Читать книгу Und ICH bin die Rache - Kai Kistenbrügger - Страница 5

7:31 Uhr

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Hauptkommissar Thomas Bader starrte sichtlich angewidert durch die trübe Scheibe auf den Mann, der zusammengesackt inmitten des Raumes an einem Tisch saß. Er zeigte keinerlei Lebenszeichen. Seine Augen blickten starr auf die Tischplatte, die Arme hingen schlaff an seiner Seite.

„Wer ist der Kerl?“, blaffte Bader und nahm einen langen Schluck von der schwarzen Brühe, die seine Kollegen für Kaffee hielten. „Ist der Typ gefährlich?“

Er hasste es, so früh nicht im Bett liegen zu können und vor allem hasste er es, sich mit solchen Verrückten herumzuschlagen, die bevorzugt kurz vor Dienstschluss auf die Idee kamen, Ärger zu machen.

„Keine Ahnung.“ Heinrich Petersen zuckte mit den Schultern. Der alte Oberkommissar wirkte ratlos. „Seit seiner Verhaftung hat er nichts mehr gesagt. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob er uns überhaupt wahrnimmt.“ Er zeigte durch das Fensterglas in den Konferenzraum. Der Fremde hätte die beiden Polizisten zwar sehen können, aber er schenkte ihnen ebenso wenig Beachtung wie allen bisherigen Versuchen, mit ihm zu sprechen. „So sitzt er bereits seit Stunden, ohne sich zu bewegen. Vielleicht ist er tot“, schlug Petersen in dem schwachen Versuch vor, etwas Humor aufzubringen. „Oder verrückt.“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen seine Schläfe und ließ ein breites Grinsen aufleuchten, doch als Bader darauf nicht reagierte, nahm er sichtlich verstimmt wieder seinen Faden auf: „Kommt wahrscheinlich aus der Klapse, der Kerl. Wir warten noch auf Rückmeldung. Vielleicht ist der Anstalt einer von ihren Irren verloren gegangen.“

Skeptisch zog Bader seine linke Augenbraue hoch. „Ich weiß nicht…“, murmelte er, „…der Anzug sieht ziemlich teuer aus, auch wenn er dreckig ist. Ich glaube nicht, dass die Leute in der Irrenanstalt so herumlaufen.“

Er platzierte seine Kaffeetasse unauffällig auf den Tisch neben sich. Weder hatte er vor, einen weiteren Schluck von dem Gesöff zu trinken, noch die Tasse ordnungsgemäß in der Küche zu entsorgen. Sein Magen rebellierte jetzt schon und grummelte unwillig wie ein herannahendes Gewitter. Noch nicht einmal Zeit zum Frühstücken hatten sie ihm gelassen. Missmutig rieb er seinen Bauch. Mit jeder Minute sank seine Stimmung auf einen neuen Tiefpunkt. Er hatte Nachtschicht geschoben und war soeben von einem Einsatz zurückgekehrt. Eigentlich hätte er schon längst auf dem Weg zu seiner Familie sein müssen, zu seiner Frau Claudia und den Zwillingen. Aber seine beiden Engel waren wahrscheinlich bereits auf dem Weg zur Schule; selbst wenn er jetzt nach Hause könnte, würde er sie vermutlich nicht mehr erwischen. Verdammt. Er sollte Claudia anrufen, aber auch sie steckte wahrscheinlich bereits in einem Berg Arbeit fest.

Er seufzte. Ohne einen Kuss von seiner Frau und einer Umarmung von seinen beiden kleinen Mädchen waren die Weichen bereits früh für einen Tag gestellt, der einfach nicht mehr zu retten war. Müde musterte Thomas Bader seinen Kollegen, der gelangweilt Dreck unter seinen Fingernägeln hervor kratzte. Obwohl Heinrich Petersen nur ein paar Jahre älter war als er, hätten die beiden Männer nicht unterschiedlicher sein können. Bader mit seinen 44 Jahren sah mindestens 10 Jahre jünger aus, mit seiner sportlichen Figur und seinen schwarzen Haaren, auch wenn sich inzwischen ein paar graue Strähnen in seiner Mähne finden ließen. Petersen hingegen schob bereits seit Jahren eine mächtige Wampe vor sich her. Auf seiner spiegelnden Glatze bildete sich bereits bei kleinsten Anstrengungen Schweiß. Meistens sah er aus, als würde er gerade aus einem Regenschauer kommen. Das war allerdings auch kein Wunder; bevorzugt ernährte er sich von Currywurst, Pommes und Bier und zeigte auch keinerlei Ambitionen, sich in irgendeiner Form sportlich zu bewegen. Auch bei der Polizeiarbeit hatte er nie sonderlich viel Elan an den Tag gelegt. Seine Karriere war mittlerweile weitestgehend zum Erliegen gekommen; er arbeitete getreu dem Motto, so viel wie nötig, so wenig wie möglich.

„Was machen wir jetzt mit ihm?“, wollte Petersen wissen. Er schwitzte bereits wieder leicht, dabei war es im klimatisierten Polizeigebäude eigentlich zu kühl, zumindest für Baders Geschmack.

„Was fragst du mich?“, grummelte Bader unfreundlicher als beabsichtigt. Der Hunger machte ihm wirklich zu schaffen. Suchend durchkämmten seine Augen das Großraumbüro, auf der Suche nach etwas Essbarem.

„Was wissen wir denn überhaupt?“, fragte er nach einer Weile, während er mit den Augen eine halb gegessene Pizza fixierte, die irgendwer auf seinem Schreibtisch zurückgelassen hatte. Wie alt mochte die Pizza wohl sein? Einen Tag? Zwei Tage?

„Nicht viel“, unterbrach Petersen Baders inneren Kampf zwischen den Alternativen, zu verhungern, oder wegen einer akuten Lebensmittelvergiftung dahinzuscheiden. Petersen schlurfte bedächtig zu seinem Schreibtisch und Bader folgte ihm brummelnd. Nur äußerst ungern gab er den Gedanken an die Pizza auf.

„Er hatte keinen Personalausweis bei sich. Noch nicht einmal eine Geldbörse. Eine Waffe, allerdings ohne Munition, ein paar Kaugummis und das hier.“

Er reichte Bader eine etwas größere, durchsichtige Plastiktüte.

„Was ist das?“, meckerte er, als er die Gegenstände durch die Tüte vorsichtig betastete.

„Eine Videokassette“, unkte Petersen und grinste wieder. „So etwas hat man vor einiger Zeit benutzt, um Ton- und Bildaufzeichnungen bei Bedarf auf einem Fernsehbildschirm abspielen zu können. Damals eine tolle Erfindung.“

„Blödmann“, brummte Bader, erwiderte das Lachen aber trotzdem. „Ich meine, was ist drauf?“

„Ja, das ist ein Problem. Wir haben keinen Videorekorder mehr. Selbst wir haben unser Equipment inzwischen auf moderne Speichermedien umgestellt.“

„Dann besorgt einen! Irgendwo muss es doch noch einen Videorekorder geben!? Muss ich denn alles alleine machen?“

„Schon in Auftrag“, konterte Petersen beleidigt. „Von Zeit zu Zeit könntest du uns auch etwas Eigeninitiative zutrauen!“

„Ja, schon gut.“ Das kam einer Entschuldigung Baders so nahe wie nur möglich. Er war nicht unbedingt bekannt dafür, Fehler leichtfertig zuzugestehen.

„Aber was ist das hier?“

Seine Finger betasteten ein kleines, schwarzes Gerät, das sich hinter der Videokassette verborgen hatte.

„Ich denke, ein Messgerät.“

„Ein Messgerät? Wofür?“

„Blutzucker. Für zu Hause“, antwortete Petersen sichtlich stolz, seinem Kollegen eine Antwort voraus zu sein. Er tätschelte liebevoll seinen Bauch. „Ich habe so ein Ding auch zu Hause. Eigentlich müsste ich es nach jeder Mahlzeit benutzen.“

Petersen litt an Diabetes, was wahrscheinlich seiner enormen Leibesfülle zuzuschreiben war. Allerdings hatte er die Krankheit nicht zum Anlass genommen, seine Lebensweise zu überdenken. Ganz im Gegenteil, er trug seine Erkrankung stolz wie eine Trophäe vor sich her, wie ein Veteran, der vor seinen Enkelkindern mit seinen Kriegsverletzungen prahlte.

Bader schüttelte den Kopf. „Du könntest ganz darauf verzichten, wenn du abnehmen würdest“, entgegnete er trocken und pikste demonstrativ in Petersens Bauch. „Schätzungsweise 60 Kilo.“

„Bist du irre?“, entrüstete sich Petersen und verschränkte gespielt schockiert die Arme vor seiner breiten Brust. „Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, mir diesen Wohlstandbeweis anzufuttern?“

Bader warf einen skeptischen Blick in den Mülleimer, der halb versteckt unter dem Schreibtisch stand. Er quoll nahezu über vor Produktverpackungen, die hauptsächlich eine Mischung aus Fett und Zucker enthalten hatten.

„Wenn ich deinen Mülleimer so sehe, so etwa eine Woche“, scherzte er.

„Haha“, machte Petersen. „Ich lach mich tot.“

Väterlich klatschte Bader Petersen auf die Schulter. „Nachher vielleicht, jetzt brauche ich dich noch.“ Er hob demonstrativ die Tüte in die Höhe. „Was heißt das jetzt für unseren Neuankömmling? Ist er zuckerkrank?“

„Weiß nicht. Vielleicht.“

„Wir sollten einen Arzt rufen“, überlegte Bader. „Vorsichtshalber. Bevor uns der Kerl wegen Unterzuckerung abnibbelt.“

„Geht klar.“

Petersen schnippte mit dem Finger. Obwohl er niemanden direkt angesehen hatte, stand auf einmal ein junger Polizist neben ihm. Bader war immer wieder überrascht, wie gekonnt Petersen jede Gelegenheit ausnutzte, Arbeiten auf andere abzuwälzen. Er war besonders geschickt darin, sich eine eigene, kleine Armee von blutjungen, arbeitswilligen Lakaien heranzuzüchten, die er bevorzugt aus der Gruppe der Neulinge rekrutierte.

„Ruf’ einen Arzt, für unseren Freund da drinnen“, befahl er, ohne den jungen Polizisten zu begrüßen. „Und zwar dalli!“

„Jawohl, Herr Oberkommissar!“

Der Polizist war weg, bevor Bader irgendetwas erwidern konnte. Irritiert blickte Bader hinterher. „Erstaunlich“, murrte er. „Wie machst du das?“

„Alles einer Frage der Motivation“, grinste Petersen. „Am Anfang ihrer Karriere machen sie alles für dich, in der Hoffnung, irgendwann auch auf der anderen Seite stehen zu können.“

„So?“, fragte Bader skeptisch. „Sorgen sie auch für Nachschub?“, er zeigte auf den vollen Mülleimer, „Oder musst du immer noch selbst einkaufen?“

„Ach, bist du heute wieder witzig!“

„Das ist mein natürlicher Charme“, grinste Bader.

„Dann kannst du dich mit deinem umwerfenden Charme am besten mal bei unserem Fremden versuchen. Denn das war noch nicht alles.“

Petersen kramte ein bisschen auf seinem Schreibtisch zwischen Schokoriegelpapier, Bäckertüten und Kaffeetassen. Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck hielt er ein Blatt Papier hoch. „Das Fax kommt vom Labor. Schlechte Nachrichten. Die Flecken auf dem Hemd sind tatsächlich Blut. Aber sie stammen nicht von unserem Freund.“

„Nicht? Von wem dann?“

Hektisch flogen Petersens Augen über das Papier. „Das steht hier nicht. Für die Analyse brauchen sie länger. Sie haben lediglich einen Blutgruppen-Schnelltest gemacht. Ergebnis: Das Blut hat eine andere Blutgruppe, als die unseres Freundes.“

„Also hat er wirklich jemanden umgebracht?“

„Das solltest du ihn am besten selbst fragen.“

Und ICH bin die Rache

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