Читать книгу Und ICH bin die Rache - Kai Kistenbrügger - Страница 12
9:23 Uhr
ОглавлениеPetersen drückte dem Fremden sein Knie in die Nieren, um seine beiden Arme mit Handschellen auf dem Rücken fixieren zu können. Bei seinem Gewicht hätte er einem ausgewachsenen Bullen damit das Rückgrat brechen können; weswegen sein Opfer auch kaum noch Luft blieb, um gegen die unsanfte Behandlung zu protestieren.
Bader näherte sich misstrauisch dem unscheinbaren Paket. Bei genauerem Hinsehen entpuppte sich der Mann als Junge, wahrscheinlich noch grün hinter den Ohren, kaum älter als achtzehn. Scheinbar ohne Mühe wuchtete Petersen ihn am Kragen zurück auf seine Beine.
„Was sollte das hier werden?“, grollte er bedrohlich mit einer Stimme, die den Angesprochenen sichtbar zusammenfahren ließ.
„Das ist mein Job!“, winselte der Jüngling. „Ich liefere Pakete aus!“ Sein Gesicht glich einer Kraterlandschaft von noch aufblühenden und längst vergangenen Pickeln. Er lispelte leicht, da eine große, glänzende Zahnspange seiner Zunge wenig Platz zum Sprechen in seinem Mund ließ. Die knallrote Jacke gehörte tatsächlich zu einem kleinen, ortsansässigen Lieferdienst. Sie konnte aber genauso gut geklaut worden sein.
„Das ist doch Blödsinn!“, fluchte Petersen und schüttelte den Jungen leicht, so dass seine Zahnspange aufeinander klapperte. „Ich habe dich hier noch nie gesehen! Und bisher hat jeder Paketbote die Pakete am Empfang abgegeben.“
„Aber am Empfang saß keiner“, wimmerte der Bote. Eingeschüchtert hing er an Petersens ausgestrecktem Arm. Er sah aus, als würde er sich gleich einnässen.
Petersen schüttelte ungläubig den Kopf. „Also schleichst du dich einfach hinein? Machst du das bei Privathäusern ebenfalls?“
„Nein, nein! Was hätte ich denn tun sollen? Ich kenne mich hier doch nicht aus! Ich wollte doch nur die Sendung abliefern!“ Er schluchzte herzzerreißend.
Bader kniete sich vorsichtig neben das Paket, ohne es zu berühren. Ein einfacher Pappkarton, ohne Absenderadresse, aber mit einem klar bezeichneten Empfänger: Thomas Bader.
„Hier ist kein Absender angegeben. Woher stammt das Paket?“, fragte er den eingeschüchterten Botenjungen.
„Aus der Zentrale. Es ist dort abgegeben worden“, antwortete er hastig. Seine lispelnde Zunge verteilte Speicheltröpfchen in der Umgebung wie ein unterdimensionierter Rasensprenger. „Die Dienstanweisung besagt, das Paket um exakt 9:20 Uhr hier abzuliefern.“
„Wer hat es bei der Zentrale aufgegeben?“
„Keine Ahnung. Ich liefere die Pakete nur aus.“ Er schniefte laut und feucht. Petersen trat vorsichtshalber eine zusätzliche Handbreit zurück, um von der Rotz- und Wasserfontäne möglichst verschont zu werden.
Bader nahm das Paket vorsichtig in die Hand.
„Was tust du da?“, fragte Petersen entsetzt. Überrascht ließ er den Jungen los. „Bist du lebensmüde? Was, wenn es eine weitere Bombe enthält?“
„Bombe?“, kreischte der Lieferjunge und wurde bleich. Seine Beine sackten unter ihm weg. Nur Petersens beherztes Eingreifen bewahrte ihn vor einer unsanften Bekanntschaft mit dem harten Boden.
„Stehenbleiben, Jungchen!“, knurrte er, aber sein grimmiger Gesichtsausdruck glättete sich etwas. Der Junge war ein Weichei und mit Sicherheit nicht in der Lage, einen derartigen Anschlag zu planen, geschweige denn durchzuführen. Das war selbst für Petersen offensichtlich.
Bader wog vorsichtig das Paket in der Hand. Es fühlte sich erstaunlich leicht an, eigentlich zu leicht für eine Sprengvorrichtung.
„Nimm ihm die Handschellen ab“, sagte er in Richtung Petersen. „Ich glaube ihm.“
„Ja, ich auch“, gab Petersen zu. „Unser Freund hier ist kein Terrorist. Trotzdem solltest du das Paket in Ruhe lassen. Dafür gibt es Spezialisten.“
Misstrauisch ließ er seinen Blick über den Karton schweifen. „Kein Absender. Du weißt, was das Handbuch bei verdächtigen Postsendungen unbekannter Herkunft sagt.“
„Ja, ja“, wiegelte Bader ab. „Paket nicht mehr anfassen, Hilfe holen, Gefahrengebiet evakuieren.“
„Und? Was sagt dir das? Du willst das Ding doch wohl nicht öffnen?“ Petersen zeigte auf das Paket und starrte Bader herausfordernd an. „Das ist doch Irrsinn! Hat die Explosion eben nicht ausgereicht?“
Der Botenjunge verfolgte das Gespräch mit wachsender Unruhe. Er zappelte leicht gegen Petersens unbarmherzigen Griff an. „Evakuieren, ja!“, hechelte er. „Bitte lassen Sie mich gehen! Bitte lassen Sie mich gehen!“
Petersen schaute Bader fragend an, doch der nickte nur. „Hast du seinen Namen?“
Petersen grinste breit und klopfte gegen seine Schläfe. „Na klar! Ehrensache. Alles hier drin.“ Triumphierend zog er ein Portemonnaie und einen Personalausweis aus seiner überdimensionalen Hemdtasche, die er dem Boten bei seiner Durchsuchung abgenommen hatte. Er stopfte beide Gegenstände mit einem gutmütigen Grinsen in die Jacke des Jünglings. „Du kannst gehen. Aber denk’ daran!“, ermahnte er ihn. „Wir haben deinen Namen und deine Adresse. Sollten wir Fragen haben, kommen wir auf dich zu. Und wehe, du bist dann nicht da.“
Unsanfter als notwendig löste er die Handschellen. „Geht klar, bin da!“, versicherte das Pickelgesicht hektisch. Er warf einen ängstlichen Blick auf Petersen und machte sich übereilt aus dem Staub. Er fand noch nicht einmal mehr die Zeit, seine Mütze aufzuheben, die ihm in der Eile vom Kopf gefallen war.
„Ich würde wetten, noch heute quittiert der Kerl seinen Job!“, murmelte Petersen bemüht unbekümmert. Seine Augen musterten das Paket jedoch besorgt und straften seine lockere Art Lügen. „Thomas“, sagte er. „Im Ernst, das ist Aufgabe der Spezialisten. Lass die Finger davon! Eine Paketlieferung mit einer so präzisen Zeitangabe, das ist doch nicht koscher!“
Er sprach nicht weiter, als eine Gruppe Polizisten in Hörweite geriet, die in geordneter Reihe dem Ausgang zustrebten. Ein Polizist hielt zielsicher auf Bader zu. Es war der junge Beamte, den Bader mit der Evakuierung beauftragt hatte.
„Alle Räume gesichert! Nur leichte Verletzungen“, meldete er zackig, wie er es auf der Polizeischule gelernt hatte.
„Gut“, bestätigte Bader zufrieden. Draußen heulten bereits die ersten Sirenen leise auf. Wahrscheinlich die Krankenwagen, oder die Feuerwehr. „Fahren Sie mit der Evakuierung fort. Ich will, dass in fünf Minuten niemand mehr in dem Gebäude anzutreffen ist.“
„Was ist mit den beiden Zivilisten?“
Erst in diesem Moment fiel Bader auf, dass sich auch Mahnmann und Beil unter der Gruppe befanden. Sie standen etwas eingeschüchtert am Rande.
„Die auch. Aber behaltenen Sie sie im Auge!“
„Geht klar!“
Er machte eine halbe Drehung und brüllte: „Das Gebäude wird jetzt geordnet evakuiert. Wie besprochen, jeder behält seinen Nebenmann im Auge. Und los!“
Baders Blick folgte dem jungen Polizisten und seinen Schützlingen, bis alle das Gebäude verlassen hatten. Er machte seine Sache gut, während seiner wenigen Minuten als Held. Dieses Gesicht musste er sich merken. Gute Männer waren rar gesät.
Es dauerte keine zwei Minuten, bis alle Gruppen das Polizeirevier verlassen hatten. Zurück blieben lediglich Bader und Petersen. Eine ungewohnte Stille umschloss die beiden, im drastischen Gegensatz zu dem Trubel, der ansonsten um diese Uhrzeit im Revier vorherrschte.
„Und jetzt?“, fragte Petersen vorsichtig, als würde er Baders Antwort auf seine Frage bereits erahnen.
„Du gehst mit ihnen!“, antwortete Bader leise und nickte in Richtung Hauptausgang.
„Und was ist mit dir?“
„Ich bleibe hier.“ Sein Blick streifte das Paket. „Du weißt, wie lange es dauern würde, nach Vorschrift vorzugehen. Die Zeit haben wir nicht. Dieser Wladimir hat etwas von mehreren Bomben gesagt, und ich halte das nicht für eine leere Drohung.“
„Ja, genau!“, begehrte Petersen auf. „Und vielleicht hat er dabei genau von diesem Paket gesprochen!“
Bader schüttelte langsam den Kopf. „Das glaube ich nicht. Er hat mich auf dem Video direkt angesprochen. Ich weiß nicht wieso, aber bei der ganzen Sache scheint es irgendwie um mich zu gehen. Das ist eine Art Katz-und-Maus-Spiel. Er wird mich nicht umbringen. Denn dann wäre das Spiel doch vorbei!“
Er versuchte, vertrauensvoll zu lächeln, aber sein Mund spielte dabei nicht mit. Er schaffte es lediglich, eine beunruhigte Grimasse zu ziehen.
„Und wer ist dabei die Maus?“, fragte Petersen skeptisch.
„Die Antwort kennen wir doch beide“, flüsterte Bader. „Jetzt geh, mir wird schon nichts passieren.“
„Und warum soll ich dann gehen, wenn das Ding nicht gefährlich ist?“, brummelte Petersen provozierend, setzte sich aber trotzdem langsam in Bewegung. Er kannte Bader lange genug, um zu wissen, dass jede Diskussion in dieser Situation vergebene Liebesmüh war.
„Wir sehen uns draußen!“, rief Bader ihm nach, als Petersens massige Silhouette hinter der Trennwand des Eingangsbereichs verschwand. Allerdings fühlte Bader sich längst nicht so selbstsicher, wie er sich Petersen gegenüber gegeben hatte.
Er legte das Paket vorsichtig auf den Boden und kniete sich daneben. Mit zitternden Fingern löste er die Klebestreifen, die den Karton fest verschlossen hielten. Verdammt! Er hätte Claudia und die Kinder anrufen sollen. Jetzt war es zu spät und vielleicht würde er nie wieder die Gelegenheit dazu erhalten, die Stimmen seiner Liebsten zu hören.
Briefbomben waren normalerweise so konstruiert, dass sie beim Öffnen hochgingen. Wenn es sich tatsächlich um einen Sprengsatz handelte, machte er gerade den letzten verhängnisvollen Fehler seines Lebens.
Unbewusst hielt Bader den Atem an, als er den Pappdeckel öffnete; die Augen in Erwartung der Explosion fest zusammengepresst. Doch nichts passierte. Erleichtert schlug er seine Augen wieder auf. Lautstark sog er die Luft ein, als sein Blick auf den Inhalt fiel. Mit allem hätte er gerechnet, nur nicht damit.