit ihm seine Tour durch. Als er die beiden Pfannen auf den Tisch stellte und sich reichlich schöpfte, war sie längst noch nicht fertig. Mit vollem Mund gab er ihr weiter Auskunft.
«Beim Herrschaftshaus mit dem elenden Köter ist also alles wie immer, sagst du», setzte Annetta die Unterhaltung fort. «Beim katholischen Friedhof?»
«Dort gibt es keinen Briefkasten.»
Annetta verdrehte die Augen. «Auch ohne Briefkasten kann etwas ungewöhnlich sein.»
«Dort ist nichts ungewöhnlich», stellte Beni klar. «Alles wie immer.»
«Beim Haus Rosales?»
«Auch dort …» Beni stutzte.
«Was ist los beim Haus Rosales?», drängte die Grossmutter.
«Gestern und heute waren dort verschiedene Autos zugegen», berichtete Beni. «Ein Lieferwagen aus Zürich, von einer Kunstgalerie, glaube ich. Ein schwarzer Tesla mit Bündner Nummer und einem diskreten Logo auf der Tür.»
Annetta musterte ihn aufmerksam. «Haben sie ein wertvolles Kunstwerk gekauft?»
«Nein. Zwei riesige Pakete wurden in den Lieferwagen eingeladen. Ich musste kurz warten, bevor ich wieder abfahren konnte. So bekam ich mit, dass die Galerie zwei Bilder eines französischen Künstlers gekauft hat.»
«Handeln sie neuerdings mit Kunst?», fragte sich Annetta.
Beni zuckte die Achseln. «Muss nicht sein. Vielleicht richten sie sich nur neu ein.»
«Ein schwarzer Tesla mit diskretem Logo», überlegte Annetta. «Vielleicht eine Anwaltskanzlei. Oder eine Vermögensberatung, ein Treuhänder. Waren der Bildhauer und seine Frau dort?»
«Nein.» Beni runzelte die Stirn. «Ich habe nur die Haushälterin gesehen. Den Mann treffe ich sowieso selten an, aber die Hausherrin ist häufig bei ihren Pferden. Seit ein paar Tagen habe ich sie aber nicht gesehen.»
«Sie verkaufen wertvolle Bilder, die abgeholt werden, wenn sie nicht da sind?», zweifelte Annetta.
«Daran ist nichts Besonderes», meinte Beni. «Sie werden sich zum Verkauf entschlossen haben, den sie nun durch eine Fachperson abwickeln lassen, das ist alles.»
«Kann sein», gab ihm die Nana widerstrebend recht. «Vielleicht sind sie zusammen verreist, während das Haus neu eingerichtet wird.»
«Nicht zusammen, glaube ich», widersprach Beni. «Sie habe ich am Mittwoch zum letzten Mal gesehen. Sein Auto war am Donnerstag und am Freitag noch hier.»
«Das ist eigenartig», stellte Annetta fest.
«Das muss gar nichts heissen», entgegnete er. «Sie kann vorausgegangen sein, er folgte ihr ein paar Tage später. Dafür kann es hundert Gründe geben.»
«Sicher», stimmte Annetta zu. «Aber wenn gleichzeitig eine Frau im Rhein ertrinkt und Kunstwerke abtransportiert werden, könnte es eben doch etwas heissen.»
Zwei Kaffees und eine halbe Schokolade später hatte sie Beni so weit, dass er bei der Polizei anrief.
«Warum hast du nicht gesagt, dass du sie kennst?», fragte der Stallknecht und nahm einen tiefen Zug.
«Ich spreche nicht mit der Polizei.» Blanka verschränkte die Arme.
«Ihre Fragen waren etwas eigenartig», überlegte er.
«Nein», widersprach sie. «Sie werden überall herumfragen, bis sie herausfinden, wer sie war. Das ist alles.»
«Schon, ja. Aber sie fragten auch nach dem Chef und der Chefin. Sie wussten, dass die beiden ausgezogen sind und dass Sachen aus dem Haus verkauft werden.» Er musterte sie eindringlich. «Woher wussten sie davon? Jemand muss es ihnen gesagt haben.»
«Schon möglich. In diesem Dorf wird viel geredet», meinte sie verächtlich.
«Eben. Deshalb frage ich mich, ob es eine gute Idee war, nicht zu sagen, dass du sie kennst.»
«Schweigen ist immer eine gute Idee.»
«Blanka!» Er wandte sich ihr zu. «Früher oder später werden sie herausfinden, wer die Frau ist. Dann wird ihnen klar sein, dass du gelogen hast.»
«Ja, und?», fragte Blanka trotzig.
«Meine Güte, dann steckst du in der Scheisse!»
«Warum?» Blanka wedelte den Rauch vor ihrem Gesicht weg. «Ich habe nichts mit ihrem Tod zu tun.»
«Das werden sie aber vermuten, wenn das herauskommt.»
«Ja, und?», wiederholte sie. «Sollen sie vermuten. Es wird ihnen nichts bringen.»
Der Stallknecht rang die Hände. «Sobald sie erkennen, dass du gelogen hast, bist du geliefert, begreif das doch!»
«Ich wüsste nicht, weshalb.» Sie schüttelte den Kopf. «Die Frau ist im Rhein ertrunken. Ich habe nicht gesagt, dass ich sie gekannt habe. Das ist alles.»
Der Knecht bemühte sich um einen geduldigen Tonfall. «Sie wurde tot im Flussbett gefunden. Sie müssen untersuchen, was passiert ist. Sie werden annehmen, dass sie unglücklich ausgerutscht und ertrunken ist. Aber wenn sie herausfinden, dass du sie gekannt und gelogen hast, werden sie vermuten, dass du viel mehr weisst. Vielleicht sogar, dass du sie in den Fluss gestossen hast.»
«Was spielt das für eine Rolle?», fragte Blanka. «Ich kann sie nicht gestossen haben, ich war hier.»
«Sie werden versuchen, dir das anzuhängen. Du bist verdächtig, begreif das doch!»
Blanka seufzte. «Ich hätte sagen können, dass ich sie erkenne. Dann hätten die Polizisten weitergefragt, weiter und immer weiter.» Sie faltete die Hände im Schoss. «Sie würden hier keinen Stein auf dem anderen lassen. Ich habe aber gesagt, dass ich sie nicht kenne. Die Polizei wird anderswo suchen und früher oder später herausfinden, wer sie ist. Mit etwas Glück werden sie davon ausgehen, dass sie niemanden im Dorf gekannt und nur einen Ausflug gemacht hat.»
«Das wird nicht der Fall sein», gab der Stallknecht zu bedenken. «Sobald sie wissen, wer sie ist, werden sie herausfinden, dass sie die Chefin gekannt hat.»
«Vielleicht.»
«Dann steckst du in der Scheisse!», wiederholte er.
«Dann wird einige Zeit vergangen sein. Du wirst vielleicht schon nicht mehr hier sein.»
Der Stallknecht betrachtete sie nachdenklich. «Du würdest alles für sie tun», stellte er fest. «Wirklich alles.»
«Ja.»
«Warum?»
Blanka schaute ihn lange an. Dann schüttelte sie den Kopf.