Читать книгу Und ICH bin die Rache - Kai Kistenbrügger - Страница 6

7:53 Uhr

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Die klapprige Holztür quietschte ohrenbetäubend, als Bader mit Petersen im Schlepptau das Verhörzimmer betrat. Eigentlich war es eher ein Besprechungsraum, der mittig im Großraumbüro thronte und nur durch ein paar dünne Holzwände vom Rest des Gebäudes räumlich abgetrennt wurde. Großflächige Glasscheiben in der Holzvertäfelung nahmen jedwedes Gefühl von Privatsphäre. Das ganze Gebäude war alt und stammte noch aus einer Zeit, in der Polizisten zu Fuß auf Streife gingen und Berichte noch von Hand geschrieben worden waren. Das war lange her, auch wenn Bader das Gefühl beschlich, sämtliche Investitionen in die Renovierung des alten Polizeireviers wären seitdem äußerst überschaubar geblieben. Zumindest einen Tropfen Öl hätte er für die altersschwache Tür begrüßt, damit sie nicht mehr dieses nervenzerfetzende Geräusch von sich gab. Einen Vorteil hatte es jedoch in diesem Moment. Der Fremde konnte ihre Ankunft unmöglich überhört haben.

Trotzdem ließ er sich nichts anmerken, sondern starrte weiter gebannt auf die Tischplatte, als gäbe es da andere Dinge zu sehen, als lediglich die Spuren von Jahrzehnten der handwerklichen Vernachlässigung.

Bader räusperte sich laut, aber erzielte damit genauso wenig eine Wirkung wie die Tür zuvor.

Unschlüssig, was er tun sollte, setzte er sich dem Fremden gegenüber und gab Petersen mit einer Handbewegung zu verstehen, es ihm gleich zu tun. Inzwischen quälte ihn der Hunger nicht mehr so bestialisch, war aber dafür einer beinahe lähmenden Müdigkeit gewichen. Der Tag konnte unmöglich noch schlimmer werden.

„Guten Morgen“, sagte er und versuchte, ein möglichst neutrales Gesicht aufzusetzen.

Keine Reaktion. Der Fremde wirkte wie eine leere, menschliche Hülle, ein Körper ohne Seele. Merkwürdig. Unheimlich. Bader musste sich sehr zusammenreißen, um nicht wild vor dem Gesicht des Fremden herumzufuchteln, um irgendeine Reaktion zu provozieren. Irgendetwas, das ihn in irgendeiner Form hätte lebendig erscheinen lassen. Aber der Mann zeigte nicht die kleinste Regung, als wäre er ein lebloser Teil des Mobiliars.

„Können Sie uns sagen, wie Sie heißen?“, versuchte er es erneut. „Hallo? Hören Sie mich?“

Kein Zucken, kein Blinzeln, kein Nicken. Nichts.

Zögernd rieb sich Bader das Kinn. So etwas hatte er in seiner langen Berufslaufbahn noch nicht erlebt. Er war Polizist, kein Psychiater, verdammt! Er kam sich allmählich etwas dämlich vor. Genauso gut hätte er versuchen können, mit einer Steinmauer eine angeregte Unterhaltung zu führen. Und trotzdem gab er nicht auf. Irgendwie überkam ihn das nagende Gefühl, dieses eingefallene Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Er kam aber partout nicht darauf, wo.

Müde rieb er sich den Nacken. Er musste unbedingt in sein Bett.

„Der Kerl ist nicht ganz dicht“, schimpfte Petersen und fuhr sich mit seiner Hand über seine feuchte Glatze.

„Bitte, Heinrich!“, tadelte ihn Bader unwirsch. „Damit machst du es nicht besser.“

„Nein, ernsthaft!“, ereiferte sich Petersen und zeigte mit beiden dicklichen Armen empört auf den Mann. „Sitzt hier einfach nur, sagt nichts und macht nichts. Mir wäre inzwischen schon der Arsch eingeschlafen, wenn ich hier so lange regungslos sitzen würde.“

„Der ist dafür ja auch groß genug.“

„Mein Gott, wo nimmst du nur immer diese Witze her!? Du hättest zum Fernsehen gehen sollen.“

„Ja, vielleicht“, murmelte Bader gleichgültig. Er beugte sich nach vorne, um dem Fremden direkt in die Augen sehen zu können. Seine Pupillen zeigten keine Reaktion. Er schien noch nicht einmal zu blinzeln. Baders Augen fingen bereits vom Zusehen an zu brennen. Er wischte sich mit dem Handrücken über seine Augenlider und seufzte gequält auf.

„Können Sie mich hören?“, wiederholte er. Er sprach laut und langsam, als würde er mit einem Schwerhörigen sprechen. „Mein Name ist Hauptkommissar Thomas Bader. Das ist mein Kollege, Oberkommissar Heinrich Petersen. Verstehen Sie uns?“

Zu seiner völligen Überraschung bewegten sich plötzlich zwei schwarze Pupillen und starrten ihn an. Verblüfft setzte Bader sich auf. Der Blick war durchdringend, beinahe beklemmend, als würde er versuchen, bis in die unergründlichen Tiefen seiner Seele vorzudringen.

„Alexander“, krächzte eine Stimme unmelodisch wie eine Drummer Session auf Blecheimern. „Alexander Beil.“

Klick. Irgendwo in den Tiefen seines Gedächtnisses rumorte das Gefühl, diesen Namen auch bereits gehört zu haben. Es gelang Bader nicht, die richtige Schublade aufzuziehen. Kannte er diesen Mann? Aber woher?

„Gut. Ist das Ihr Name?“, brummte er befriedigt. „Alexander Beil?“

„Ja.“

Der Kerl war offensichtlich nicht der Gesprächigste, aber das war ja keine Neuigkeit.

„Ich bin sehr froh, dass Sie sich doch dazu entschieden haben, mit uns zusammenzuarbeiten.“

Beil blickte sich um. Er wirkte verwirrt. „Wo bin ich?“, fragte er und musterte sichtlich neugierig das schmucklose Interieur des Besprechungsraumes. Es gab im Grunde nicht viel zu sehen; bis auf den Tisch und vier Stühle war der Raum leer.

Petersen stöhnte laut auf und verdrehte die Augen, aber Bader gab ihm mit einer Geste seiner Hand zu verstehen, ruhig zu bleiben.

„Sie sind auf dem Polizeirevier Nord. Wie gesagt, mein Name ist Thomas Bader, das ist Heinrich Petersen.“

Petersen ließ sich zu einem unfreundlichen Nicken herab, starrte Beil aber weiterhin feindselig an.

„Wie bin ich hierhergekommen?“

Ohne Vorwarnung sprang Petersen auf, was bei einem Mann seiner Körperfülle unfreiwillig komisch wirkte. Sein Rettungsring geriet merklich in Bewegung. „Ach, bitte!“, schrie er wütend auf und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Beil. „Der Kerl veräppelt uns doch!“

„Heinrich!“, tadelte Bader erbost. „Setz dich hin und halt die Klappe.“

„Ach, ist doch wahr!“ Für einen kurzen Moment zögerte er, doch dann setzte sich Petersen widerstrebend hin und verschränkte schmollend die Arme vor der Brust. Der Stuhl knarrte gequält auf. Petersen wirkte wie ein kleiner Junge, der soeben von seinen Eltern gescholten worden war.

„Ich muss mich für meinen Kollegen entschuldigen“, begann Bader erneut. Sein Gesichtsausdruck war in Mimik gegossene, angewandte Diplomatie. „Sie müssen verstehen, die Situation ist etwas verwirrend für uns. Schließlich sind Sie zu uns gekommen und nicht umgekehrt.“

„Ich weiß nicht…“, murmelte Beil. Allmählich schien er aus seiner Starre aufzuwachen. Selbst seine Wangen nahmen etwas mehr Farbe an, während er seine Hände nervös knetete. „Ich kann mich nicht erinnern.“

„Können Sie uns wenigstens sagen, was das hier ist?“ Bader schob die Plastiktüte über den Tisch, in der Petersen die Videokassette und das mutmaßliche Blutzuckerspiegelmessgerät aufbewahrte.

„Eine Videokassette?“

„Verdammt, Thomas, wie lange willst du dir das noch gefallen lassen!“, zeterte Petersen und schnaubte laut durch seine mächtigen Nasenflügel.

„Wenn du draußen warten willst, kannst du das gerne tun“, giftete Bader zurück. „Willst du das?“

Er hatte im Moment wirklich keine Lust auf solche Diskussionen. Seine Laune war schlecht genug, auch ohne Petersens ständige Kommentare.

Petersen schüttelte unwirsch den Kopf. „Nein. Trotzdem“, schmollte er.

Petersen war kein Freund von Arbeit und deswegen leicht aus der Ruhe zu bringen, vor allem, wenn er seine nächste Pause gefährdet sah. An sich war er kein schlechter Kerl, aber sobald sein Blutzuckerspiegel absackte, wurde er unausstehlich. Da er allerdings ständig Süßigkeiten in sich hineinstopfte und mit entsprechenden Mengen Insulin gegensteuern musste, war das eigentlich ständig der Fall. Ein Auf und Ab von Überzuckerung und Unterzuckerung. Bader störte es nicht sonderlich. Er kannte Petersen bereits seit Jahren und hatte gelernt, mit dessen merkwürdigen Marotten zu leben. Außerdem erwies sich Petersen in der Regel als guter Sparringspartner; er war der einzige Mensch, dem Bader offen die Meinung geigen konnte, ohne befürchten zu müssen, ihm vor den Kopf zu stoßen. Was das anging, hatte er sich ein dickes Fell, oder vielmehr eine dicke Fettschicht, zugelegt.

Beil musterte den kleinen Streit mit unbewegter Miene. Bader fiel es sehr schwer, aus dem Mann schlau zu werden. Normalerweise konnte er in anderen Menschen lesen wie in einem Buch, aber Beil blieb ihm verschlossen. Sein Blick war starr, seine Mimik seltsam unbewegt, als wäre sie in Stein gemeißelt, und seine Stimme eintönig. Nichts an ihm verriet, wie es in seinem Inneren aussah. Keine Emotion drang an die Oberfläche seiner menschlichen Gestalt. Er zeigte sich viel zu emotionslos, um tatsächlich ein Mensch zu sein.

„Diese Sachen haben Sie bei sich getragen“, erklärte Bader geduldig. „Was ist auf der Videokassette?“

„Ich weiß nicht“, wiederholte Beil die einzigen Worte, die er offensichtlich kannte. Er starrte unbewegt auf den Plastikbeutel. „Aber das da kenne ich. Mit dem Gerät bestimme ich meinen Blutzuckerspiegel.“

Er zeigte auf das schwarze, kleine Gerät im Beutel.

„Sind Sie Diabetiker?“

„Ja, seit ein paar Jahren.“

Innerlich stöhnte Bader auf. Lieber hätte er sich alleine einer Horde gewaltbereiter Hooligans gegenüber gestellt, als diesem Mann jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen zu müssen. Dummerweise stand dieser Mann zwischen ihm und seinem wohlverdienten Feierabend. Und er würde gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, wenn er heute irgendwann noch einmal nach Hause wollte.

„Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern?“, frage er.

„Ich stand auf der Straße. Ich war voll mit Blut“, murmelte Beil, sein Gesicht merkwürdig verzerrt. Er starrte gedankenverloren auf die roten Flecken auf seinem ehemals weißen Hemd.

„Hatten Sie einen Unfall?“, warf Petersen ein. Offensichtlich hatte er sich dazu durchgerungen, doch noch etwas Produktives zur Befragung beizusteuern.

„Ich weiß nicht…“, stammelte Beil. Sein Blick war unstet. Er sah aus, als würde er jeden Moment das Bewusstsein verlieren.

„Das hilft uns aber nicht weiter“, knurrte Bader unruhig. „Was wissen Sie denn?“

„Ich glaube, ich habe jemanden umgebracht.“

„Ja, das sagten Sie bereits, als Sie hier im Polizeirevier aufgetaucht sind. Wie kommen Sie darauf?“

„Ich kann mich nicht erinnern!“

„Aber wie können Sie dann so etwas behaupten!?“

„Ich kann mich einfach nicht erinnern!“, klagte Beil gequält. Er senkte seinen Kopf und begann, leicht mit beiden Fäusten abwechselnd gegen seinen Kopf zu schlagen. „Ich kann mich einfach nicht erinnern!“, wiederholte er mit sonorer Stimme, während seine eigenen Fäuste unablässig gegen seine Schläfen trommelten.

„Bitte, Herr Beil!“, beschwichtigte Bader beunruhigt und drückte sanft Beils Hände zurück auf den Tisch. Der Kerl ist doch irre! Seine Handgelenke fühlten sich kalt an, und seine Haut wirkte so dünn wie Pergamentpapier. „Lassen Sie das. Das hilft uns nicht weiter.“

Beil blickte auf und das erste Mal, seitdem sie dieses merkwürdige Gespräch begonnen hatten, hielt er Baders fragendem Blick stand. Tränen schimmerten in seinen Augen, ein erstes, schwaches Anzeichen für Emotionen. Der Widerstand in Beils Händen erlahmte.

Bader nickte aufmunternd und zog langsam seine Hände zurück. „Wir wollen Ihnen helfen. Das können wir aber nicht, wenn wir nicht wissen, was passiert ist. An was können Sie sich noch erinnern?“

„Balthasar Mahnmann“, stammelte Beil. Leichte Speicheltröpfchen bildeten sich auf seiner Unterlippe. Bader musste unwillkürlich an einen tollwütigen Köter denken, unberechenbar und gefährlich.

„Wer ist das? Kann er uns weiterhelfen?“, fragte er und ignorierte seine beunruhigenden Gedanken.

„Er ist mein Psychiater. Rufen Sie ihn an.“

Und ICH bin die Rache

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