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ARMUT? NO PROBLEM!

AUG’ IN AUG’

»Verdammt, verdammt!«, murmelt Alma vor sich hin. Kalte Angst presst ihren Brustkorb zusammen. Völlig kraftlos hängt sie, mehr als dass sie sitzt, auf der Rückbank des Ambassadors. Der Wagen röhrt durch die Nacht, durch eine unwirtliche, verlassene Welt. Weit und breit keine Menschenseele zu sehen, nur ab und zu taucht ein Fahrzeug auf der Gegenfahrbahn auf. Millionen Menschen scheinen wie vom Erdboden verschluckt. Sie ist in einem Paralleluniversum gestrandet! Was soll bloß aus ihr werden?

Plötzlich schreckt sie auf. Der Fahrer stoppt an einer Kreuzung. Mit offenem Mund starrt Alma hinauf zur Ampel. RELAX! Weiße Buchstaben auf leuchtendem Rot springen ihr in die Augen. RELAX! Gebieterisch, von oben herab gesprochen. Sie ist fassungslos. Ha, braust sie auf, will sie da jemand verhohnepipeln? Einfach mal so entspannen in diesem Horrorfilm, klar, no problem! Schaudernd zieht sie ihre Jacke trotz der Hitze enger um die Schultern und stiert aus dem Fenster, wirft der Ampel einen feindseligen Blick zu. Das Grün hält wenigstens die Klappe, sendet keine Befehle in weißen Lettern. Die Fahrt geht weiter, und sie hat keine Ahnung, wohin.

Wie eine Erscheinung taucht in der Ferne eine dunkle Silhouette aus dem Nebel auf. Ein ungeheuerer Hügel, nein, ein Berg wächst urplötzlich aus der flachen Landschaft. Almas Augen verengen sich zu Schlitzen: Was ist das? Und was bewegt sich da? Sie beugt sich nach vorne und erkennt schattenhafte Wesen an den Abhängen. Riesige Krähen? Als der Wagen abermals hält, sieht sie in der nebligen Reflexion der Straßenlampen, dass Abhänge in ausgefaserten Rändern auslaufen, geschichtete Klippen aufragen, Hänge scharfkantig abbrechen, in Verwerfungen enden. Das ist Müll, dämmert es Alma. Ein Gebirge aus Müll!

Und dort, Alma beißt sich auf die Unterlippe, dass es weh tut, das, was sie für Krähen gehalten hat, das sind Menschen. Gebückt krauchen zehn, zwanzig abgezehrte Gestalten in Fetzen, Säcke hinter sich herschleifend, über Hänge und Schwellen. Sie sieht gesenkte Köpfe, gebeugte Rücken. Hände wühlen in der schwarzen Aschemasse, befingern Fundstücke, stopfen sie hastig in Säcke. Alma schnappt nach Luft. Drüben erblickt sie eine Gruppe, vielleicht eine Familie, fünf Menschen, die auf Händen und Füßen hügelaufwärts kriechen. Die Kinder rutschen plötzlich ab, wirbeln im Fallen Staub auf, und die ganze Szene versinkt unter einem dunklen Schleier.

Almas Gedanken rasen. »Das ist ein Film, das geschieht nicht wirklich«, plappert ihr Hirn. »Relax! Relax!«, stößt sie höhnisch aus.

Wenn sie doch nur ein Wort mit jemandem wechseln könnte! Wenn da bloß eine Stimme wäre, die ihr versicherte, dass alles gut würde – für alle. Der Fahrer vor ihr trommelt im Rhythmus eines aufbrausenden Songs kleine Wirbel auf das Lenkrad. Ja, der ist völlig relaxt, stellt Alma erbittert fest. Ihr kribbelt es in den Fingern, ihn wieder an den Schultern zu packen, um irgendeine Reaktion aus ihm herauszuschütteln. Fest schlingt sie die Arme um ihren Körper – bloß keine unkontrollierbaren Wutreaktionen! Sie lässt den Kopf hängen und starrt auf ihre Knie.

Die Dämpfe des schwelenden Müllbergs dringen stechend ins Wageninnere. Alma fühlt erneut Übelkeit, die in einer Welle über sie hereinzubrechen droht. Sie schluckt verzweifelt, atmet flach und versucht das Fenster zu schließen. Vergeblich. Nach ein paar Umdrehungen klemmt die Kurbel und eine Öffnung bleibt. Mit zitternden Fingern kramt sie im Rucksack nach einem Taschentuch.

Ein Schreckensblitz durchzuckt sie, als sie sich wieder aufrichtet. Sie fährt mit einem Aufschrei zurück: Ein schwarzes Gesicht starrt aus dem Dunkel zu ihr herein. Unter einem Wust filziger Haare glühen riesige Augen. Eine blutrote Narbe zieht sich vom Nasenflügel zur Stirn. Aug’ in Aug’ findet Alma sich mit einem Gnom! Der schartige Mund öffnet und schließt sich, stößt unverständliche Laute aus. Alma hört das Getrommel kleiner Fäuste auf dem Glas der Scheibe. Jetzt drängt sich eine schmutzverkrustete Kinderhand durch den Fensterschlitz, grapscht nach ihr und streift ihre Wange. Alma wirft sich entsetzt zur Seite und hält eine Hand schützend vor ihr Gesicht. In diesem Augenblick schaltet die Ampel auf Grün, und der Fahrer, der im Diskorausch nichts mitbekommen hat, haut den Gang rein, sodass der Wagen mit einem Satz nach vorne schießt. Das Kind, das buchstäblich am Auto klebt, wird roh zur Seite geschleudert. Schockiert fährt Alma herum und sieht durchs Rückfenster gerade noch ein kleines Wesen barfuß über die Straße taumeln, bevor es der Nebel verschluckt.

Ihr drehen sich Herz und Magen um. Erschüttert schließt sie die Augen. Sie hat genug, sie will nichts mehr sehen! Auf welchem Planeten ist sie hier um Himmels willen gelandet?

What’s the problem?

Friedrich möchte Alma am liebsten in die Arme nehmen. »Ich verstehe deinen Schrecken, dein Zurückweichen«, will er sie trösten. »Ich habe das auch erlebt.«

Das Elend am Straßenrand, von dem Alma sich abwendet, ist eine alltägliche indische Realität. Immer und überall wird Ihnen auf Ihrer Reise schreiendes Elend begegnen, denn in Indien ist Armut noch immer ein Problem der Massen. Bilder von verrottenden Slums, von Bettlern auf Straßen und Plätzen und von Elendsgestalten, die auf dem nackten Boden schlafen – diese Bilder sind real. Leben im Elend ist für Millionen Menschen in Indien Wirklichkeit. Um diese Art von Leben, das sich da vor unseren Augen entfaltet, zu verstehen, fehlen unserem Verstand meist alle Referenzpunkte.

Wie schnell und weit das Wachstum in bestimmten Sektoren auch vorangeschritten sein mag, extreme Armut bleibt ein riesiges Problem für den Subkontinent. Auf der Weltbühne deutlich sichtbar strebt Indien politisch und wirtschaftlich nach globaler Macht, während im Land selbst die Kluft zwischen Arm und Reich weiter auseinanderklafft als je zuvor.

IM ARMENHAUS

In nüchternen Zahlen: Mehr als 40 Jahre nachdem Indira Gandhi »Garibi hatao – Kampf der Armut« zu ihrem politischen Programm erklärt hat, leben noch immer 44 Prozent der Einwohner Indiens unter der Armutsgrenze, mit weniger als einem US-Dollar pro Tag.

Wenn es auch gelungen ist, Hungersnöte zu bannen, so sind Unterund Fehlernährung besonders auf dem Land alarmierend. Vor allen Dingen Kinder sind in dramatischem Ausmaß vom Mangel betroffen. Nach einer Studie des Internationalen Ernährungsforschungsinstituts IFPRI sind 43 Prozent aller Kinder bis zum Alter von fünf Jahren unterernährt. Die Landbevölkerung – massenhaft durch staatliche Liberalisierungsmaßnahmen im Sinne des globalen Marktes (z. B. durch genmanipuliertes Saatgut oder Baumwollimporte) in den Ruin getrieben – drängt in die Städte, um zu überleben. In direkter Nachbarschaft der Prachtbauten von Reichen und Superreichen errichten sie ihre Hütten im Staub und Dreck. Ein Drittel der Einwohner der Millionenstädte lebt in Slums. Im größten Slum Asiens, Dharavi in Mumbai, ballen sich eine Million Menschen auf einer Fläche von einer Quadratmeile zusammen.

Unterwegs in Indien – im Süden seltener als im Norden – werden Bilder größter Not auf Alma einstürmen. Es wird schwer für sie sein, das Gesehene und Erlebte zu verarbeiten. Vielleicht wird sie sich unter Druck setzen, etwas unternehmen zu müssen, um ein diffuses Schuldbewusstsein als überaus privilegierte Westlerin zu besänftigen. Oder aber sie wird sich abwenden, verschließen, vielleicht sogar wütend werden.

No problem – relax!

Ja, entspannen Sie sich, hier geht es tatsächlich nicht ums Richtigoder Bessermachen, sondern ums Bewusstmachen. Für Alma und uns alle ist es dabei wichtig, sich klar vor Augen zu halten, dass wir bloß Besucher in Indien sind – für sehr kurze Zeit. Es liegt nicht in unserer Macht und es ist nicht unsere Aufgabe, die vielschichtige indische Realität zu ändern. Eines aber können wir tun: Wir können genau hinschauen, diese bestürzende Realität ungefiltert aufnehmen und die Gefühle, die entstehen, zulassen. Mit unserem offenen Blick zollen wir dem Schicksal der Menschen Respekt, erkennen die Schwere ihrer Bürde an und verhindern so, dass diese Menschen im Elend von uns zu einem Nichts degradiert werden. (Mehr zum Umgang mit Bettlern in Episode 12)

Fettnäpfchenführer Indien

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