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2 September 2019
ОглавлениеUrsin und Frederik gingen morgens bei leichtem Nieselregen, der rasch stärker wurde, zur Schule. Da die Tagundnachtgleiche nicht mehr weit war, brachte der Regen eine empfindliche Abkühlung mit sich. Das unfreundliche Wetter hielt sie davon ab, nach der Schule erneut nach Gold zu suchen. Es hinderte sie sogar daran, ans andere Ende des Dorfs zu laufen und dem Mittelsmädchen ihr Anliegen zu schildern. Sie schoben die Bestellung der Goldwaschrinne und der Waschpfanne auf und rührten den gefundenen Rucksack nicht an, der immer noch unter dem Dach im Stall lag.
Nicht nur die Buben zogen sich in die angenehme Wärme ihres Zuhauses zurück. Kaum jemand ging bei diesem Wetter freiwillig nach draussen. Auch die Hundehalterinnen und -halter verzichteten auf ausgedehnte Runden. Stattdessen zogen sie die Kapuzen tief in die Stirn, trieben ihre Vierbeiner zur Eile an und stemmten sich so kurz wie möglich gegen den Wind.
Ein einziger einsamer Fussgänger benutzte an diesem Donnerstag die schmucklose Hängebrücke, die einige hundert Meter vor dem südlichen Dorfeingang den Hinterrhein überquerte. Er war so beschäftigt mit der Frage, wie er seiner Frau erklären sollte, wo das Geld geblieben war, das sie für den Kauf neuer Vorhänge beiseitegelegt hatte, dass er weder nach rechts noch nach links schaute. Auch nicht hinunter ins Flussbett des Hinterrheins.
Massimiliano hatte den Brief im lila Umschlag zunächst nicht geöffnet. Er hatte sich auf das Sofa in der Eingangshalle sinken lassen und sich nicht wieder daraus erhoben. Blanka hatte ihm trockene Kleider und eine Suppe gebracht, die inzwischen erkaltet auf dem kleinen Tischchen neben der Armlehne stand. Er befand sich im freien Fall in die tiefste Schwärze, die er je empfunden hatte. Marlenes Worte im Brief bestätigten seine schlimmsten Ahnungen. «Mein Geliebter», stand da. Der Schmerz war durch seinen Körper gefahren, die Worte vor seinen Augen verschwommen. «Vielleicht bin ich eine verirrte Seele, für die der Zeitpunkt gekommen ist, weiterzugehen. Die an einen anderen Ort getrieben wird und in einer anderen Gestalt einen neuen Anfang machen muss.» Erst viel später hatte er die Kraft gefunden, den Brief zu Ende zu lesen. «Die Erde ist rund, damit alle Wege wieder zum Anfang führen», lautete der letzte Satz. Massimiliano verstand ihn so, dass sie ihn verliess, um zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Ihm erschloss sich nicht, dass der rätselhafte Text genauso gut die Möglichkeit eines Wiedersehens andeuten könnte. Zu tief unten befand er sich bereits in seiner Verzweiflung.
Als es dunkel wurde, brachte ihm Blanka eine Tasse Tee und einige belegte Brote. Auch diese rührte er nicht an.
Im schwachen Licht einer kleinen Wandlampe verbrachte er die Nacht auf dem Sofa. Nur kurz döste er von Zeit zu Zeit, stundenlang hielt ihn der Schmerz über Marlenes Verlust wach. Er schaffte es nicht, in ihr gemeinsames Schlafzimmer hinaufzugehen, wo ihm Marlenes Kleider, ihr Duft, das Buch auf ihrem Nachttisch ihr Verschwinden ins Gesicht schreien würden. Zuerst wurde ihm klar, dass er die Kraft dazu für lange Zeit nicht aufbringen würde. Später beschloss er, sich dieser Herausforderung nicht zu stellen, weder jetzt noch irgendwann.
Sobald es am Freitagmorgen hell wurde, rief er seinen Treuhänder an, erreichte aber nur den Telefonbeantworter. Geistesabwesend wählte er immer und immer wieder die Nummer, bis der Mann endlich abnahm und versprach, sich sofort auf den Weg nach Andeer zu machen.
Blanka brachte ihm einen Kaffee, den er in einem Zug leerte. Sie erschrak bei seinem Anblick, Massimiliano war über Nacht um Jahre gealtert.
«Sie ist fort», sagte er und deutete mit dem Kinn auf den Brief. «Für immer», fügte er stockend hinzu. Die Worte laut auszusprechen, zerstörten den letzten Funken Hoffnung, sie liessen den Verlust real werden. «Die Pferde», fügte er hinzu.
Blanka verstand. Sie machte sich auf den Weg zu den Haflingern, wo der Stallknecht bereits an der Arbeit war, und überbrachte ihm die traurige Nachricht. Auf dem Rückweg zum Haus stellte sie fest, dass der Treuhänder inzwischen eingetroffen war. Er hatte neben Massimiliano auf dem Sofa in der Eingangshalle Platz genommen, offenbar war dieser nach wie vor nicht in der Lage, sich in einen anderen Raum zu begeben.
Die Männer besprachen sich kurz miteinander, dann zog sich der Treuhänder ins Esszimmer zurück, wo er diverse Telefongespräche führte. Geraume Zeit später setzte er sich wieder zu Massimiliano und erklärte ihm, dass alles nach seinen Wünschen machbar sei.
Der Hausherr wies ihn an, Blanka und den Stallknecht zu holen. Blanka brachte zwei Stühle aus dem Esszimmer mit, die sie vor das Sofa stellte.
«Marlene ist fortgegangen», begann Massimiliano. «Ohne sie bleibe ich nicht hier.» Er warf dem Treuhänder einen auffordernden Blick zu.
«Herr Ferrero wird sofort nach Italien umziehen. Seine Familie besitzt ein Haus auf dem Land, ein ehemaliges Bauerngut in der Nähe von Assisi. Herr Ferrero wird sich vorläufig dort niederlassen. Unsere Firma hat den Auftrag erhalten, das Haus hier zu räumen und das gesamte Mobiliar zu veräussern. Der Mietvertrag mit der Familie Ordogno de Rosales wird aufgelöst. Sie kümmern sich vorderhand um die beiden Pferde», wandte er sich an den Stallknecht. «Wir werden den Züchter anweisen, einen neuen Platz für sie zu finden. Sie, Blanka, sind bitte hier, bis das Haus leer ist.»
Massimiliano hörte nicht mehr zu. Eine Stimme in seinem Kopf rief unaufhörlich: «Marlene ist weg, Marlene ist weg!» und übertönte damit alles, was um ihn herum gesagt wurde.
Das schlechte Wetter hielt sich auch am Samstag hartnäckig. Ursin und Frederik waren es leid, im Haus herumzusitzen. Die unangenehme Temperatur hielt sie zwar davon ab, die Goldsuche im Hinterrhein fortzusetzen, nicht aber davon, das Mittelsmädchen am anderen Ende des Dorfs aufzusuchen. Enttäuscht stellten sie fest, dass dort niemand zu Hause war. Eingehüllt in ihre Regenjacken schlenderten sie zurück. Sie hatten es nicht eilig, nach Hause zu gehen. Hier streichelten sie eine Katze, dort lauschten sie Gitarrenklängen, weiter vorne drückten sie die Nase an der Fensterfront des Mineralbads platt. Im Dorfladen deckten sie sich mit Süssigkeiten ein, die sie unter dem Vordach verzehrten. Irgendwann hatten sie alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die Zeit totzuschlagen. Sie trotteten wohl oder übel heimwärts.
Daria, das Mittelsmädchen, bekam von alldem nichts mit. Sie wäre glücklich gewesen, hätte sie den Buben bei der Durchführung ihres Vorhabens helfen können. Stattdessen war sie in Chur und langweilte sich zu Tode. Ihre Mutter hatte sie mitgeschleppt, um ihr Winterschuhe zu kaufen, was in zehn Minuten erledigt gewesen war. Aber seit über zwei Stunden zog die Mutter sie von einem Laden zum anderen hinter sich her, weil sie für sich noch dies und das brauchte.
Immerhin stand sie im Trockenen, während eine ihrer Freundinnen in Andeer schlotternd im Freien unterwegs war. Deren Mutter hatte es nicht mehr ausgehalten mit der Halbwüchsigen, die zu Hause herumlungerte. Sie hatte sie vor die Tür geschickt und ihr befohlen, mit dem Hund die grosse Runde zu drehen. Wenn sie weniger als eine Dreiviertelstunde draussen sei, werde sie ihr blaues Wunder erleben, hatte sie gedroht. Die Tochter war schimpfend aufgebrochen, aus Trotz ohne die biedere rote Windjacke. Das Smartphone hatte sie hingegen eingesteckt, und mit diesem erzählte sie einer anderen Freundin seit zehn Minuten, ihre Mutter sei ja so doof. Sie lamentierte immer aufgebrachter und war so vertieft in das Gespräch, dass sie weder nach links noch nach rechts schaute. Auch nicht von der Brücke, auf der sie vor dem Dorf den Rhein überquerte, hinunter ins Wasser.
Blanka gesellte sich zum Stallknecht, der in der Remise rauchte.
«Kommen heute schon die ersten Händler wegen der Möbel?», fragte er. Sie stammten zwar beide aus Osteuropa, aber aus verschiedenen Ländern, weshalb sie sich auf Deutsch unterhielten.
«Nein», antwortete Blanka. «Heute ist Samstag, die treffen frühestens am Montag ein.»
Er nickte und nahm einen tiefen Zug.
«Soweit ich weiss, hat der Treuhänder mehrere Firmen angefragt, italienische und schweizerische», fuhr sie fort. «Antikschreiner und Antiquitätenhändler.»
«Ich wüsste nichts anzufangen mit dem alten Zeug.»
«Du hättest für Jahre ausgesorgt, wenn du es verkaufen würdest. Manche der Möbelstücke sind Zehntausende wert.»
«Zehntausende?», fragte er ungläubig.
«Bestimmt. Ganz zu schweigen von den Bildern. Wegen diesen war heute Morgen bereits der Treuhänder mit einem Kunsthändler hier.»
Alarmiert schaute er sie an. «Der Chef wird doch nicht das Porträt seiner Frau verkaufen, das er gemalt hat?»
«Nein, nein», beruhigte ihn Blanka. «Der Händler hat zwei der abstrakten Bilder von einem berühmten Künstler mitgenommen.»
«Schade, dass die Pferde verkauft werden», seufzte er. «Sie haben es schön hier und fühlen sich wohl. Die Chefin hat sich jeden Tag stundenlang um sie gekümmert. Ich hoffe, sie kommen wieder an einen guten Platz.»
«Was wirst du machen?»
«Ich weiss es nicht. Lange werde ich nicht hier bleiben können ohne Arbeit, das Leben ist teuer in der Schweiz. Und du?» Er drückte seine Zigarette in einem eigens dafür aufgestellten Blumentopf aus. In der Erde steckte ein Stein, auf den Marlene das Gesicht eines Rauchers gemalt hatte.
«Ich weiss es auch nicht.» Blanka zuckte die Achseln. «Es wird eine Weile dauern, bis das Haus leer ist. So lange bleibe ich hier.»
Der Stallknecht beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sich ihr Gesicht verschloss. Kämpfte sie mit den Tränen? Sie hatte nie etwas über ihre Vergangenheit verraten. Er wusste nur, dass sie die Chefin schon sehr lange kannte. Weit länger als deren Mann. Woher die beiden gekommen und wo sie zuvor gewesen waren, entzog sich seiner Kenntnis. «Ich begreife immer noch nicht, was eigentlich passiert ist», meinte er stirnrunzelnd. «Plötzlich war sie weg.»
«Sie wird ihre Gründe haben.»
«Ich glaube, der Chef weiss auch nicht, warum sie gegangen ist.»
«Wahrscheinlich nicht. Immerhin hat sie ihm einen Brief hinterlassen. So weiss er wenigstens, dass sie weggegangen und nicht verunglückt ist.»
«Ein Unglück ist es auch so», stellte er richtig. «Er war am Boden zerstört. Wahrscheinlich ist er es immer noch.»
«Ja, es geht ihm furchtbar schlecht. Jetzt ist er in dem grossen Haus in Italien. Weiss der Himmel, was er dort macht, allein.»
«Er wird arbeiten, denke ich», mutmasste der Knecht. «Steine behauen, bis er zusammenbricht.» Nachdenklich strich er sich übers Kinn. «Gehst du zu ihm, wenn das hier fertig ist?» Mit einer Handbewegung deutete er auf Haus und Hof.
«Er hat nicht nach mir verlangt.»
«So weit konnte er bestimmt nicht denken», meinte er ungeduldig. «Schreib ihm! Biete ihm deine Dienste an. Oder geh einfach zu ihm, bring ihm die letzten Sachen persönlich vorbei. Er wird dich nicht wegschicken.»
«Er gibt alles weg, das ihn an seine Frau erinnert. Er wird auch mich nicht mehr sehen wollen», gab Blanka traurig zu bedenken.
«Das soll er selbst entscheiden.» Er wandte sich Blanka zu und musterte sie eindringlich. «Aber um entscheiden zu können, muss er überhaupt erst darüber nachdenken. Fahr zu ihm, wenn du hier fertig bist, und frag ihn. Bis dann wird einige Zeit vergangen sein. Ich bin sicher, er wird froh sein, dich zu sehen. Er wird dankbar sein, dass du bei ihm bleiben willst.»
Sie betrachtete ihn zweifelnd.
«Gib nicht auf», sagte er nachdrücklich. «Kämpfe!»