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Die Entführung
ОглавлениеSamstag, 28. November 1981, 9 Uhr, Moosmattstrasse 56, Luzern: Beatrix Smit fühlt sich unwohl in ihrer Dreizimmerwohnung. Heute ist wieder Besuchstag. Ex-Mann Anil, den sie in Indien geheiratet und einst geliebt hat, ein attraktiver Mann, längeres Haar, voller Bart, holt Asheesh ab. Er hat mehrmals gedroht, ihr den zweieinhalbjährigen Sohn zu entreissen. Auf juristischem Weg versuchte er, einen dreiwöchigen Besuch bei den Grosseltern in Indien zu erzwingen. Die zuständige Justizkommission des Kantons Zug winkte ab: «Es liegt doch wohl nicht im Interesse des Kindes, wenn es bereits als Kleinkind durch Eindrücke aus zwei vollkommen verschiedenen Kulturkreisen verwirrt würde und unter schlechten hygienischen Verhältnissen während seiner Ferien leben müsste.»
Szenenwechsel: Vor vier Tagen ist Irma Samir* auf der Treppe vor dem Bieler Amtshaus in einen Hungerstreik getreten.1 Ihr Mann Mahmoud*, ein Jordanier ägyptischen Ursprungs, ein Anhänger der Muslimbrüder, hat ihre drei Söhne an einem unbekannten Ort in Ägypten untergebracht. Das Zivilgericht Biel hat das Sorgerecht trotzdem dem Entführer zugesprochen. Beatrix verfolgt den Fall, über den die Medien ausführlich berichten, mit Sorge – es könnte auch ihr passieren. Väter, die sich mit ihren Kindern absetzen und sie in ihrer Heimat verstecken, sind kein Hirngespinst hysterischer Mütter, sondern traurige Realität.
Es ist kalt an diesem Wochenende, der Winter hält Einzug, es schneit bis in tiefe Lagen. Der «kalte Geselle», heisst es am Montag im Luzerner Tagblatt, sei wieder mit Urgewalt über die Lande gefegt und habe seine weisse Pracht abgeladen. Und Anil? Wird er, der wie damals, als die Ehe mit Beatrix noch funktionierte, in Zug wohnt, gut zu seinem Sohn schauen, ihn genug warm anziehen, die Windeln wechseln? Schon mehrmals war Asheesh nach dem Besuchstag erkältet, einmal hatte er sogar eine Lungenentzündung. Anil wisse offenbar nicht, wie man zu einem Kleinkind schaue, hielt Beatrix in einem Brief an die Frauenzentrale Zug fest. Sie hat ihn per Brief gebeten, Asheesh mindestens zwei Mal pro Tag zu wickeln, seine Kleidung dem Wetter anzupassen. Anil ereifert sich über die Anweisungen und lässt sich nichts sagen; er wisse schon, wie er mit seinem Sohn umzugehen habe. Eigentlich findet es Beatrix schon lange unverantwortlich, Anil das Kind zu überlassen, allein schon wegen der mangelhaften Pflege. An diesem Samstag, an diesem stürmisch-kalten Novembertag, ist das aber Beatrix’ kleinere Sorge. Die Angst, dass sich Anil mit Asheesh nach Indien absetzen könnte, betäubt Beatrix mit Schlafmittel – wie an vielen anderen Besuchstagen zuvor.
19 Uhr: Jetzt endet das Besuchsrecht. So steht es im Scheidungsurteil. Den gemeinsamen Sohn, ein pflegeleichter, gewiefter Junge, hat Anil schon öfters ein bisschen später zurückgebracht. Beatrix hat ihm das nicht verübelt, sie will ihm Asheesh nicht vorenthalten. Er liebt ihn, ja vergöttert ihn. Ein Kind, denkt Beatrix, ein Kind braucht Mutter und Vater, und Asheesh mag seinen Vater gerne. Jetzt aber, an diesem Abend, wächst die Unruhe, die Furcht, dass Anil seine Drohung wahr machen könnte. Er leidet an Heimweh. Eine kleine Rückversicherung hat Beatrix allerdings: Über Asheeshs Pass wacht sie, ohne Papiere kann er die Schweiz nicht verlassen.
19:30 Uhr: Die Tagesschau des Schweizer Fernsehens berichtet, dass in Genf eine sowjetische Delegation zu Abrüstungsgesprächen eingetroffen ist. Entspannt sich der Kalte Krieg? Für Beatrix verschärft sich die Situation, je länger der Abend dauert. Mit jeder Minute, die Anil überzieht, wandelt sich das ungute Gefühl in ein Stück mehr Gewissheit, dass er es doch getan hat, dass Anil heimlich nach Indien geflogen ist. Mit Sohn. Ohne Mutter. Zur Freude der Schwiegermutter, die sich nach ihrem Enkelkind sehnt und Anil fast täglich Briefe in die Schweiz schickt. Manchmal weint er beim Lesen.
20 Uhr: Asheesh ist immer noch nicht da. Um 21 Uhr auch nicht. Beatrix verständigt jetzt die Zuger Polizei, bittet sie nachzusehen, ob ein Vater mit einem Kind und «Töffli» in einem Strassengraben liege. Anil, der früher abstinent lebte, verfiel in der Schweiz dem Alkohol, holte Asheesh manchmal schon am Morgen betrunken für den Vatertag ab. Sich den Sohn frierend in einem Graben vorzustellen, ist kein angenehmer Gedanke, aber immer noch besser, als sich mit der Entführung Asheeshs zu konfrontieren. Die Zuger Polizei findet niemanden. Beatrix ruft ihre Eltern an und schildert ihre missliche Lage. An Schlafen ist nicht zu denken. Die Mutter bangt um ihr Kind.
Am nächsten Tag erstattet Beatrix beim Polizeiposten Luzern Strafanzeige gegen Anil wegen «Entziehen von Minderjährigen», ein Antragsdelikt, das mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft wird. Die Polizei nimmt den Fall auf und Beatrix’ Sorgen ernst. Sie und ihr Vater realisieren aber bald, dass die Staatsgewalt nichts mehr ausrichten kann. Das Schweizer Recht endet an der Schweizer Grenze, die Anil mit Asheesh bereits überquert hat.
Am Montag ruft Beatrix ihre Ex-Schwiegereltern an. Sie ist aufgeregt, zornig, schreit ins Telefon und erhält die Bestätigung, dass Anil Asheesh tatsächlich nach Indien verschleppt hat. Es dauert eine Weile, bis Anils Familie verrät, dass sich der noch nicht dreijährige Bub jetzt bei seinen Grosseltern befindet. Sie lassen zunächst nicht zu, dass Beatrix am Telefon mit ihrem Sohn sprechen kann. Er sei gerade nicht im Haus, teilen sie mit. Immer wenn Beatrix anruft, ist Anil unterwegs, zu Besuch bei Verwandten in Nordindien oder anderswo. Um Asheesh kümmert sich hauptsächlich die Grossmutter. Die Verantwortung für ein Kleinkind zu übernehmen, das ist Anil zu viel – es genügt ihm, Asheesh nach Indien und unter seine Kontrolle gebracht und ihn seiner Mutter weggenommen zu haben.
«Mami, ich Ferie gooh?», hatte Asheesh wenige Wochen vor seiner Entführung gesagt. Dabei waren Mutter und Sohn eben erst in Rimini gewesen. «Nein», sagte Beatrix, «wir fahren nicht schon wieder weg.» Wahrscheinlich hatte Anil Asheesh mit einem Ferienversprechen auf die Entführung vorbereitet. Hätte Beatrix doch reagiert und Asheeshs Frage richtig interpretiert! Dann hätte sich das Drama vielleicht verhindern lassen. Jetzt ist sie Irma Samirs Leidensgenossin.
In der Öffentlichkeit wurde die Problematik internationaler Kindesentführungen durch einen Elternteil vor Samirs Hungerstreik in Biel nicht wahrgenommen. Auch der Bundesrat hatte andere Prioritäten. Die Schweiz hatte zwar schon vor Asheeshs Entführung ein europäisches Abkommen über die Anerkennung und Wiederherstellung des Sorgerechts unterzeichnet. Es besagt, dass ins Ausland entführte Kinder wieder zu jenem Elternteil zurückzubringen sind, der das Sorgerecht innehat. Mit der Inkraftsetzung wartete der Bundesrat aber noch zu, da es nicht sinnvoll sei, die «Ratifikation voranzutreiben, ohne zu wissen, ob andere Staaten – namentlich diejenigen, in denen sich Kindesentführungen am häufigsten ereignen – bereit sind, sich an die Verpflichtungen des Übereinkommens zu halten».
Die Angst, die ich empfand, als ich mit Sicherheit erkannte, dass mein Kind von seinem Vater ohne mein Wissen sehr weit weggebracht worden war, wünsche ich niemandem – es war ein Albtraum. Hinzu kam, dass ich bald merken musste, dass keine rechtlichen Massnahmen griffen. Leider war und ist es bis heute so. Ich fordere von der Politik und den Behörden gesetzliche und politische Vorschläge und Massnahmen, welche den Betroffenen und ihren Kindern helfen. Beratungsstellen für binationale Ehen beispielsweise sollten unbedingt bekannter gemacht und betroffene Personen sensibilisiert werden.