Читать книгу Andreas Herzog - Mit Herz und Schmäh - Karin Helle - Страница 11
KAPITEL 4: LINKES PRATZERL, DURCHSCHNITT UND EIN DYNAMISCHES SELBSTBILD ADMIRA WACKER 1974–1983
ОглавлениеJeder Mensch verfügt über Talente – und manche sogar über eine ganz besondere, einmalige Veranlagung, einem Alleinstellungsmerkmal. Stellen Sie sich vor, Sie hätten genau so ein Talent. Und einen Förderer und Forderer in Ihrer Nähe, der genau das in Ihnen sehr schnell erkennt. An anderer Stelle haben wir schon darauf verwiesen, dass es eine Gnade sein kann, seine ganz besondere Stärke möglichst früh wahrzunehmen, genauso wie die Möglichkeiten und den Freiraum, eben dieses ständig weiterzuentwickeln.
Bei Andi Herzog war es das „linke Pratzerl“, wie er es im Wiener Dialekt gerne nennt, im ursprünglichen Sinne eigentlich die linke „Pfote“, im Ruhrgebietsfußball auch die linke „Klebe“ genannt. Auf den Punkt gebracht: sein linker Fuß. Dazu der Vater, ebenfalls Fußballprofi, für damalige Verhältnisse gut vernetzt und vor allem mit reichlich Fußball-Know-how ausgestattet: Er hatte das Spiel nicht nur verstanden, sondern vor allem in allen Facetten gelebt. Zudem war da noch Andis riesiger Spielplatz, der seinesgleichen suchte.
Die Südstadt ist ja ein wunderschönes Trainingszentrum. Und ich bin auf allen Plätzen und in der ganzen Umgebung herumgelaufen. So bin ich schon als kleiner Bub mit Fußball infiziert worden. (Andreas Herzog)
Optimale Bedingungen also, um eine einzigartige Karriere zu starten. Hier hatte er alle Freiräume und konnte die Grundlagen – neudeutsch Basics („I red schon wie der Kleine.“) – trainieren. Eben Außenrist, Innenrist, Ballannahme, mit dem nächsten Kontakt gleich weiterspielen, Tempo gehen, Dribbling, am Gegenspieler vorbei – den Ball aus allen Positionen spielen, automatisieren, üben, üben, üben. Und vor allem: eigene Wege und Lösungen finden.
Und beste Voraussetzungen, um das erwähnte linke Pratzerl zu entwickeln. Überhaupt ist es ja so eine Sache mit den Linksfüßern. So sind sie einerseits im Fußball rar gesät. Hätten Sie beispielsweise gedacht, dass in Andi Herzogs Bundesligazeit nur 72 der 400 Bundesligaspieler den linken Fuß zum Schießen nutzten? Und Werder Bremen gleich als Abstiegskandidat galt, als Herzog einmal am Fuß operiert werden musste? Andererseits gelten Linksfüßer häufig als die Regisseure des Platzes, denn sie fallen in der Regel aus der Norm – durch besonderes Ballgefühl, Intuition und Erfahrungswissen.
„Sie sind extravagant und machen extravagante Dinge“, meinte einst Felix Magath, übrigens ebenfalls einer von ihnen und Schütze des legendären 1:0-Endergebnisses im Landesmeisterfinale des HSV (Trainer Ernst Happel) gegen Juventus Turin im Jahr 1983 – ebenfalls mit links. Technik, Bewegungsablauf, Wahrnehmung – geniale Linksfüßer haben einfach ein unbeschreibliches Timing und Gefühl für den rechten Moment und für ihr Gegenüber, meist Rechtsfüßer, sind einfach schwer zu durchschauen.
Natürlich profitieren heute Spieler, die von Geburt an einen starken, linken Fuß haben, weil es nur wenige von ihnen gibt. Es wurde ihnen sozusagen in die Wiege gelegt … Doch so einmalig es ist, wie Herzogs linkes Pratzerl ihm zu einer internationalen Karriere weit über Österreichs Grenzen hinaus verholfen hat, so sensibel reagiert er auch, wenn es um das Thema „Beidfüßigkeit“ oder „Allroundkönner“ geht – und schon sind wir mittendrin in einer Diskussion um neuzeitliche Trainingsmethoden, Talentförderung und Gleichmacherei.
Ich hatte immer einen starken linken Fuß. Das war meine Waffe. Hätte ich als Jugendlicher meinen rechten Fuß trainiert und den linken vernachlässigt, wäre ich beidseitig Durchschnitt geworden – und hätte mich meiner größten Waffe beraubt. (Andreas Herzog)
Gerne zitiert Herzog hier Toni Schumacher in Sachen „Rundum-Könner“ („Bravo, Toni“ – O-Ton Herzog), der unlängst im „Kicker“ davor warnte, dass Deutschland, einstmals Land der Torhüter, nur noch Allroundkönner ausbildet: „Irgendwann wird so viel Wert auf Fußarbeit und Spielaufbau gelegt, dass man auch einen Feldspieler ins Tors stellen kann, der ein bisschen Talent dazu hat. Aber wo bleiben Dominanz, Mut, Reflexe, das Eins-gegen-eins? Wo die Fähigkeit, seine Vorderleute zu dirigieren?“
„Zu viel Durchschnitt durch zu viel Gleichmacherei“, so Herzog. Dabei beweisen die Großen ihres Faches genauso wie alle anderen Ausnahmekönner auf dem Platz, wie wichtig es ist, über eine einzigartige „Waffe“, eine ganz besondere, individuelle Stärke zu verfügen, um sich damit von der Masse abheben zu können – und diese ständig zu schärfen.
In der Pädagogik spricht man von „Stärken stärken“. Doch auf dem Platz wie auch in der Schule wird selten differenziert und noch seltener individuell gearbeitet. Wie auch, bei großen Trainingsgruppen und noch größeren Schulklassen. „Normalerweise brauchst du mindestens zwei Trainer pro Team, einen für die Defensive und einen für die Offensive. Doch das ist in der Realität meist nicht machbar – oder den Traditionalisten des Fußballsports zu modern“, meint Herzog.
Zudem soll man in der Regel das lernen, was man nicht kann, um das ein bisschen besser zu können. Also eher „Schwächen schwächen“ statt „Stärken stärken“. Doch das wiederum geht auf Kosten der individuellen Marke, des eigentlichen Talents. Da ist sich Andreas Herzog zu 100 Prozent mit einem anderen Linksfuß und Ausnahmetalent, nämlich Arjen Robben, einig – und der augenscheinlichen Tatsache, dass ein Superfuß zur Weltklasse reicht.
Ich bin damit nicht so einverstanden, dass die Jungs zur Beidfüßigkeit gedrillt werden; man kann den schwachen Fuß doch nur ein bisschen verbessern. Wenn du dauernd beide Füße schulst und damit auf einer Skala von eins bis zehn eine Sieben oder Acht hast – oder auf dem einen Fuß eine Zehn und auf dem anderen eine Fünf, ist mir das zweite Modell lieber. (Andreas Herzog)
Um bei Arjen Robbens Bild zu bleiben: Die Realität findet sich meist im ersten Modell wieder – der täglichen Auseinandersetzung mit den eigenen Schwächen. Und ob gewollt oder nicht, man orientiert sich auf diese Weise am Durchschnitt. Denn wird man täglich dazu angehalten, sich mit seinen Defiziten auseinanderzusetzen, statt die kostbaren Zeit mit den Stärken zu verbringen, reiht man sich automatisch ins Mittelmaß ein. Eben Durchschnitt, statt besondere Leistungen.
Wie gut, dass Herzog in seiner Kindheit und Jugend auf ein offeneres Umfeld gestoßen ist, eines, in dem er sich ausprobieren konnte. Sich einfach entwickelte, wie es ihm guttat. Eben einfach spielen und eigene Wege der Ballannahme finden, ohne ständige Vorgaben von Trainern oder Vertretern von Akademien, die häufig viel zu früh Systeme einpauken, statt den Freiraum zur Selbstentwicklung zu bieten.
Vielleicht lag es auch daran, dass die Konkurrenz und der damit verbundene Druck ein anderer war. Wunderbar spiegeln kann sich Herzog jedenfalls täglich im Tun seiner Kinder. Während der jüngere Sohn Louis ein Rechtsfuß ist und zudem in erster Linie über Leidenschaft und Biss kommt, erkennt er sich in Luca und dessen Spielweise häufig wieder: „Der Große ist eins zu eins ich, nur waren die Zeiten damals anders. Ich war mit Abstand der Beste im Nachwuchs, da hast du dir mehr erlauben können.“
„Stark, ihm habe ich immer gerne zugesehen“, meldete sich ein bekannter Sportjournalist von „Zeit-Online“ via Textmessenger, nachdem ich ihm ein Foto von Andi Herzog und mir als kleinen Gruß gesandt hatte. Und weiter: „Pässe, Tore, Linksfuß. Konnte mit einem Kaugummi jonglieren.“ Was für ein wunderbares Bild. So ein Talent entwickelt sich nur durch Luft und Freiraum und Hilfe zur Selbsthilfe. Eben durch ausprobieren dürfen, und nicht durch in ein enges System-Korsett pressen.
Doch wieder zurück zur chronologischen Herzogschen Fußballhistorie: Von 1974 bis 1983 kickte Andreas Herzog für den FC Admira Wacker, legte hier den Grundstein für seine außergewöhnliche Karriere und konnte vor allem eins: Seine Stärken stärken – eben das linke Pratzerl. Oder frei nach Bruce Lee: „Ich fürchte nicht den Mann, der zehntausend Tritte einmal geübt hat, sondern den, der einen Tritt zehntausend Mal geübt hat.“ So oder ähnlich dachte wohl auch Anton „Burli“ Herzog, der die einzigartige Waffe im Spiel seines Sohnes erkannte, schärfte und zur Entwicklung beitrug – indem er ihn in den ersten Jahren intensiv begleitete.
Von klein auf war mein Vater mein Trainer bei Admira Wacker, dann habe ich wieder einen anderen Trainer gehabt, dann in der A-Schüler war er wieder mein Trainer, dann noch einmal im U15-Leistungszentrum, bis ich zu Rapid gewechselt bin. (Andreas Herzog)
Anton Herzog, den übrigens alle deswegen „Burli“ riefen, weil er schon mit 16 für die Kampfmannschaft des SC Wacker Wien in Obermeidling auflief, muss seiner Zeit voraus gewesen sein. Er nahm das Talent seines Sohnes wahr und wusste, dass das spielerische Element gefördert und gefordert werden musste. Eben nicht dem Ball hinterherlaufen und in Defensive denken, sondern offensiv nach vorne, sich einfach frei entfalten. Individualität fördern, statt Einheitsbrei fordern.
Es waren andere Zeiten, das klingt jetzt brutal, aber er hat genau gewusst, dass ich als kreativer Spieler, als sensibler Spieler eine andere Pflege, eine andere Behandlung wie jeder andere Spieler brauchte.
Ich war halt der spielerische Typ, der jetzt nicht unbedingt nach hinten viel gelaufen ist, auch im Nachwuchs schon, und da waren oft Phasen, wenn ich Trainer gehabt habe, die das total negativ gefunden haben, die mich auf das Defensive drillen wollten, dann ist er dazwischengegangen. (Andreas Herzog)
Der frühere Nationalspieler fand die richtige Mischung für seinen Sohn: Intuitiv gab er seinem Jungen genügend Freiraum, um so die Kreativität zu fördern, damit er sich spielerisch entwickeln konnte – andererseits stellte er ihn immer vor neue Herausforderungen.
Ich war häufig der jüngste Spieler, mein Vater hat mich immer dazugenommen. So war er mein Trainer bei den A-Schülern, obwohl ich noch zwei Jahre jünger war. Aber so habe ich gelernt, mich durchzusetzen. Weißt eh, ich war schon extrem talentiert, aber der Kleinste von allen, war feig, bin in keinen Zweikampf gegangen, aber wenn ich den Ball gehabt habe, obwohl ich der Kleinste war, war ich schon richtig gut. Und das hätte sich wahrscheinlich kein Trainer zugetraut. Mein Vater hat das aber immer durchgeboxt. (Andreas Herzog)
Ob nun bewusst oder unbewusst: Anton Herzog sorgte auf diese Weise für ein dynamisches Selbstbild bei seinem Sohn – im Gegensatz zum statischen Selbstbild. Bei letzterem nimmt man eine neue Aufgabe nur an, wenn man sie denn auch auf jeden Fall meistern wird – in Sachen „Fußball“ also das nächste Spiel gewinnt. Oder es erst gar nicht spielt. Entwicklung ist so allerdings nicht möglich.
Dynamische Selbstbilder stellen sich dagegen immer neuen Herausforderungen, wollen dazulernen und denken in Prozessen, statt in Ergebnissen. Übrigens eine Einstellung, die seinesgleichen anzieht. So traf Andreas Herzog Jahre später und als Trainer eben auf Jürgen Klinsmann – und beschloss mit ihm zusammen, dass sich das US-Team mit den Besten der Besten messen müsse, um den nächsten Schritt machen zu können. Befremdlich für den US-Verband, denn das bedeutete auf den ersten Blick Niederlagen – und auf Dauer weniger Einschaltquoten. Das Gegenteil war der Fall. Siege gegen europäische Topteams wie gegen die Niederlande oder gegen Deutschland. Es ist eben alles eine Sache der Einstellung – und im besten Fall Wachstum.
Doch wenn Siege zur Normalität werden, ist es an der Zeit, etwas zu verändern. In diesem Sinne handelte Burli Herzog schon vor 40 Jahren – eben modifizieren, um den nächsten Schritt zu machen. Zumindest dann, wenn man wachsen möchte. Und das mit aller Voraussicht und auch Konsequenz.
Denn als die Obersten der Admira entschieden, dass die Vereinsjugend sich fortan mit den Klubs in Niederösterreich messen sollte – bisher gehörte der Admira-Nachwuchs dem Wiener Verband an und kickte durchaus auf Augenhöhe mit Rapid und Austria –, war Burli Herzog klar, handeln zu müssen.
Mein Vater hat gemeint, dass es für meine Entwicklung nicht gut wäre, wenn ich jedes Spiel mit 8:0 oder 9:0 gewinne. Da ist einfach der Widerstand der Gegner zu schwach. Ich sollte also zu einem starken Verein. (Andreas Herzog)
Solange die Jugend der Admiraner auf hohem Niveau spielte, waren Dynamik und Weiterentwicklung gegeben, doch unter diesem neuen Aspekt war für Vater Herzog die Aussicht auf Wachstum und Herausforderung nicht mehr existent.
Und dann wollten sie wieder zurück in den niederösterreichischen Verband und dann hätten wir nur gegen kleine Dorfvereine gespielt wie Brunn am Gebirge oder Perchtoldsdorf. Dagegen hat sich mein Vater gewehrt. Da haben’s gesagt: „Tschüss, dann bist du nicht mehr Trainer, und deinen Sohn kannst gleich mitnehmen.“ Durch das bin ich von der Admira weg und zu Rapid. (Andreas Herzog)
Da ist er wieder, der rote Faden im Leben des Andi Herzog: der berühmte Stoß ins kalte Wasser – wieder durch die Eltern, wieder hin zum nächsten Schritt. Oder, um in der Schwimmersprache zu bleiben: vom Seepferdchen zum Freischwimmer. In anderen Worten: Auf zu Rapid Wien!