Читать книгу Und ICH bin die Rache - Kai Kistenbrügger - Страница 10
9:03 Uhr
ОглавлениеMit zitternder Hand nahm Alexander Beil das kleine Messgerät entgegen. Das nervige Plärren wurde mittlerweile durch ein hektisch blinkendes Display unterstützt, das aufgeregt eine merkwürdige Zahlenfolge vermeldete.
„Danke“, murmelte er heiser. Er umklammerte das Gerät, als wäre es für ihn unbeschreiblich wertvoll. Langsam schienen seine Lebensgeister zu ihm zurückzukehren.
„Was soll der Alarm?“, fragte Petersen in seiner typisch unverblümten Art. „Wir hätten uns fast in die Hose gemacht, als das Ding losgegangen ist.“
„Das ist eine Erinnerungsfunktion“, erklärte Beil und nahm das Gerät beinahe zärtlich in die linke Hand. Mit einem routinierten Handgriff zog er ein kleines Plastikplättchen und eine kleine Lanzette aus dem unteren Ende des Gehäuses. „Ich muss regelmäßig meinen Blutzuckerspiegel messen.“
„Ach was!“, stellte Petersen verblüfft fest. „Mit Erinnerung? So etwas gibt es tatsächlich?“ Sichtlich beeindruckt starrte er auf das unscheinbare Plastikteil. „So etwas brauche ich auch. Bislang komme ich zwar zurecht, aber ich sollte eigentlich regelmäßig messen.“ Unbewusst streichelte er seine mächtige Wampe. „Wo kann ich so etwas kaufen?“
Beil zuckte desinteressiert mit den Schultern, was für seine Verhältnisse einer überschwänglichen Reaktion gleichkam. „Überall, schätze ich. Mein Gerät wurde mir vom Krankenhaus gestellt.“ Im Vergleich zu seiner Einsilbigkeit vor ein paar Minuten wirkte er wie ausgewechselt, als hätte das Gerät ihn mit dem schrillen Ton endlich wachgerüttelt.
Er drückte sich eine kleine Klinge in den Finger, die am Ende der Lanzette angebracht war, und presste einen Tropfen Blut auf den Teststreifen, tiefrot glänzend in dem fahlen Licht der alten Glühbirne. Beil steckte seinen Finger in der Mund und betrachtete mit einem Hauch von Melancholie, wie sich das Blut langsam verteilte. „Meine Bauchspeicheldrüse macht es wahrscheinlich nicht mehr lange“, sagte er und schob den Teststreifen in das Gerät. „Der Krebs hat inzwischen beinahe alle meine Organe zerfressen. Ich muss ständig meine Werte im Auge behalten, falls sich mein Zustand noch weiter verschlechtern sollte.“
Er sprach unfassbar unberührt von seiner Krebserkrankung, als würde er einen netten Plausch über das Wetter halten. Es fiel Bader schwer zu glauben, seine Krankheit könnte Ursache für seine psychischen Störungen sein. Der Tod seiner Tochter dürfte das entscheidende Erlebnis gewesen sein, das den dünnen Faden zerstörte, an dem sein gesunder Verstand hing. Davon war Bader überzeugt. Er drehte seinen Kopf leicht zu Mahnmann, der mit einem irritierend angewiderten Blick auf die Blutabnahme starrte. Seine Gesichtsfarbe entgleiste in ein ungesundes Grau.
„Weiß Beil eigentlich von seinen Persönlichkeiten?“, flüsterte er leise, die Hand so vor dem Mund, dass Beil seine Lippenbewegungen nicht sehen konnte.
„Er kennt zumindest seine Diagnose“, antwortete Mahnmann schwammig, ohne die Augen von Beil zu nehmen, der gerade angespannt das Gerätedisplay im Blick behielt. „Ich habe mit ihm nie über die anderen Persönlichkeiten gesprochen. Ich hatte das Gefühl, er ist noch nicht so weit.“
Bader nickte langsam. „Ist es ein Problem, wenn ich ihn darauf anspreche?“
„Keine Ahnung. Er hat körperlich und geistig über die letzten Monate massiv abgebaut. Es ist kaum vorherzusehen, wie er überhaupt auf die aktuellen Ereignisse reagieren wird. Alexander war immer ein ehrlicher, aufgeschlossener Mann, zumindest vor dem Tod Leas, seiner Tochter. Es ist an sich eigentlich schwer vorstellbar, dass ein Teil von ihm zu solchen Dingen in der Lage ist.“
„Wir haben aber keine andere Wahl“, drängte Bader. „Ich bin mir zwar nicht sicher, ob dieser Wladimir tatsächlich die Wahrheit gesagt hat, was diese Bomben betrifft, aber ich will auch kein unnötiges Risiko eingehen. Beil ist der einzige, der uns weiterhelfen kann. Er war dabei, auch wenn er sich vielleicht nicht daran erinnert.“
Bader verzog seinen Mund zu einem dünnen Strich, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte. Die Situation erwies sich als ausgesprochen undurchsichtig. Das erste Mal in seiner Karriere hatte er überhaupt keinen Plan, wie er vorgehen sollte. Normalerweise hätte er nach einer Bombendrohung alles daran gesetzt, den Täter dingfest zu machen, sowie die Bomben rechtzeitig zu entschärfen, sofern es die Sprengsätze überhaupt gab. Dieser ominöse Wladimir hatte sich jedoch seinem Zugriff entzogen, auf die denkbar merkwürdigste Art und Weise. Er versteckte sich irgendwo in diesem zerbrechlich aussehenden Körper, tief verborgen in den Untiefen eines kranken Geists, außerhalb seiner gesetzlichen Möglichkeiten. Als Polizist konnte Bader mit dieser Situation nicht umgehen. Sie sprengte völlig die Grenzen seiner Vorstellungskraft. Zudem fühlte er sich in Beils Nähe unwohl. Er wirkte distanziert, beinahe kalt, und verströmte eine Aura, die irgendwie unheimlich, geradezu unmenschlich war.
„Könnte ich vielleicht etwas zu essen bekommen?“, durchbrach plötzlich Beils unangenehme Reibeisenstimme Baders Gedanken. „Mein Blutzuckerspiegel ist etwas niedrig.“
Er drückte scheinbar wahllos ein paar Knöpfe auf seinem Messgerät und steckte es in seine Hemdtasche.
Bader fühlte sich sofort an seinen hungrigen Magen erinnert. Wie aufs Stichwort fing sein Bauch an, sonor zu grummeln. Unauffällig presste er seine Hand gegen seine linke Körperseite, um das starke Ziehen seines Hungers zu beruhigen.
„Heinrich“, fragte er, „kannst du irgendetwas besorgen?“
„Wieso? Sehe ich aus wie ein Dienstmädchen?“ Provozierend streckte Petersen sein Kinn nach vorne.
„Nein, das weniger; eher wie jemand, der sich mit Essen auskennt“, konterte Bader scherzhaft. „Sieh zu, dass du was zu essen auftreibst. Und für mich bitte auch!“
„Ja, ja“, grummelte Petersen, „mit mir kann man’s ja machen.“
Mürrisch stapfte er zur Tür des Verhörzimmers, die Hand bereits zur Klinke ausgestreckt, aber er sollte sie nicht mehr erreichen. Auf einmal brach die Hölle los. Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte plötzlich das alte Polizeirevier. Das betagte Gebäude erzitterte und schwankte bedrohlich unter ihren Füßen. Die Scheiben des Verhörzimmers klirrten; Putz rieselte von der Decke und nahm ihnen die Sicht. Petersen stürzte schwer zu Boden und brüllte etwas, das Bader nicht verstand. Er hatte selbst genug Schwierigkeiten damit, sich auf den Beinen zu halten. Das Licht flackerte und ging aus. Zurück blieb Dunkelheit und eine allgegenwärtige Stille.