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Instabile Identität – eine auf Ersatzhandlungen und Kompensationen aufgebaute Pseudo-Identität

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Definition und Abgrenzung Ersatzhandlung und Kompensation Vorab müssen die Begriffe Ersatzhandlung und Kompensation, die sehr häufig im Buch verwendet werden und eine zentrale Bedeutung sowohl innerhalb der identitätsgemäßen Problematik wie im tagtäglichen Leben der Menschheit einnehmen, beleuchtet werden. Ersatzhandlung wird im Kontext mit der Psyche allgemein als eine Handlung angesehen, die an die Stelle der eigentlich gewollten bzw. laut menschlichen Bauplan vorgesehenen respektive benötigten tritt, wenn diese durch Verdrängung oder äußere Umstände nicht ausgeführt werden kann. Der Impuls und Antrieb für die originär gewollte Handlung wechselt zu einem anderen, häufig dem ursprünglichen Ziele nicht verwandten Ersatzziel, das entsprechende Ersatzbefriedigung bringen soll. Kompensation wird als Ausgleich oder Ersatz eines Defizits und Mangels (real existierend oder nur vermeintlich) in einen anderen Lebens- oder Verhaltensbereich (Ausweichen) oder durch andere Fähigkeiten definiert. Alternativ, und im identitätsgemäßen Kontext sehr passend, kann Kompensation überdies als Trostpflaster, Entschädigung, Gegengewicht, Wiedergutmachung, Neutralisierung (eines Mangels) und Genugtuung bezeichnet werden.

Im Zusammenhang mit der identitätsgemäßen Problematik müssen die Begriffe erweitert werden, da sie als Reaktion auf Frustrationen zu sehen sind, die durch eine Verletzung der lebensbestätigenden Erfüllungsmuster im Kindesalter entstehen. Diese Erfüllungsmuster müssen in einem laut menschlichen Bauplan vorgegebenen Regelprozess ablaufen.

Ist derlei nicht der Fall, dann bauen sich eine diesbezügliche lebenslange Sehnsucht (bildlich: je nach Ausmaß der Frustration ein mehr oder minder großes Hungergefühl) und der Versuch auf, alternativ gestillt zu werden. Jene nicht aus freien Stücken initiierte und in der Regel unbewusste Suche nach Gleichartig- und Wertigkeit des ursprünglichen Grundbedürfnisses führt zur Ersatzhandlung und Kompensation.

Ersatz- und Kompensationshandlungen sind demnach Zwangshandlungen.

Weil Ersatzhandlungen und Kompensationen ein Hilfsinstrument des metaphysischen Prinzips sind und ursächlich die Aufgabe haben, die sich aus der Nichtbefriedigung der Grundbedürfnisse entwickelten Disparitäten, Probleme und Widersprüche zu reduzieren und bestmöglich zu substituieren, um so die generelle Funktionsfähigkeit des Menschen zu erhalten, dienen sie bis zu einem gewissen Grad dem Überlebenstrieb (Elemente des Überlebenstriebes).

Psychisch motivierte Ersatzhandlungen und Kompensationen können zwar jeden Lebensbereich betreffen, ob privater, zwischenmenschlicher, partnerschaftlicher, freizeitgemäßer, sexueller, beruflicher, wirtschaftlicher, politischer, kultureller, karikativer, philanthropischer, altruistischer, zwischenstaatlicher oder religiöser Natur, lassen sich aber alle im Kern auf mangelnde Grundbedürfniserfüllungen und/oder traumatische Erlebnisse in der Kindheit zurückführen.

Da eine Ersatzhandlung und Kompensation die ursprünglich zugrunde liegende, in der Kindheit entstandene Problematik niemals gleichwertig ersetzen und damit beheben kann, bleibt das psychische Defizit weiterhin virulent.

Infolge des gelegten Impetus baut sich im Menschen eine Parallelität der Lebenswirklichkeiten auf (siehe dazu ursächliche und tatsächliche Lebenswirklichkeit), die viel Energie verbraucht, auf Dauer das Leben belastet und zur mehr oder minder starken Beeinträchtigung der Lebensqualität führt. Der Mensch lebt – unbewusst – in einer Parallelwelt.

Ein befriedigendes und von innerer Ruhe geprägtes Leben ist so nicht möglich.

Gerade bei traumatischen Erlebnissen oder sehr intensiven Verletzungen der psychischen Grundbedürfnisse kann sinnbildlich von den Geistern aus der Kinderstube bzw. Kindheit gesprochen werden, die den Betroffenen ein Leben lang immer wieder heimsuchen, ob in Form von Albträumen, vielgestaltigsten Angstzuständen, Auto- und Fremdaggressionen und sonstiger psychischer Reaktionsformen. Die Geister entsprechen dem nach wie vor existierenden Stimulus des ursächlichen, nicht befriedigten Grundbedürfnisses.

Die spezielle Ersatz-/Kompensationshandlungsstruktur eines Menschen kann als individuelle Überlebensstrategie bezeichnet werden.

Ersatzhandlungen und Kompensationen können, wie erwähnt, in jedem Lebensbereich vorkommen, unterscheiden sich aber in ihrem Intensitätsgrad bzw. in ihrer Wertigkeit.

Je stärker ausgeprägt die der Ersatzhandlung zugrunde liegende psychische Störung, ergo je größer das vorhandene psychische Defizit, desto tief verwurzelter der Stimulus, desto dringlicher die Triebkraft, desto höher der Energieeinsatz, desto massiver muss der Ersatzbefriedigungsgehalt sein (um eine Wirkung erzielen zu können) und desto beträchtlicher ist in Folge das Ausmaß bzw. die Dimension der Ersatzhandlung und Kompensation.

Eine Nebenbemerkung: Realistische Zielsetzung einer psychotherapeutischen Behandlung im Falle einer tiefgründigen Persönlichkeitsproblematik, die zwangsläufig jeweilige psychische Reaktionsformen mit korrespondierenden Ersatz- und Kompensationshandlungen hervorruft, ist die Ablösung von die Person und ebenfalls das Umfeld belastenden Verhaltensweisen in gemilderte und moderate, um somit den Alltag für den Leidtragenden wie ihre soziale Umgebung annehmbarer und positiver werden lassen.

Die Systematik ist ähnlich wie bei einer physischen Krankheit, die zwar nicht gänzlich heilbar ist, aber deren Symptome sich eindämmen und erträglicher gestalten lassen.

Zum Beispiel: In Folge einer Behandlung nimmt der bestehende latente Schmerz ab und deshalb kann das bisherige, hoch dosierte und stark schmerzstillende Medikament mit vielen und erheblichen Nebenwirkungen durch eines ersetzt werden, welches sowohl niedriger dosiert wie besser verträglich ist.

Ersatzhandlungen und Kompensationen sind zur sogenannten allgegenwärtigen Normalität geworden und dadurch werden mehrere Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung eine erhebliche Relevanz in der Beurteilung des vorhandenen Zustandes des einzelnen Menschen wie der Gesellschaft im Ganzen hat.

>Wann muss von einer Ersatzhandlung und wann von einer natürlichen Handlung gesprochen werden? >Wie ist dies zu erkennen? >Macht es denn überhaupt einen Unterschied, ob es um eine natürliche oder eine ersatzgemäße Handlung geht, vor allem, wenn das – offensichtliche - Ergebnis praktisch identisch ist? >Wenn ja, worin ist dieser Unterschied zu sehen und welche Bedeutung hat dies für den Betroffenen und für die Gesellschaft? Vorab muss die natürliche Handlung respektive das natürliche Verhalten definiert und damit abgegrenzt werden. Die natürlich initiierte Handlung basiert weitgehend auf der freien Entscheidung, etwas Bestimmtes tun zu wollen und nicht, wenn auch unbewusst, tun zu müssen. Der Mensch hat also die Möglichkeit der freien Wahl, die Handlung dient dem Selbst- und nicht irgendeinem (determinativen) Fremdzweck. Da die Entscheidung nicht auf einem zu kompensierenden psychischen Defizit und dem korrelierenden psychischen Druck basiert, ist die Person von der Aufrechterhaltung und dem Ergebnis der Handlung (Befriedigung) nicht grundsätzlich abhängig und dadurch nicht in ihrer identitätsgemäßen Stabilität und generellen Funktionsfähigkeit gefährdet. Der Mensch kann aus der natürlichen Handlung im Vergleich zur Ersatzhandlung nachhaltig Befriedigung ziehen, nach Beendigung wirklich mit der Handlung abschließen und sich Neuem zuwenden, ohne im Teufelskreis der laufend notwendigen Wiederholungen der Ersatzhandlungen mit ihrem geringen Befriedigungspotenzial gefangen zu werden.

Aus welchen Quellen sich der Impetus für entsprechendes Verhalten und Handeln speist, hat demnach große Auswirkung auf die Ausprägung einer Handlung oder eines Verhaltens, auf die innere Verfassung des Menschen und damit auch auf deren gesellschaftliche Ausstrahlung.

Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, dass der wirkliche Antrieb für eine Handlung egal sei, falls im Endeffekt das Ergebnis nahezu oder vollkommen gleich ist.

Ein Beispiel wäre die Berufswahl, die oftmals auf identitätsgemäßen Hintergründen beruht, weil über die mit dem Berufsbild verbundenen Attributen (Stichwort: gesellschaftliche Aufladung) besondere identitätsstützende (Ersatz) Befriedigungen generiert werden können.

Hier sei der Arzt genannt, der nicht nur Menschen helfen und ein gehobenes wirtschaftliches Niveau erreichen mag, sondern zudem gesellschaftliche Anerkennung, Prestige, Status (überspitzt Halbgott in Weiß) und eine gewisse Macht. Für den Patienten spielt es in der Regel keine Rolle, welche Motive der Arzt für seine Berufswahl hatte, Hauptsache, die Behandlung ist gut und erfolgreich. Erst wenn der Arzt über das Ziel der eigentlichen Behandlung hinausschießen und beispielsweise entgegen dem Arztethos aufgrund einer (unverantwortlichen) Profilierungssucht und eines damit verbundenen Überehrgeizes nicht zugelassene Behandlungsmethoden oder Arzneien anwenden würde, bekäme der identitätsgemäße Hintergrund der Berufswahl für den Patienten eine Relevanz.

Ein weiteres Beispiel wäre der Philanthrop, der sozial Benachteiligte und Bedürftige unterstützt und durch sein Tun bewusst oder unbewusst Bewunderung, Lob, Achtung, Ehrung und Ansehen erreichen will. Hier ist es dem Unterstützten und ebenfalls der Gesellschaft gleichgültig, welche Motive der Philanthrop für sein Handeln ursächlich hat, vielleicht ist nur die Art und Weise, wie er das verteilte Geld ursprünglich erworben hat, ein Thema.

Oder ein Sozialarbeiter, der Entwicklungshilfe in der sogenannten dritten Welt leistet und armen, entrechteten Menschen zur Seite steht. Ob diese Arbeit eigentlich einem identitätsgemäßen Kompensationsbedürfnis nach Anerkennung und Akzeptanz entsprungen ist, interessiert dem Hilfsbedürftigen nachvollziehbarerweise nicht.

Oder der Politiker, der sich nachdrücklich für die Bürger, deren Belange und die gesellschaftliche Gestaltung einsetzt. Ob dieses Engagement nur von der hehren Verantwortung der Gesellschaft gegenüber getragen wird (wie dies in der Regel vorgegeben wird) oder tiefgründig das Bedürfnis nach Macht, Einfluss, Anerkennung und auch Bekanntheit/Prominenz verfolgt wird, interessiert die Menschen erst, wenn es zu Machtmissbrauch und Korruption kommt.

Dies sind Beispiele für Fälle, bei denen der gegenwärtige identitätsgemäße Anlass für eine Ersatzhandlung für die Außenwelt weder eine negative Bedeutung hat noch einen belastenden Faktor darstellt, hingegen oftmals sogar gegenteilig wirkt, indem die Gesellschaft bzw. konkrete Gruppen von dem psychisch-defizitären Antrieb und den daraus resultierenden Handlungen profitieren.

Es darf aber nicht der Fehler der Verallgemeinerung gemacht werden, da sehr oft die Art und Ausprägung der Ersatzhandlung und Kompensation zulasten anderer Menschen, anderer Gruppierungen, der Gesamtgesellschaft und überdies des Betroffenen selbst gehen.

Ein Beispiel wäre gewalttätiges und/oder kriminelles Verhalten, das nahezu immer eine Ersatz- und Kompensationshandlung ist (siehe Kapitel „Entlarvung der Lebenswirklichkeit“, Ursache der Kriminalität). Deren leidtragende Empfänger haben die schädlichen Auswirkungen zu tragen und deshalb ist für sie die Ursache für das jeweilige Handeln zwangsläufig von großer Relevanz.

Auch ist es für die Bekämpfung und Präventivmaßnahmen wichtig, die tatsächliche Ursache und den Hintergrund für eine gesellschaftsschädigende Handlung zu kennen, um richtige Schritte bei der Aufarbeitung setzen zu können und sich nicht nur in symptomgemäßer Kosmetik zu verlieren.

Allgemein beschreibt die angesprochene Ausprägung bzw. Ausbildung einer Handlung, > wie weit, wie intensiv oder sogar exzessiv sie betrieben wird, > ob sie (zumindest in gewissem Ausmaß) von Vernunft und Verantwortungsbewusstsein getragen wird oder durch Unverantwortlichkeit, vordergründiger Gedankenlosigkeit und in der Konsequenz schädlichen Auswüchsen gekennzeichnet ist, > ob sie demnach mit wichtigen, weil nicht zu Problemen oder zerstörerischen Szenarien führenden, Hemmschwellen versehen ist oder sogar Handlungen deshalb von vornherein ausschließt (präventiver Schutzcharakter), weil diese der eigenen Person, der Gesellschaft und der Natur nicht zuzumuten wären oder > ob sie aufgrund des psychisch-defizitären Motives und der damit verbundenen zwangsläufigen Instrumentalisierung der Ratio keiner oder nur einer eingeschränkten Regulierung unterliegt. Das Verhalten von Menschen, die erheblich psychisch gestört sind, mutet oft wie fremdgesteuert an, wobei diese Fremdsteuerung nicht nur in der Instrumentalisierung der Ratio durch die Psyche begründet ist, sondern ebenfalls in der Instrumentalisierung des ursächlichen psychischen Profils vom starken Impetus für Ersatzhandlungen, der aus der psychischen Schädigung hervorgegangen ist. Der wirkliche Zugang zu diesen Menschen ist verwehrt.

Natürlich entsprungene Handlungen haben einen korrektiven, selbstregulativen, reflektierenden und sozialen Charakter, u.a. auch aufgrund der funktionierenden rationalen Kontrolle und eines nicht existenten, zwanghaften, unkontrollierbaren und nach ständiger Befriedigung verlangenden bzw. gierenden Antrieb, der in gewisser Weise ein Eigenleben führt (Parallelität der Lebenswirklichkeiten).

Bei großen, größeren, erheblichen bis extremen psychischen Defiziten und Problemen/Störungen wegen mangelnder Grundbedürfniserfüllungen in der Kindheit muss der Intensitätsgrad der korrelierenden Ersatzhandlung bezüglich der Häufigkeit (Frequenz) wie der Qualität hoch bis sehr hoch sein, um ein ausreichendes Ersatzbefriedigungsniveau erreichen und überdies erhalten zu können.

In jedem Fall steht das Ausmaß der Ersatzhandlung in direkten Kontext zum Ausmaß der psychischen Schädigung. Die Dosierung einer Ersatzhandlung ist demnach abhängig vom Grad der Nicht-Bedürfniserfüllung und der korrespondierenden Frustration. Ist die Entwertung des Menschen sehr hoch, dann ist folglich der Umfang der Ersatzhandlung/Kompensation sehr hoch und umgekehrt.

Und genau hier liegen sowohl die Gefahr und der wesentliche Unterschied einer Ersatz- im Vergleich zu einer natürlichen Handlung wie auch der Grund, weshalb der Ansatz nicht mehr greift, dass der Anlass für eine Ersatzhandlung unbedeutend ist.

Da einerseits mit einer Ersatzhandlung und Kompensation niemals die angestrebte und psychisch notwendige Gleichartigkeit mit den ursprünglichen Grundbedürfniserfüllungen erlangt werden kann (z. B. kann weder ein Partner noch starker Konsum die nicht erlebte Geborgenheit in der Kindheit ersetzen) und das Grundbedürfnis und folglich der diesbezügliche Stimulus noch – unauslöschlich – vorhanden sind, andererseits der Befriedigungsfaktor bzw. -wert einer Ersatzhandlung angesichts des Gewöhnungs-/Abnutzungseffektes automatisch an Wirkung verliert bzw. nachlässt, gerät der Betroffene in eine lebenslange mehrschichtige Abhängigkeit, die ständig viel Energie beansprucht.

Eine Kompensation ist in der Quintessenz ein Krafträuber (die eingesetzte Energie ist größer als das erzielte Ergebnis) und ein Zeichen für Getriebenheit, Druck, Unfreiheit, Instabilität, Labilität, Unselbstständigkeit und Determiniertheit, währenddessen eine natürliche Handlung eine Kraftquelle bildet, die für identitätsgemäßen Substanzaufbau oder Bestätigung, Freiheit, Sicherheit, Selbstständigkeit, Mündigkeit und Unabhängigkeit steht.

Es wird nicht nur für den Aufbau respektive die Strukturierung der Ersatzhandlung oder einer psychischen Reaktionsweise (z. B. Neurose, Psychose) Energie benötigt, hingegen genauso für die Aufrechterhaltung und Verteidigung des Zustandes, weil das bewerkstelligte Pseudogleichgewicht, auch wenn es sehr schwach sein sollte, erhalten werden soll (Stichwort: metaphysisches Prinzip).

Dies ist der Fall, da dieses trotz der Schwäche des Pseudogleichgewichts, auch aus der Gewohnheit heraus, eine gewisse Stabilität, Sicherheit und Berechenbarkeit vermittelt und deshalb die Angst vor dem Verlust besteht.

Die Folge dieses Faktums ist, dass für eine Veränderung der Situation die notwendige Energie fehlt und die psychische Störung weder gebessert noch überwunden werden kann.

Die Mensch-Erklärungsformel (Teil 3)

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