Читать книгу Und ICH bin die Rache - Kai Kistenbrügger - Страница 4

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Der Mann, der langsam die steinernen Treppenstufen hoch schlurfte, hatte beinahe nichts Menschliches mehr an sich. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen, umrahmt von einem eingefallenen, gräulichen Gesicht. Dunkle Stoppeln auf seinen Wangen deuteten darauf hin, dass er bereits seit Tagen mehrere Rasuren ausgelassen hatte. Seine Haare waren dünn und ungepflegt und glänzten im fahlen Licht des beginnenden Tages leicht fettig. Er schien kaum noch die Kraft zu besitzen, seine Füße zu heben. Mit jedem Schritt scharrten seine Gummisohlen über die Steine der Stufen. Dennoch trieb ihn irgendeine innere, unbarmherzige Kraft voran; Schritt für Schritt auf das Gebäude zu, das am Ende der Stufen auf ihn wartete.

Seine Kleidung, die mit Sicherheit vor einiger Zeit eine nicht unerhebliche Stange Geld gekostet hatte, hing ungepflegt an seinem ausgemergelten Körper. Der ehemals blaue Anzug war zu einem schmutzigen Ton verblichen und das fleckige, nur noch bedingt weiße Hemd hing über seiner Hose.

Kaum jemand beachtete den heruntergekommen Mann. Es war noch zu früh am Morgen. Nur die Sonne wagte sich mit der ihr eigenen Gemächlichkeit langsam über den Horizont hervor; die meisten Menschen hingegen hatten sich noch nicht auf die Straße getraut. Die wenigen Passanten, die bereits auf dem Weg zu ihrer Arbeit waren und dem Mann einen flüchtigen Blick schenkten, schauten sofort wieder weg. Er war ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig, befanden sie mit einer Arroganz, die nur Menschen aufbringen konnten, die kein Mitleid für die Nöte und Sorgen ihrer Mitbürger empfanden. Sie hatten alle mit ihren eigenen, kleinlichen Allerweltsproblemen zu kämpfen. In ihrem engstirnigen Denken war kein Platz für Empathie.

Sie wären vielleicht nicht so leichtfertig an ihm vorübergegangen, wenn sie ihm einen etwas längeren Blick geschenkt hätten. Dann wäre ihnen aufgefallen, dass er, nur halb vom Ärmel seines ausgeleierten Jacketts verdeckt, eine Pistole in der Hand trug. Und die rot-braunen Flecken, die seine Kleidung verunzierten, wiesen eine frappierende Ähnlichkeit mit geronnenem Blut auf.

Und so erreichte er unbehelligt den Haupteingang des Gebäudes. Auch die Polizeistation dämmerte noch in ihrer frühmorgendlichen Tatenlosigkeit dahin, lange bevor wie an jedem anderen Tag die alltägliche Hektik die Menschen völlig vereinnahmte und ihnen kaum noch Zeit zum Atmen lassen würde.

Doch an diesem Morgen war es mit der Ankunft des Unbekannten früh mit der beschaulichen Ruhe vorbei. Der Mann hatte gerade die große Eingangstür aufgestoßen, als er in das Blickfeld einer Putzfrau geriet, die oberflächlich eine der Besucherbänke abstaubte, um nicht allzu unbeschäftigt auszusehen. Im Gegensatz zu allen anderen Menschen war sie froh über ein bisschen Ablenkung und musterte den Neuankömmling neugierig. Doch was sie sah, gefiel ihr gar nicht. Sie fing an zu schreien, schrill und durchdringend, in einer Lautstärke, die den wachhabenden Polizisten hinter der Glasscheibe hochschrecken ließ. Sein heißer, dampfender Kaffee ergoss sich über seine blaue Diensthose.

„Verflucht!“, schrie er auf. Doch als er wütend nach dem Grund für die unerwünschte Störung suchte, vergaß er schlagartig den Schmerz unter dem dünnen Stoff seiner Unterhose. Der Mann stand inmitten des Eingangsbereichs, als wäre er zur Salzsäule erstarrt. Die Waffe baumelte in seiner rechten Hand.

Der Polizist reagierte sofort. Er zog seine Dienstpistole und stürmte hinter seinem Empfangsschalter hervor. „Lassen Sie Ihre Waffe fallen!“, forderte er, während er sich Schritt für Schritt der unbekannten Bedrohung näherte, seine Pistole direkt auf den Kopf des Fremden gerichtet. Seine Stimme zitterte leicht. Er war noch jung und hatte bisher noch keine brenzligen Situationen meistern müssen. Vor allem nicht alleine. „Legen Sie Ihre Waffe auf den Boden! Vorsichtig!“, brüllte er erneut, als der Mann nicht reagierte. „Sofort!“

Unendlich langsam drehte der Mann seinen Kopf und starrte den jungen Polizisten unbeteiligt an. Sein Blick war merkwürdig leer, als würde er gar nicht den Polizisten, sondern durch ihn hindurch die Putzfrau anstarren, die sich ängstlich zitternd hinter die Holzbank geflüchtet hatte.

„Ich werde es kein zweites Mal sagen!“, schrie der Polizist, inzwischen mit leichter Panik in der Stimme. „Legen Sie Ihre Pistole weg, oder ich werde von der Schusswaffe Gebrauch machen.“

„Waffe?“, formten die Lippen des Fremden lautlos. Er starrte auf seine Hand, als würde sie nicht zu ihm gehören. Er ließ die Waffe fallen, indem er einfach die Hand öffnete. Die Pistole fiel mit einem lauten Klappern zu Boden und blieb zwei Schritte vor dem Fremden auf dem Linoleumboden liegen.

„Ich…“, stammelte er und blickte sich um, mit ruckartigen Bewegungen, als würde er überhaupt das erste Mal, seitdem er die Polizeiwache betreten hatte, seine Umgebung bewusst wahrnehmen. Seine Stimme klang heiser und trocken, wie ein betagtes Lied aus altersschwachen Lautsprechern. Es klang, als hätte er sie seit Tagen nicht mehr benutzt.

Seine rastlos umherschweifenden Augen blieben am Polizisten hängen. Tiefer Schmerz hatte sich in sein Gesicht gegraben.

„Ich…“, versuchte er es erneut. Dieses Mal wirkte seine Stimme fester, auch wenn ein lautes Schluchzen jedes Wort begleitete. „Ich glaube, ich habe jemanden umgebracht.“ Er sackte auf die Knie, ließ sich zur Seite fallen und hörte auf, sich zu bewegen, zusammengerollt wie ein Fötus in Embryonalhaltung. Selbst als der junge Polizist ihn brutal auf den Bauch drehte und ihm Handschellen anlegte, leistete er keinen Widerstand. Lediglich seine Lippen pfiffen leise eine merkwürdige Melodie.

Und ICH bin die Rache

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