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Ein Mann mit Charisma

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Bhagwan zog mit seinem Ashram in Pune auch viele Einheimische in seinen Bann. Im Frühjahr 1977 begegnete Beatrix dort Anil Jetly, einem hübschen Mann mit langem, dunklem Haar, vollem Bart, guten Manieren und solider Bildung. Er war 25-jährig, gleich alt wie sie, stammte aus einer reichen Familie und wohnte in der Millionenmetropole Bombay. Nein, es war nicht Liebe auf den ersten Blick, aber nach und nach kamen sich die beiden näher. Sie merkte, dass er gleiche Vorstellungen vom Leben hatte wie sie: Beide wollten eine stabile Beziehung führen, beide wollten eine Familie gründen, auch ein wirtschaftliches Fundament schien vorhanden. Anil entsprach dem Typus Mann, nach dem sich Beatrix, die zierliche Frau mit braunen Haaren, die fast ihren ganzen Rücken bedeckten, sehnte. Sie fand ihr Glück, ausgerechnet im Umfeld von Bhagwans Ashram, das in hiesigen Breitengraden wegen angeblicher Sexorgien einen zweifelhaften Ruf genoss.

Anil hatte, obwohl er schüchtern war, eine charismatische Ausstrahlung und verstand es, die Menschen zu faszinieren, vielleicht auch um den Finger zu wickeln. Er stammte aus einer angesehenen Familie aus Bombay. Sein Vater, Nand Kumar, benötigte vier Zeilen, um im Briefkopf all seine Ämter und Funktionen aufzulisten. Er wirkte zum Beispiel als Verkehrsminister im Bundesstaat Maharashtra und kannte Premierministerin Indira Gandhi, die 1984 einem Attentat zum Opfer fiel, persönlich. Auch einflussreiche Leute aus der indischen Wirtschaft wie die Führungsriege des Automobilkonzerns Tata gehörten zu seinem Bekanntenkreis. Anil standen alle Türen offen: Ihm, dem ältesten Sohn der Jetlys, der immer Goldschmuck trug und sich beruflich als Vespa- und Kleiderhändler betätigte, lag die Welt zu Füssen.

Beatrix und Anil unterhielten sich auf Englisch. Als frisch verliebtes Paar erlebten sie eine glückliche Zeit in Indien. Sie verlängerte ihren Aufenthalt spontan und tauchte immer tiefer ein in die indische Alltagsrealität. Beatrix wohnte bei Anil und dessen Familie in Bombay im Chembur-Quartier. Es war keine traumhafte Wohnlage, ein eher schmuckloser Flecken, an den sich kaum je ein Tourist verirrte. Auf den nur teilweise geteerten, löchrigen Strassen bildeten sich bei Monsunregen knöcheltiefe Pfützen. Mit der Vespa dauerte es rund eine Stunde, bis man sich vom Chembur-Quartier durch den dichten Verkehr bis ins Stadtzentrum geschlängelt hatte. Tatas und Motorräder gehörten ebenso zum Strassenbild wie Kühe, die manchmal Karren hinter sich herschleppten. Anil führte Beatrix mit der Vespa aus, sie schlenderten durch schöne Parks, besuchten das Taraporewala Aquarium mit seinen tropischen Fischen und dinierten in Restaurants abseits der Touristenströme. Ab und zu machten sie einen Abstecher ins gut 150 Kilometer entfernte Pune, um zu meditieren. Die Jetlys waren zwar wohlhabend – Anils Vater war brahmanischer Priester und stammte aus der obersten Kaste – seinen Reichtum stellte Nand Kumar aber absichtlich nicht zur Schau. Dafür verehrten ihn die Menschen aus tieferen Kasten, pflegte doch ein grosser Teil der Elite in den Wohnvierteln der reichen Oberschicht einen eigenen Lebensstil, abgekoppelt von der Realität des Durchschnittsinders.

Die Jetlys bewohnten ein einfaches, einstöckiges Haus, in dem es kaum elektronische Geräte gab: keinen Staubsauger, keinen Kühlschrank, kein Radio und Fernseher, keine Klimaanlage. Das Wasser zum Duschen wurde auf dem Dach durch die Sonne erhitzt und war im Sommer brühend heiss. In der engen und verwinkelten Küche, die lediglich mit einer kleinen Gasherdplatte ausgestattet war, wimmelte es von Kakerlaken. Insgesamt acht Personen – die Eltern, Anil, seine zwei Brüder und seine Schwester, eine Pflegetochter sowie Beatrix – teilten sich drei Zimmer. Bedienstete, die meist aus den benachbarten Slums stammten, wuschen die Kleider draussen an einem Bach von Hand und kümmerten sich um den Haushalt. Man kaufte in kleinen Geschäften, die Lebensmittel und andere Alltagsgegenstände im Sortiment führten, ein. Nand Kumar Jetly setzte sich für arme Menschen ein und gründete eine Schule für die «Unberührbaren». Sein Verhalten gegenüber den Angehörigen der niedrigsten Kaste war aber ambivalent. Einmal, als er mit Beatrix durch die Stadt spazierte, traf ihn der Schatten einer ärmlichen Person. Das beunruhigte ihn so sehr, dass er sich daheim sofort duschte. Keine Berührungsängste zeigten die Jetlys bei Beatrix. Das ist nicht selbstverständlich in einem Land, in dem noch heute rund neunzig Prozent der Ehen durch die Familie arrangiert werden. Sie schlossen die Schweizerin rasch in ihr Herz, empfingen sie mit offenen Armen. Nand Kumar rühmte ihre Kochkünste und fand, sie bereite den allerbesten Chai-Tee zu. Und schon bald machte Anil Beatrix einen Heiratsantrag.

Die Zeit in Indien empfand ich als eine der glücklichsten in meinem Leben. Ich war sehr verliebt. Bis zu unserer Hochzeit und unserer Abreise in die Schweiz wohnte ich im Haus meiner Schwiegereltern. Sie und die ganze Familie, vor allem meine Schwägerin Veena und die Pflegetochter Usha, gaben mir das Gefühl eines neuen Zuhauses. Ich lernte viele indische Gerichte kochen. Mein Schwiegervater, den ich sehr mochte, nahm mich oft mit zu seinen Verpflichtungen als Brahmane. Wir verbrachten eine wunderschöne Zeit zusammen.

Glücklich verliebt in Indien: Beatrix im Hochzeitskleid, einem roten Sari (oben), und mit Anil in Pune.


Irgendeinmal, im Sommer, tauchten im Haus Jetly Astrologen auf, die das ideale Hochzeitsdatum eruierten. Sie empfahlen den 12. Juli 1977. An diesem Dienstag begann ein dreitägiges, pompöses und generalstabsmässig organisiertes Hochzeitsfest nach indischem Brauch, zu dem 3900 Gäste erschienen, darunter hohe Politiker, Verwandte und praktisch das ganze Quartier. Die Jetlys errichteten über ihrem Wohnhaus eine Art Zelt und stellten im Garten eine Bühne auf, auf der das Brautpaar sass, fest verbunden durch ein rotes und ein weisses Band, neben ihnen stand eine Schale mit Feuer und Kokosnüssen. Beatrix, die zum Hinduismus konvertiert war, trug ein exklusives Hochzeitskleid, einen mit goldenen Mustern verzierten roten Sari. Ihre Hände waren mit Hennamustern bemalt. Auf dem Hochzeitsgelände wurden die Gäste mit einer Parfümdusche begrüsst. Am ersten Tag sangen und tanzten Transsexuelle, die Hijras, die in Indien als heilig gelten und deswegen oft zu Geburten, Hochzeiten und anderen Festen eingeladen werden. Für ihre Segnungen erhielten sie Geld. Für die eigentliche Zeremonie liefen Beatrix und Anil sieben Mal um das Feuer, in das sie Reis als Symbol für Reichtum und Milch für Reinheit gaben. Das Paar schwor einander mit einigen Sätzen auf Hindi ewige Liebe. Dass Beatrix ihren Eltern nichts von der Trauung erzählte und sie vor vollendete Tatsachen stellte, bereitet ihr noch heute ein schlechtes Gewissen.

Beatrix wollte mit Anil in Indien bleiben, dachte, sie würde vielleicht eine Stelle als Sekretärin beim Schweizer Generalkonsulat in Indien finden. Ihre Schwiegereltern hatten bereits eine Wohnung in Bombay für das frisch vermählte Paar organisiert. Doch Anil wollte sich unbedingt in der Schweiz niederlassen. Er hoffte, er könne sich in diesem westlichen und wohlhabenden Land eine neue Existenz aufbauen. Beatrix, die manchmal an Heimweh litt, gab Anils Drängen nach. Im November 1977 zog das Paar in die Schweiz, lebte zunächst in Wald im Kanton Appenzell Ausserrhoden und liess sich danach in der Stadt Zug nieder, wo Beatrix eine Stelle als Sachbearbeiterin bei der Firma 3M East AG antrat. Anil erhielt bei der Verzinkerei Zug eine Anstellung als Hilfskraft in der Elektroabteilung – Beatrix’ Eltern hatten ihm den Job vermittelt. Der Vater, ein Schriftsetzer, und die Mutter, Büroangestellte, verübelten ihr die spontane Hochzeit nicht. Sie nahmen den indischen Schwiegersohn wohlwollend auf.

Das Paar erlebte eine unbeschwerte Zeit. Anil fror zwar im Winter, Schnee und Kälte setzten ihm leicht zu, und Skifahren war seine Sache nicht, doch beim Schlitteln schlug er sich tapfer. Beatrix führte Anil zum Rheinfall in der Gemeinde Dachsen, ihrem Heimatort, den Anil unbedingt besuchen wollte. Und wenn die beiden jeweils mit dem VW-Bus ihrer Eltern zu einem Zeltplatz fuhren, kam sogar wieder ein bisschen Hippiestimmung auf. Beatrix war sich sicher, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, zu heiraten. Auch im Haushalt bewährte sich Anil; oft kochten sie gemeinsam Indisch, zum Beispiel Alu Gobi, ein Gericht aus Kartoffeln und Blumenkohl, oder Baingan Bharta, ein Gericht aus Auberginen. Anil mochte es gerne scharf und würzte die mild gekochten Speisen mit Chutneys. Das Paar unternahm viel mit Freunden vom indischen Verein in Zürich. Beatrix trug einen roten Strich auf ihrem Haarscheitel als Zeichen, dass sie verheiratet war. Ein bisschen Heimat in einem fremden Land, das wollte sie ihrem Gatten bieten. Sie spürte schon bald, dass Anil, auch wenn er schnell Deutsch lernte und rasch Freunde fand, Heimweh plagte. Beatrix’ Schwiegermutter Premdevi, die Anil sogar einmal zwei Monate lang in der Schweiz besuchte, schickte ihm fast täglich Briefe, die er mit seitenlangen Briefen beantwortete. Was genau Anil zu Tränen rührte, verriet er Beatrix nie. Aber sie störte sich an diesem fast unnatürlich engen Verhältnis, das Premdevi zu Anil pflegte, den sie mit bloss 13 Jahren geboren hatte. Sie verwöhnte ihn und sorgte sich ständig um ihn, vielleicht auch, weil er einst bei einem Motorradunfall in Indien fast ums Leben gekommen wäre. Bestimmt genoss Anil als ältester Sohn einen besonderen Status bei seiner Mutter, die selbst arg vom Schicksal gebeutelt wurde. Sie, die mit nur acht Jahren mit dem damals vier Jahre älteren Nand Kumar verheiratet worden war, erlitt sechs Fehlgeburten. Solche Heiraten sind in Indien seit 2006 offiziell untersagt. Dennoch gibt es in keinem anderen Land mehr Kinderehen: Gemäss Schätzungen der UNO werden fast die Hälfte aller indischen Frauen vor dem 18. Lebensjahr verheiratet.

Nicht ohne Simon

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