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Im Frühling davor

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Marlene übte sich in Gelassenheit. Nicht aufregen, nicht kontern, nicht die Beherrschung verlieren. Am besten wäre es, nicht zuzuhören, aber das war nicht so einfach. Von Zeit zu Zeit warf die andere eine Frage ein. Sollte sie darauf keine Antwort wissen, ging das Gejammer mit erhöhter Frequenz von vorne los.

«Du hast es gut», sagte Roos zum gefühlten hundertsten Mal. «Du hast ein tolles Haus, einen Mann, der dich anbetet, zwei schöne Pferde. Was möchtest du mehr?»

Zum Beispiel meine Ruhe, dachte Marlene. Dass du aus meinem Leben verschwindest. Nie wieder etwas von dir zu hören, das wünsche ich mir sehnlichst. Sie hatten einen Spaziergang gemacht und sassen nun auf einer Bank. Der Schnee hatte sich bis zu den Bergspitzen zurückgezogen, das Grün setzte sich auf den Wiesen allmählich durch, rundum wuchs und blühte alles. Sie hatte im Schams ihr Paradies gefunden, sie fühlte sich im von hohen Bergen umgebenen Talkessel geborgen wie ein kleiner Schwan unter dem Flügel seiner Mutter. Ihr Glück wäre vollkommen, dachte Marlene frustriert, wenn Roos von einem Traktor überfahren, in der Rofflaschlucht den Wasserfall hinunterstürzen, im nahen Steinbruch von einem Granitbrocken erschlagen, auf welche Art auch immer vom Teufel geholt würde. «Was ist mit …» Wie hiess er doch gleich?

«Alex?», kam ihr Roos zu Hilfe. «Alex hielt nicht, was er versprach. Ich habe alles für ihn getan. Alles. Er hat es nicht gewürdigt. Ich kann nicht mit einem Mann zusammenleben, der nicht schätzt, was er an mir hat. Er …»

Marlene kannte die Fortsetzung, sie brauchte nicht weiter zuzuhören. Der Text war nach dem Abgang von Alex derselbe wie zuvor bei Hans, Gabriel, Mike und wie sie alle geheissen hatten. Ohnehin zweifelte sie daran, dass auch nur ein einziger von ihnen je existiert hatte.

«… über den Sommer wieder nach Kroatien …»

Marlene horchte auf.

«Das Klima tut mir gut. Natürlich wäre die Côte d’Azur die bessere Wahl, die Leute in Frankreich sind so nett, und die französische Küche bekommt mir besser. Aber Frankreich ist teuer. Bescheidenheit ist eine Tugend, sagt man. Ich werde häufig selbst kochen in Kroatien, ich kann es mir nicht leisten, immer auswärts zu essen.»

Vielleicht wird sie in Kroatien von einem Hai gefressen, dachte Marlene.

«Eigentlich kann ich mir den Aufenthalt in Kroatien trotzdem kaum leisten.»

Oder von einem Geldtransporter platt gedrückt.

«Das Leben ist so teuer geworden, ich komme kaum über die Runden.»

Oder von einer Fähre gerammt.

«Für das Billett nach Andeer habe ich das Geld nehmen müssen, das ich für Sandalen beiseitegelegt hatte.»

Oder von einem Tintenfisch in die Tiefe gezogen.

«Es fällt mir so unsagbar schwer, dich darum bitten zu müssen», seufzte Roos.

«Komm, gehen wir zurück.» Marlene erhob sich von der Bank. Keine Minute länger würde sie es aushalten, neben der anderen zu sitzen. Jetzt, da das Thema angeschnitten war, bestand die Hoffnung, dass sich der Besuch seinem Ende näherte.

«Bitte geh nicht so schnell!» Roos keuchte.

Marlene verlangsamte ihre Schritte. In spätestens zwei Stunden musste Roos das Postauto zum Tal hinausnehmen. Sie begann, die Minuten zu zählen.

Tod in Andeer

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