Читать книгу Antinatalismus - Karim Akerma - Страница 241
ОглавлениеElternpflicht als Daseinsversöhnungspflicht
Gründet metaphysische Elternschuld darin, dass Kinder notwendigerweise ungefragt zur Welt kommen, während es ethisch geboten wäre, sie zu fragen, ob sie dies möchten, so gründet Elternpflicht darin, den Hiatus zwischen dem Dasein des Kindes und seinem stets fraglichen Seinwollen nach Kräften zu kitten. „Wir schulden uns unseren Kindern“, schreibt Balzac in seinem Roman „Eugenie Grandet“ (S. 227). Kant brachte dies zum Ausdruck, indem er eine Umkehrung der Denkungsart begründete (Natalschuldumkehr), wonach es nicht die Pflicht der Kinder ist, ihren Eltern für das eigene Dasein zu danken, sondern vielmehr die Pflicht der Eltern, ihre Kinder mit dem unerbetenen Dasein zu versöhnen. An die Stelle geforderter kindlicher Daseinsdankbarkeit lässt Kant elterliche Pflicht zur Daseinsversöhnung treten. Kant wird sich darüber im Klaren gewesen sein, dass eine vollständige Daseinsversöhnung etwas ist, was Eltern nicht zu leisten vermögen, eine unerfüllbare Pflicht also, die direkt zur Position des Antinatalismus führt. Weshalb er die elterliche Daseinsversöhnungspflicht nur bis zum Erreichen der Volljährigkeit gelten ließ.
Eine Fortschreibung der von Kant eingeleiteten Umkehrung der nativistischen Denkungsart in Sachen elterlicher Versöhnungspflicht (Natalschuldumkehr) findet sich beim Psychoanalytiker Sandor Ferenczi (1873-1933) in einem Atemzug mit einer Umpolung von Freudschem Lebenstrieb und Todestrieb. Anders als bei Freud der Fall, beginne kindliches Leben nicht mit überwiegendem Lebenstrieb, sondern mit einem ausgeprägten Todestrieb. Für diese Neuzuordnung des Todestriebs in die Frühzeit des Kindes macht Ferenczi geltend, dass das Kind sich vom Nichtsein in weniger starkem Maße emanzipiert hat als der Erwachsene. Diesem Gedanken parallel läuft eine Überlegung Ferenczis, wonach die Lebewesen einst dem schützenden Meer entstiegen, was sie fortan als Rückkehrwunsch zumindest in ein umgebendes Fruchtwasser mit sich herumtrügen. Was den Menschen angeht, so emanzipiere er sich erst mit dem Erwachsenwerden von der Vorherrschaft der rückkehrwilligen Triebe – die nur im Tod an ihr Ziel gelangen könnten – zugunsten des lebensbejahenden Triebs. In diesem Geflecht aus individueller Nichtsnähe des Kindes und phylogenetisch mitgeschleppter Regressionswilligkeit als vorherrschender Todestrieb residiert für Ferenczi die von ihm folgendermaßen dargestellte Elternpflicht:
„Das Kind muß durch ungeheuren Aufwand von Liebe, Zärtlichkeit und Fürsorge dazu gebracht werden, es den Eltern zu verzeihen, daß sie es ohne seine Absicht zur Welt brachten, sonst regen sich alsbald die Zerstörungstriebe. Und das ist eigentlich nicht zu verwundern; ist doch der Säugling dem individuellen Nichtsein noch viel näher und ihm nicht durch Lebenserfahrung entrückt, wie der Erwachsene. Das Zurückgleiten in jenes Nichtsein mag also bei den Kindern viel leichter vor sich gehen. Die den Schwierigkeiten des Lebens standhaltende „Lebenskraft“ ist also nicht eigentlich angeborenerweise von großer Stärke, sondern sie befestigt sich anscheinend nur, wenn taktvolle Behandlung und Erziehung eine fortschreitende Immunisierung gegen physische und psychische Schäden allmählich herbeiführen. Entsprechend dem Abstieg der Morbiditäts- und Mortalitätskurve im mittleren Lebensalter, dürfte also der Lebenstrieb den Vernichtungstendenzen erst im Alter der Reife die Waage halten.“
(S. Ferenczi, Das unwillkommene Kind und sein Todestrieb, Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse, herausgegeben von Sigm. Freud, XV. Band 1929 Heft 2/3, S. 153
Internet: http://www.archive.org/stream/InternationaleZeitschriftFrPsychoanalyseXv/IZ_XV_1929_Heft_2_3_djvu.txt)
Da laut Ferenczi das Vermögen, mit Lebenswidrigem fertigzuwerden erst mit den Jahren ausgebildet wird, könne es fatale Konsequenzen zeitigen, wenn Eltern ihren Kindern nicht mit einem Höchstmaß an Zuwendung signalisieren, dass es in der Welt willkommen ist. Aus seiner Praxis bietet Ferenczi einen Fall, in dem bei einer Person aus dem empfundenen Unwillkommensein [Entschuldigung, dass ich geboren bin] in der Welt nicht bloß suizidale Tendenzen erwuchsen, sondern überdies ein larviertes Fragen danach, warum man sie überhaupt ins Dasein gerufen habe:
„Als ein besonders schwerer Fall von seit Kindheit bestehender Lebensunlust entpuppte sich der Fall von Alkoholismus bei einer noch jugendlichen Dame, die natürlich auch Schwierigkeiten in der analytischen Situation wiederholt zum Anlaß zu nur schwer beherrschbaren Selbstmordimpulsen nahm. Sie kann sich erinnern, aber auch Mitglieder ihrer Familie bestätigen es, daß sie als drittes Mädchen einer knabenlosen Familie höchst unliebsam empfangen wurde. Sie fühlte sich natürlich unschuldig und trachtete durch frühreifes Grübeln den Haß und die Ungeduld der Mutter zu erklären. Eine Neigung zu kosmologischer Spekulation mit einem Einschlag von Pessimismus behielt sie zeitlebens bei. Ihre Grübeleien über die Herkunft alles Lebendigen waren gleichsam nur die Fortsetzung der unbeantwortet gebliebenen Frage, warum man sie denn überhaupt zur Welt gebracht hat, wenn man sie nicht freundlich zu empfangen gewillt war.“ (Sandor Ferenczi, Das unwillkommene Kind und sein Todestrieb, Internationale Zeitschrift
für Psychoanalyse, herausgegeben von Sigm. Freud, XV. Band 1929 Heft 2/3, S. 152 Internet: http://www.archive.org/stream/InternationaleZeitschriftFrPsychoanalyseXv/IZ_XV_1929_Heft_2_3_djvu.txt)
Einige Sätze aus den oben zitierten Paragraphen hat Hans Blumenberg in seinem Werk Höhlenausgänge zitiert, wo wir zuallererst auf Ferenczis Elternpflicht stießen. Bei Blumenberg ist kurz zu verweilen, weil er im Brückenschlag von Ferenczi zurück zu Kant und zu den griechischen Tragikern das Ausmaß elterlicher Schuld im Zeugungskontext mit der Bewertung „niemals auszugleichendes Schuldverhältnis“ auf forcierte Weise zutage treten lässt:
„Wenn es nach dem Wort der griechischen Tragödie für den Menschen besser wäre, nicht geboren zu sein, und sich diese tragische Quintessenz vor dem Blick des psychologischen Analytikers umsetzt in den Sachverhalt, dass die Ausstoßung der Leibesfrucht aus ihrer Höhle, wie aus dem in Urzeiten verlorenen Schoß des Meeres, die im Tod und nur durch ihn zurückgenommene Kränkung des davon betroffenen Wesens ist, dann können diejenigen nicht schuldig genug sein, die dies erstlich und letztlich zu vertreten haben. Aus der traulichen Idylle der Familie, der Besorgtheit der Eltern mit ihren Kindern, ist ein letztes und niemals auszugleichendes Schuldverhältnis geworden. Die ganze Nichtrechtfertigung des Lebens als solchen sich zurechnen zu lassen, können Eltern üblicherweise nicht zu einem adäquaten Ende bringen, auch wenn ihnen schon Kant entgegen aller klassischen und landläufigen Ethik auferlegt hatte, das ohne seine Einwilligung entstandene Wesen mit dem Faktum seiner Existenz auszusöhnen.“ (Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 73f)
Jemanden zu zeugen, fährt Blumenberg fort, ist vor diesem Hintergrund eine Verfehlung von solchem Ausmaß, dass man ihre Behandlung in die Hände eines Fachmannes legen muss, in die Hände eines Psychoanalytikers – „jedenfalls am wenigsten in die Hände derer, die sich doch nur aus diesem metaphysischen Vorwurf herauszureden gesonnen sein würden.“ (A.a.O., S. 74)
Andere Fachleute, in deren Hände Blumenberg die mit jeder Zeugung einhergehende Verfehlung an dieser Stelle nicht legt, sind Philosophen wie er einer ist. Philosophen nämlich, die aus den Konsequenzen der jedesmaligen Zeugungsverfehlungen – die sich zum Experimentum mundi summieren – den Schluss ziehen, dass besser keine Menschen mehr hervorzubringen sind. Davon, dass Blumenberg selbst unter diese Philosophen zu rechnen ist, auch wenn er seine Nähe zum Antinatalismus nirgends explizit zu machen scheint und sie immer nur mittels thematischen Fügungen und Konstellationen von Zitaten durchschimmern lässt, zeugt die Anwesenheit weiterer antinatalistischer Arrangements an diversen anderen Stellen seines Werks.
Schaffung von Daseinsbewältigungskompetenz als Elternpflicht (Schopenhauer)
Schopenhauer sagt: „Nur eine Verpflichtung ist mir bekannt, die nicht mittels einer Übereinkunft, sondern unmittelbar durch eine bloße Handlung übernommen wird; weil der, gegen den man sie hat, noch nicht da war, als man sie übernahm; es ist die der Eltern gegen ihre Kinder. Wer ein Kind in die Welt setzt, hat die Pflicht, es zu erhalten, bis es sich selbst zu erhalten fähig ist.“ (Die beiden Grundprobleme der Ethik, SW III, S. 754)
Hier erweist sich Schopenhauer als weniger radikal denn Kant: Kant hatte eigens die Zustimmungslosigkeit betont, mit der jeder von uns ins Dasein tritt, weshalb er von den Eltern nicht bloß die Versorgung der Kinder bis zur Selbsterhaltungsfähigkeit (wie wir sie ja auch aus dem Tierreich kennen), sondern eine Versöhnung der Kinder mit ihrem Dasein forderte. Schopenhauer hätte es angestanden, Kants Revolutionierung der nativistischen Denkungsart (nicht die Kinder sollen ihren Eltern Dankbar sein, sondern die Eltern verpflichtet, ihre Kinder so zu behandeln, dass sie das Dasein selbst gewählt haben würden), fortzudenken.
Unweigerlich wird jedes Kind zum Erwachsenen und schließlich zum Greis, der sich irgendwann selbst nicht mehr erhalten kann und schließlich – Beweis des sich nicht länger Erhaltenkönnens – stirbt. Insofern gilt: Da kein Mensch sich dauernd erhalten kann, sondern das Sicherhaltenkönnen nur eine vorübergehende Phase im Dasein eines jeden ist, stehen alle Daseinstäter gemäß dem von Schopenhauer – wohl unwillkürlich – paraphrasierten Diktum Kants doppelt in der Schuld ihrer Kinder. Sofern Eltern zumeist bereits gestorben (Primortalität) oder doch zumindest entkräftet sind, wenn der eigene Nachwuchs vergreist und selbsterhaltungsunfähig wird, bleibt die Zeugung von Menschen unverantwortlich: Kein Kind kann sich dauerhaft im Dasein erhalten, sondern immer nur vorübergehend.
Existenzbeginn als wiedergutmachungspflichtige Vergewaltigung (Rose Schwarz)
Dass Eltern generell in der Schuld ihrer Kinder stehen und nicht umgekehrt, erfasst klarsichtig Rose Schwarz: „Kinder werden niemals befragt, ob sie das Licht der Welt zu erblicken wünschen; ihre Zeugung und Geburt ist also bereits ein Vergewaltigungsakt, zu dessen Wiedergutmachung Eltern ein für alle Mal verpflichtet sind.
Sie sollen nach bestem Wissen und Willen für ihre Kinder sorgen und sie zu möglichst nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft erziehen. Diese Erziehung soll dem Kind dienlich sein, nicht den Eltern. Axiome wie 'Kinder haben sich völlig nach den Eltern zu richten' oder 'Eltern wollen von ihren Kindern auch was haben' sind, wenn auch nicht grade verbrecherisch, so doch immerhin albern.“ (Rose Schwarz, Das „Problemkind“ und die neue Schule, in: Die Weltbühne. 27/1931. Nr. 18, 5.5.1931, S. 649-651, hier S. 649. Fund: GK)
Dem wäre nur anzufügen, dass die Autorin das nativistische Patt übersieht.
Blumenberg, Entschuldigung, dass ich geboren bin!, KantBlumenberg bedenkt Kant, KomplizenschaftBlumenberg