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4 September 2019
ОглавлениеWalter Buess und Meta Schäfer sassen im Polizeiauto und freuten sich darüber, dass zum ersten Mal seit Tagen die Intervallschaltung der Scheibenwischer ausreichte. Sie waren zusammen auf Patrouillenfahrt und rechneten mit einem ruhigen Sonntag. Buess war wie immer sorgfältig rasiert, und zwar nur, weil er sich ärgerte, dass seine Barthaare seit einigen Jahren in Grau sprossen. Seiner Ansicht nach passte das nicht zu seinem nach wie vor roten Haarschopf. Meta Schäfer, die wie er noch rund fünfzehn Jahre bis zur Pensionierung vor sich hatte, zog ihn immer wieder gerne mit seiner Eitelkeit auf.
Als sie in Thusis ihren Dienst angetreten hatten, waren sie sich rasch einig gewesen, ins Schams zu fahren. Die Viamalaschlucht, die das Tal von Thusis trennte, bot nach Regenfällen in der Regel einen beeindruckenden Anblick, den sie sich nicht entgehen lassen wollten. Ausserdem brauchte Meta Schäfer ein Geschenk für die Bekannten, bei denen sie und ihr Mann zum Abendessen eingeladen waren, und das wollte sie in der Konditorei in Andeer besorgen. Die Cagliatschatürmli, die hier seit bald siebzig Jahren hergestellt wurden, schienen ihr geeignet. Im Übrigen gefiel ihr der Name, er war eine Herausforderung für alle Auswärtigen.
Dazu kam es allerdings nicht. Als sich die beiden in der Viamala befanden, erreichte sie die Meldung von der Auffindung einer Toten in der Nähe von Andeer. Meta antwortete sofort, sie seien fast schon vor Ort und würden sich um den Fall kümmern. Eilig stiegen sie die Treppen aus der Schlucht hoch zum Parkplatz und in ihr Auto. Meta diktierte Buess, der auf dem Beifahrersitz sass, die Nachricht an ihren Mann, er müsse sich selbst um ein Geschenk bemühen, und steuerte Andeer an. Dass ihr Gatte ungehalten auf die Anweisung reagieren würde, konnte sie sich unschwer ausmalen, aber sie verdrängte den Gedanken lieber. Deshalb ahnte sie nicht, dass er wütend dachte, ein wenig Provokation könne nicht schaden, und trotzig in den kurdischen Laden ging, wo er als Gastgeschenk eine Schachtel der klebrigen Süssigkeiten kaufte, die sie verabscheute.
Zwei rote Flecken zierten die faltigen Wangen der älteren Dame, die die Entdeckung gemacht hatte. Aufgeregt unterhielt sie sich mit der Ärztin, die von der Einsatzzentrale der Polizei nach dem Eingang der Meldung aufgeboten worden und die noch vor Buess und Schäfer vor Ort angekommen war.
Die Ärztin hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt und fror erbärmlich. Sie hatte weder einen Schirm noch eine Kapuze, ihre Haare kräuselten sich bereits im leichten Regen. Bis wir hier fertig sind, wird sie aussehen wie ein Pudel, dachte Meta Schäfer.
«Ich konnte nicht ganz bis zu ihr gelangen», berichtete die Ärztin. «Sie ist wahrscheinlich seit mehr als einem Tag tot, so, wie sie aussieht. Offenbar verfing sich einer der Füsse in den Steinen am Ufer, und der Baumstamm, den das Unwetter heranführte, klemmte ihr Bein so ein, dass sie nicht abgetrieben wurde, sondern hier stecken blieb.»
«Ob sie wohl hier ins Wasser gefallen ist?», fragte sich Buess.
«Keine Ahnung.» Die Ärztin zuckte die Achseln. «Die sichtbaren Verletzungen können vom Sturz in den Fluss stammen oder aber vom Geröll oder den Stämmen, die das Wasser in diesen Tagen mit sich führt. Sie kann von dieser Brücke gefallen oder irgendwo weiter oben in den Rhein gelangt sein, das kann ich nicht beurteilen.»
Mit Blaulicht und Sirene näherten sich weitere Einsatzfahrzeuge. Während die Bergungsarbeiten ihren Lauf nahmen, setzte sich Meta Schäfer mit den beiden Frauen in ihr Polizeiauto. Der Pudel brauchte sich nicht auch noch eine Erkältung zu holen, fand sie, und die ältere Dame machte zwar einen robusten Eindruck, sollte aber besser nicht unnötig strapaziert werden.
Die Nachricht, bei der Brücke zum Granitwerk sei etwas passiert und die Polizei sei zahlreich vor Ort, verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Dorf. Ursin und Frederik erschienen als Nummer fünf und sechs am Fundort, zusammen mit ein paar anderen Kindern. Sie versuchten verzweifelt, etwas zu sehen, wurden aber von den Polizisten angeschnauzt. Wie eine Hundemeute schlugen sie einen Bogen, um sich von der anderen Seite zu nähern. Sie kletterten auf die Granitblöcke vor dem Steinverarbeitungsbetrieb, um bessere Sicht zu haben, aber es nützte alles nichts. Sie erkannten die Ärztin und Annetta Baselgia, die ältere Frau aus dem Dorf. Auch den einen oder anderen Polizisten hatten sie schon gesehen. Hören konnten sie indessen nichts, und da ihnen niemand berichtete, was vor sich ging, liessen sie ihrer Fantasie freien Lauf. Ob wohl ein Auto in den Rhein gefallen war? Ein Tier? Ein Mensch?
«Vielleicht ein Selbstmörder», mutmasste einer.
«Bestimmt nicht, du sturnicel», erwiderte ein anderer. «Von dieser Brücke springt keiner, um sich das Leben zu nehmen, sie ist ja kaum ein paar Meter hoch.»
«Selber sturnicel!», wies ihn der erste zurecht. «Er könnte irgendwo weiter oben gesprungen und hier angespült worden sein.»
Zum wiederholten Male wandten sie sich an den Polizisten, der sie nicht näher herankommen liess, und fragten ihn, ob sie mit ihrer Vermutung richtig lagen. Wie nicht anders zu erwarten, verweigerte er jegliche Auskunft, was sie aber nicht abschreckte.
«Ist ein Auto in der Rhein gefahren?»
«Sassen Leute drin?»
«Hat man etwas gefunden? Geld oder so?»
«Oder geht es um eine Kuh oder ein Pferd?»
Der Polizist hatte grosse Lust, die Bengel mit einem Schuss in die Luft gehörig zu erschrecken, beherrschte sich aber. Ein Freund und Helfer schiesst nicht in die Luft, ermahnte er sich. Zumal diese Aktion wohl nur noch mehr Halbwüchsige angezogen hätte. Er schimpfte eine Tonlage höher. Die Wirkung blieb aus. Genervt stellte er fest, dass aus dem Dorf zwei weitere Kinder angerannt kamen, gefolgt von ein paar neugierigen Erwachsenen. Das konnte ja heiter werden.
«Ein Leichenwagen!», schrie ein Mädchen, das er bisher in der Gruppe nicht bemerkt hatte.
«Ein Toter.» – «Keine Kuh.» – «Ein Toter.» – «Ein Unfallopfer.» – «Ein Selbstmörder.» – «Ein Toter.» – «Eine Tote!»
Die ersten Schaulustigen kehrten ins Dorf zurück, um die Kunde zu verbreiten. Andere zückten das Mobiltelefon, um Fotos zu schiessen, die sie an die Nachrichtenportale schicken konnten. Die Erwachsenen gaben sich gelassener, waren aber nicht weniger erregt als die Kinder. Innert kurzer Zeit wussten alle in Andeer von dem Fund, und nur wenige Stunden später hatte sich die Neuigkeit überregional verbreitet.
Niemand nannte ihn Logistiker Distribution, obwohl das die korrekte Bezeichnung für seinen Beruf gewesen wäre. Er war für alle der Briefträger. Benedetg nannte ihn ebenfalls kaum jemand, auch wenn er so hiess. Für die allermeisten war er Beni, einzig für seine Grossmutter war er hie und da Benedetg. Nämlich dann, wenn sie ihm die Leviten las. Das hätte er ihr heimzahlen können, indem er sie Tatta gerufen hätte, wie alle anderen Grossmütter im Schams genannt wurden. Dazu fehlte es Beni freilich an Streitlust, er nannte sie stets Nana Annetta, wie sie das wünschte, weil sie ihrer eigenen Nana sehr zugetan gewesen war.
Seit bald zehn Jahren bildeten Beni und Annetta die WG Baselgia. Kurz nach seinem vierzehnten Geburtstag war es zwischen seinen Eltern zum Krach gekommen, worauf seine Mutter aus dem Tal weggezogen war. In der Folge hatte Annetta ihren Sohn einen tgapatalpas genannt, und zwar so laut und deutlich, dass auch die nicht Romanischsprachigen in der Nachbarschaft begreifen mussten, dass sie ihn als Dummkopf beschimpfte. Seither sprachen sie zwar nach wie vor miteinander, jedoch selten ein freundliches Wort. Benis Vater hatte den Fehler gemacht, auch zu Hause den Mund nicht zu halten und in Benis Gegenwart über dessen Mutter und Grossmutter herzuziehen. Beni, ein harmoniebedürftiges Wesen, kam damit nicht lange zurecht. Bald ging er nur noch zum Schlafen nach Hause und später nicht einmal mehr das. Er packte seine Sachen und zog bei Annetta ein. Ob sein Vater seinen definitiven Exodus bemerkte, entzog sich seiner Kenntnis. Es dürfte ihm spätestens dann klar geworden sein, als die Nana ihn aufsuchte und ihm mitteilte, dass Beni sein Kostgeld fortan bei ihr abliefern werde, nicht mehr bei ihm.
In der Wohngemeinschaft waren die Rechte und Pflichten klar definiert, etwas anderes liess Annettas Sinn für Ordnung und Struktur nicht zu. Unumstösslich war die Regel, dass die privaten Zimmer gegenseitig nicht betreten wurden. Kein plötzliches Auftauchen, um etwas zu fragen, kein Zutritt während der Abwesenheit des Mitbewohners oder der Mitbewohnerin, auch nicht für die Reinigung, die in den übrigen Räumen Annetta erledigte und die auf Benis Konto beim Aufwand aufgeführt wurde. Geld musste er dafür freilich keines in die Hand nehmen, die Schuld glich er mit kleinen Pflichten im Haushalt aus, vor allem aber durch die Zuständigkeit für das Brennholz. Das alte Haus wurde hauptsächlich durch einen Kachelofen im Wohnzimmer und einen Schwedenofen in der Küche geheizt, die mit Unmengen von Holzscheitern befüllt werden mussten.
An diesem Sonntag schlief Beni nach einem deftigen Ausgang am Vorabend bis in den Nachmittag hinein tief und fest. Als er endlich wahrnahm, dass Annetta laut an seine Zimmertür pochte und ungeduldig seinen Namen rief, glaubte er zu träumen. Das war noch nie passiert, es verstiess gegen ihre Prinzipien. Folglich musste das Erdgeschoss unter Wasser stehen, ein Terrorkommando eingedrungen oder ein Meteorit aufs Dach gefallen sein oder all das gleichzeitig. Er schälte sich aus der Decke und eilte zur Tür.
«Bei der südlichen Brücke liegt eine Leiche im Rhein, und ich habe sie gefunden!», berichtete Annetta.
Trotz der vorabendlichen Eskapaden war Beni hellwach. Diese Eigenschaft gehörte zu den Anforderungen an einen Logistiker Distribution. Sofort war ihm klar, dass es keinen Sinn hatte, sich mit dummen Fragen aufzuhalten. Bist du sicher? Was hast du dort gemacht? Warst du bei der Polizei? Alles überflüssig. Stattdessen: «Wer ist es?»
«Ich weiss es nicht. Eine Frau, aber ich habe nicht genug von ihr gesehen, um sie erkennen zu können.»
«Das wird man bald erfahren. Haben die Leute des Alpenclubs geholfen, sie zu bergen? Sie gehen nachher sicher ins ‹Weisse Kreuz›.»
Annetta widersprach. «Der Alpenclub musste nicht helfen, die Polizei hat das selbst geschafft. Die ist mit allem aufmarschiert, was geradeaus gehen kann.»
«Sie werden wohl ihre Vermisstmeldungen durchgehen, dann wissen sie schnell, um wen es sich handelt. Gewiss eine Selbstmörderin», mutmasste Beni.
«Jedenfalls möchte ich es erfahren. Ich gehe ins ‹Weisse Kreuz›.»
«Mach das», stimmte Beni zu und griff nach seinem Smartphone. «Ich frage die Kollegen, ob jemand etwas weiss.»