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Im Frühling davor

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Massimiliano legte seiner Frau die schmutzige Hand auf die Hüfte. «Ist deine Freundin gegangen?», fragte er.

Sie wandte sich ihm lächelnd zu und fuhr mit der Hand durch seine Locken. Vom Steinstaub waren sie mehr grau als schwarz, er kam direkt aus der Werkstatt. «Ja, sie ist weg.»

«Hat sie wie immer einen Umweg gemacht zur Postautohaltestelle?»

«Ja, sicher», bestätigte Marlene. «Sie hat solche Angst vor Hunden! Ihre Begegnung mit dem Hund vom herrschaftlichen Gut bei der Holzbrücke wird sie wohl nie vergessen.»

«Kein Wunder, das ist wirklich ein unangenehmes Tier», meinte Massimiliano.

«Ich weiss, aber mehr als kläffen kann er eigentlich nicht. Ausser den Leuten einen zünftigen Schrecken einzujagen. Bei Roos hatte er ein leichtes Spiel, sie fürchtet sich vor allem, was vier Beine hat.» Sie zuckte die Achseln. «Jedenfalls meidet sie diesen Weg, als würde er direkt ins Verderben führen. Lieber geht sie über die südliche Hängebrücke und dann zurück ins Dorf, oder sie steigt in Bärenburg ins Postauto ein.»

«Ich begreife nicht, dass ihr Freundinnen seid. Sie ist so anders als du.»

«Klein, dick, hässlich?», fragte sie schalkhaft.

«Das nicht gerade. Weniger gross, weniger schlank, viel, viel weniger schön.» Er betrachtete sie nachdenklich. «Du bist Leben, Freude, Tatkraft. Sie ist nichts davon.»

«Stimmt», bestätigte sie leichthin. «Immerhin geht es ihr jeweils besser, wenn sie geht, als bei ihrer Ankunft. Und allzu oft kommt sie ja nicht.»

«Du hast ein grosses Herz.»

«Es gehört dir!» Sie legte seine Hand auf ihre Brust.

Er zog sie an sich. «Was hast du heute noch vor?»

«Rate mal.»

«Reiten?», fragte er lächelnd.

«Ja, reiten», bestätigte sie und löste sich aus seiner Umarmung. «Geh zurück in deine Werkstatt. Ich spüre, dass es dich in den Fingern juckt.»

«Das tut es wirklich», stimmte er zu. «Das Licht fällt gerade richtig, in einer Stunde steht die Sonne zu tief. Jetzt ist der Farbton warm, kraftvoll wie der Herbst. Der grüne Granit scheint zu schmelzen in den Strahlen. Er will, dass ich ihn bearbeite.»

«Geh schon», sagte sie lachend. «Folge den Wünschen deines Steins. Ich folge den Wünschen meiner Pferde.»

Sie sattelte das Kleinere der beiden und machte sich auf den Weg bergauf. Roos’ Besuch hatte sie stärker aufgewühlt, als sie sich anmerken liess. Marlene hatte es gründlich satt, ihr immer wieder finanziell unter die Arme zu greifen. Nicht, weil sie es sich nicht leisten könnte. Die Beträge waren nie so gross, dass es ihr wehtat, sie herzugeben. Roos war schlau genug, diese Grenze zu kennen. Sie vermied es, mit einer zu hohen Forderung einen Konflikt zu provozieren. Solange die Geldsumme kein ernsthaftes Problem für Marlene darstellte, würde sie bezahlen, das war Roos klar.

Ohne zu überlegen, war sie zur Burgruine Cagliatscha geritten, in deren Nähe Tom hauste. Der junge Mann lebte hier allein in einem ausgebauten Maiensäss. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Fahrer mit unregelmässigem Pensum bei einem Transportbetrieb im Tal, seine Leidenschaft gehörte seinen beiden Schäferhunden, mit denen er jeden Tag trainierte. Da seine Ansprüche bescheiden waren, fielen die Kosten für seinen Lebensunterhalt gering aus. Umso weniger Zeit er zum Arbeiten brauchte, umso mehr hatte er für seine Hunde. Und für seine wenigen Freunde, mit denen er ab und an durch die Lokale zog. Marlene kannte ihn, weil er an einer ihrer bevorzugten Reitrouten wohnte. Sie mochte ihn und seine Hunde, er mochte sie und ihre Pferde.

Tom lächelte sie an, als sie den Haflinger zum Stehen brachte. Allzu nah kam sie nicht, denn neben Tom stand einer seiner Hunde, aufmerksam und mit jeder Faser seines Körpers bereit, den nächsten Befehl auszuführen. Tom rief ihm die Anweisung zu. Der Hund rannte los und verschwand im Haus.

Marlene beobachtete das Geschehen neugierig. Sie wusste, dass Toms Tiere allerlei Tricks beherrschten. Überrascht lachte sie auf, als der Hund mit einem Paar Cervelats in der Schnauze aus der Tür schoss. Vor Tom blieb er stehen und hob den Kopf, sodass sich dieser kaum bücken musste. Er nahm die Beute in Empfang und prüfte, ob sie Bissspuren aufwies. Es gab keine, der Hund war behutsam genug vorgegangen. Tom lobte ihn und fischte eine Belohnung aus seiner Hosentasche.

«Ist das das neuste Kunststück?», fragte sie.

«Nein, das kennt er schon lange», antwortete er. «Wir müssen es immer wieder üben, damit er nicht verlernt, wie sanft er mit den Würsten umgehen muss. Schliesslich sind sie mein Abendessen, nicht seines.» Er schüttelte eine Zigarette aus dem zerknitterten Päckchen und fragte sie nach dem Befinden ihres Pferdes.

Die kurze Unterhaltung mit Tom liess ihren Ärger verrauchen. Als sie zurückritt, war Roos fast vergessen.

Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden, es wurde kühl. Massimiliano sass vor dem Haus auf der Bank und schien nicht zu bemerken, dass er fröstelte. Sie überliess das Pferd der Obhut des Stallknechts und stellte sich vor Massimiliano. «Ist die Skulptur vollendet?», fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. «Ohne Sonnenlicht ist der Stein nur noch Stein. Kühl und abweisend. Er will sich nicht auf mich einlassen. Ganz anders, als wenn er vom warmen Licht beschienen wird. Dann ist er bereit und willig. Aber die Sonne ging unter, ich musste aufhören.»

«Komm mit ins Haus», forderte sie ihn auf. «Hier holst du dir eine Erkältung.»

Verwundert stellte er fest, dass er erbärmlich fror, und erhob sich von der kalten Steinbank.

Marlene kannte die Anzeichen. In dieser Phase hörte die reale Welt für Massimiliano auf zu existieren. Seine Gedanken drehten sich unablässig um sein Schaffen, Entspannung gab es kaum. In ein paar Tagen würde sein Werk vollendet sein. Sofern es zu seiner Zufriedenheit gelang, würde er für kurze Zeit glückselig sein. Danach kam die Erschöpfung und mit ihr die grosse Leere. Er würde sie an seiner Seite brauchen, um nicht in die Dunkelheit abzustürzen. Sollte die Skulptur hingegen nicht befriedigend ausfallen, würden ihn zunächst Wut und Verzweiflung heimsuchen. Auch das nicht für lange, und auch in diesem Fall würde er sie nötig haben, um sich gegen die Dämonen zu wehren, die ihn in die Tiefe ziehen wollten.

Tod in Andeer

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