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Elterndank

Nativistischer Elterndank ist die Empfindung, dass man ohne die progenerative Entscheidung der eigenen Eltern niemals in den Genuss der Existenz gekommen wäre. In der Bewandtnis eines nativistischen Fehlschlusses wird überlegt: „Hätten meine Eltern mich nicht gezeugt, würde es mir nicht so gut gehen, wie es mir tatsächlich geht.“ Um einen nativistischen Fehlschluss handelt es sich deshalb, weil es „mir“ durchaus nicht irgendwie „ergangen“ wäre, hätte ich niemals zu existieren begonnen. Um dies einzusehen, ist es erforderlich, über den Schatten der eigenen Existenz zu springen. Daseinsdankbarkeit

Elterndank zweiten Grades

Die Frage stellt sich, ob sich sinnvoll von einem Elterndank zweiten Grades reden lässt: Dankbarkeit des Kindes, weil seine Eltern bereit waren zu akzeptieren, wen immer sie da gezeugt haben mochten, den „eigenen“ großen Unbekannten blind anzunehmen. Aber ein solcher Elterndank zweiten Grades hätte nur dann seine Berechtigung, wenn es so wäre, dass Kinder sich ihren Eltern existentiell aufdrängen. Eher das Gegenteil ist ja der Fall: Kinder werden „ins Dasein gerufen“.

Goethe (1749–1832)

In mustergültiger Form finden wir den Elterndank in Goethes Trauerspiel „Stella“ in Worte gekleidet: „Ich dank's meinem Vater, daß er mich auf die Welt gesetzt hat, denn ich lebe gern und vergnügt.“ (Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 4, S. 317)In diesem schlichten daseinspositiven Satz schwingt mit: Hätte mein Vater mich nicht gezeugt, wären mir all die schönen Dinge des Lebens entgangen. Nichtzeugung wird als Daseins-Deprivation imaginiert

Adolph Freiherr von Knigge (1752-1796)

Knigge sagt zwar nicht, es gehöre zum richtigen Umgang mit Menschen, dass man sie zeugt, sehr wohl aber, dass sich Kinder gegen ihre Erzeuger erkenntlich zeigen, da es ja immerhin eine Mühe war, sie ins Dasein zu rufen und aufzuziehen:

„Das erste und natürlichste Band unter den Menschen, nächst der Vereinigung zwischen Mann und Weib, ist von jeher das Band unter Eltern und Kindern gewesen. Wenngleich das Zeugungsgeschäft nicht eigentlich absichtliche Wohltat für die folgende Generation ist, so gibt es doch wenig Menschen, die nicht ganz gut damit zufrieden wären, daß jemand sich die Mühe gegeben hat, sie in die Welt zu setzen; und obwohl in unsern Staaten die Eltern ihre Kinder nicht bloß aus freiem Willen auferziehen, nähren und pflegen [Staatsnatalismus], so ist es doch abgeschmackt zu sagen: die mannigfaltige Bemühung, welche dies erfordert und nach sich zieht, lege keine Art von Verbindlichkeit auf, oder es sei nicht wahr, daß ein Zug von Wohlwollen, Sympathie und Dankbarkeit uns den Personen näherbringe, deren Fleisch und Blut wir sind, unter deren Herzen wir gelegen, die uns gefüttert, für uns gewacht, gesorgt, die alles mit uns geteilt haben.“ (Knigge, S. 145)

Zu Knigges nativistischer Anstandsregel nehmen wir wie folgt Stellung: Dankbarkeit kann es nicht für das Hervorgebrachtwordensein, sondern nur für die Art und Weise des Aufgezogenwordenseins geben. Wurde den eigenen Eltern ein hohes Maß an antinatalistischer Aufklärung zuteil, so schwindet allerdings auch diese Dankbarkeitspflicht, da wir es sodann mit einer gleichsam kaltblütigen Zeugung trotz wissen um die neganthropischen Folgen zu tun haben.

Interessant ist Knigges Passus, das Zeugungsgeschäft sei nur eine beiläufige Wohltat für die kommende Generation. Dürfen wir dem entnehmen, die Menschheit wäre schon längst ausgestorben, wenn das Zeugungsgeschäft selbst keine Wohltat, sondern eher Mühsal wäre?

Hinter der von Knigge erwähnten Zufriedenheit der Allermeisten mit der eigenen Existenz steht freilich, dass die Allermeisten sich die eigene Nichtexistenz nur als Welt vorstellen, in der sie nicht mehr sind – aus der sie also herausgestorben sein müssten – und nicht als Welt, in die ihre Eltern sie niemals hineingezeugt hätten. Wobei in letzterem Falle niemandem das Dasein vorenthalten geblieben wäre.

Dass laut Knigge die Zeugung von Menschen nicht unbedingt zum richtigen Umgang mit ihnen gehört, dürfen wir folgender Stelle entnehmen:

„Das Mädchen hat Langeweile bei der alten Mutter und vergißt, wie manche langweilige Stunde diese bei seiner Wiege, bei Wartung desselben in gefährlichen Krankheiten oder bei den kleinen schmutzigen Arbeiten zugebracht, wie sie sich in den schönsten Jahren ihres Lebens so manches Vergnügen versagt hat, um für die Erhaltung und Pflege des kleinen ekelhaften Geschöpfs zu sorgen, das vielleicht ohne diese Sorgfalt nicht mehr dasein würde. Die Kinder vergessen, wieviel schöne Stunden sie ihren Eltern durch ihr betäubendes Geschrei verdorben, wieviel schlaflose Nächte sie dem sorgsamen Vater gemacht haben, der alle Kräfte aufbot, für seine Familie zu arbeiten, sich manche Bequemlichkeit entziehn, vor manchem Schurken sich krümmen mußte, um Unterhalt für die Seinigen zu erringen.“ (Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 149f)

Hier erscheint das Kind weniger als ein Wesen, das von den Eltern bittend ins Dasein gerufen wird, denn vielmehr als Tyrann, der sich Eltern, die im Zeitalter Knigges ohne moderne Verhütungsmittel auskommen mussten, ungebeten aufnötigt und dankbar sein darf, wenn man ihn trotz seiner „Ekelhaftigkeit“ durchbringt. Mitleid und Dankbarkeit verdienen in der Tat insbesondere die Mütter, die ohne Mitspracherecht fast die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch als Menschengeneratoren fungierten und sich oft genug für die quasi naturwüchsig aus ihnen hervorgehenden Kinder aufopferten, auch wenn sie Spielraum für weniger Einsatz gehabt hätten.

Gustav Freytags (1816–1895) Ahnendank

Bei Freytag sehen wir den Elterndank gar zu einem geforderten Ahnendank ausgeweitet: „Denn wir im Dorfe meinen, daß es ohne Eltern keine Kinder gibt und dass die Enkel guttun, an die Mühen ihrer Vorfahren zu denken.“ (Gustav Freytag: Die Ahnen, S. 516) Freilich ist dieser Aufruf zu Eltern- und Ahnendank selbstwiderlegend: Appelliert wird an die Mühsal der Vorfahren, ohne die man vielleicht gar nicht existieren würde. Dieser Appell vergisst, dass die Mühen der Ahnen von gestern die Mühsal der Kinder von morgen sind, die man folglich besser nicht zeugt.

Baronesse de Fresne und das Strafmaß des Niemalsgeborenseins

In ihren „Maximen der wahren Eleganz“ verhängt die Baronesse de Fresne für mangelnden Elterndank bei sozial ungünstiger Geburt das Strafmaß des Nichtgeborenseins. Wer mit seinem niedrigen sozialen Stand nicht zufrieden ist, gehöre ungeboren – was wohl so viel bedeutet wie ungeschehen gemacht:

„Leben Eure Eltern nicht im Wohlstande, so müßt Ihr um desto rücksichtsvoller gegen sie sein. Wehe dem Kinde, das über seine Eltern, seine Familie, erröthet. Wer seine Geburt verachtet, verdiente, gar nicht geboren zu sein.“ Elternundank ist bei Strafe einer symbolischen Rücknahme des Daseins nicht vorgesehen. Die Dankbarkeit, die Kinder ihren Eltern für das Geschenk des Lebens schulden, tragen sie ab, indem sie ihnen im Alter eine Stütze sind: „Euer kräftiger Arm diene Dem als Stütze, der Eure ersten Schritte lenkte; erstattet ihm in dieser Beziehung hundertfach die Schuld der Dankbarkeit.“ (Baronesse de Fresne, Maximen der wahren Eleganz…, S. 25.)

Swift, Jonathan (1667–1745)

Spätestens im Zeitalter der Aufklärung – kulminierend in dem, was wir die Natalschuldumkehr nennen – setzt zaghaft eine den Elterndank hinterfragende Gegenbewegung ein. Zu den Betreibern einer Umkehrung der nativistischen Denkungsart gehört Jonathan Swift, der unter dem Deckmantel der Satire gewichtige Kritik am Fortzeugungszusammenhang vorträgt, indem er über die Liliputaner ausführt:

„Die Begriffe von den gegenseitigen Pflichten der Eltern und Kinder sind gänzlich von den unsrigen verschieden. Da nämlich die Verbindung der Männer und Frauen, wie bei allen Tierarten, auf Naturgesetzen beruht, behaupten sie durchaus, daß Männer und Frauen sich nur deshalb vereinigen; die Zärtlichkeit gegen die Jungen folge aus demselben Grundsatz; deshalb wollen sie nicht zugestehen, ein Kind sei den Eltern für sein Dasein verpflichtet, das ohnedies wegen des menschlichen Elends keine Wohltat sei; auch bezweckten die Eltern keine Wohltat, sondern dächten bei ihren verliebten Zusammenkünften an ganz andere Dinge. Wegen dieser und anderer Schlußfolgerungen sind sie der Meinung, Eltern dürfe man am wenigsten unter allen Menschen die Erziehung der Kinder anvertrauen.“ (Swift, Gullivers Reisen, S. 60. Vgl. Gulliver’s Travel, S. 68f)

Diese Passage aus Gullivers Reisen ist ein Meilenstein der Nativitätskritik: Ohne Umschweife erklärt Swift, das vermeintlich geschenkte Dasein sei durchaus keine Wohltat, weshalb Kinder ihren Eltern auch keinen Dank schuldeten. Wir fügen dem an, dass es vom Maß der Elternfreiheit und der Verbreitung antinatalistischer Aufklärung abhängt, ob und inwiefern Kinder ihren Eltern Dank schulden mögen.

Generationenvertrag, Natalschuldumkehr

Antinatalismus

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