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TRINKGELD? NO PROBLEM!

LÄCHELN RUPIEN?

»Good morning, India!«

Alma, auf der Dachterrasse im Pahar Ganj, möchte die Arme ausbreiten und die Welt umarmen.

Unter diesem unendlich weiten Himmel, gesprenkelt mit Papierdrachen, die sich im blendenden Sonnenlicht wiegen, verfliegt die Erinnerung an die Nacht mit ihren Schrecken. Almas Blick folgt den himmelwärts gleitenden Bussarden, die getragen vom Ruf des Muezzins, der über den bis zum Horizont ausgebreiteten Flickenteppich der Stadt herüberweht, höher und höher steigen. Die Sonnenwärme auf ihrer Haut empfindet Alma wie eine herzliche Umarmung. Ihr kommt in den Sinn, dass die Einheimischen ihre Hauptstadt Dilli nennen. Da steckt dil drin, was auf Hindi »Herz« heißt. Gerade jetzt kann sie es spüren, das Herz dieser Stadt – oder ist es vielleicht ihr eigenes?

Dort unten pulsiert es im Bienenstock der Gassen. Das große Konzert der Stadt flutet über die Brüstung der Dachterrasse. Alma hört Motorrikschas knattern, Zweiräder surren und das Pling der Fahrradglocken. Rufe steigen auf – »Aiee, aiee!« (Kommt, kommt!) – aus dem rauschendem Grundklang. Der Bass eines langgezogenen Muhs, trötende Hupen, rasselnde Karren – Almas Ohren vibrieren von den ungewohnten wild wirbelnden Lauten. Wie das tönt und dröhnt, fremd und aufregend! Sie kneift sich in den Arm, nein, sie träumt nicht.

»Ich bin da!«, möchte sie am liebsten hinunterrufen, selbst mit einstimmen in dieses Fortissimo.

Sie ist ein wenig stolz auf sich: Heute Morgen hat sie den Wechsel des Hotels, Aus- und Umzug, ruckzuck bewältigt. Jetzt ist sie voller Vorfreude, sie wird eintauchen in diesen Wirbel aus Bewegung, Klang, Gerüchen und Farben – nenn es Chaos, egal! Sie will mehr von diesem fremden Leben spüren. Und als sie ihre Haare schüttelt, fühlt es sich an, als ob sich die Zellen in ihren Gehirnwindungen frisch zusammenwürfeln. Hat da eine geheimnisvolle Alchemie zu wirken begonnen?

Ein Krachen und Splittern reißt sie aus ihrer Selbstversunkenheit und lässt sie herumfahren.

Donnerwetter! Volltreffer! Das, was ihr Frühstück hätte sein sollen, liegt jetzt wie nach einem Meteoriteneinschlag über die Terrasse verteilt, überall Scherben, Schlieren, Pfützen. Der junge schmalbrüstige Kellner, hochgezogene Schultern unterm hellblauen Hemd, streckt ihr mit abwehrender Geste die Handflächen entgegen, lächelt schief und wiegt im Schnellgang den dunklen Schopf: »No problem – one minute, no problem – breakfast ready!«

»Okay, das wird länger als eine Minute dauern«, seufzt Alma, als sie beobachtet, wie er mit spitzen Fingern, Scherbe um Scherbe einzeln zum Müll trägt. Als er schließlich mit einem badetuchgroßen Lappen ungeschickt herumfuhrwerkt, den ganzen Schmodder gleichmäßig auf dem Boden verreibt, möchte sie am liebsten eingreifen. Das wird doch nie was! Im Gefolge erscheint noch so ein Knabe, der, mit einem feuchten Feudel am Besenstiel bewaffnet, die Feinverteilung vornimmt – ohne Wassereimer. Alma schlägt die Beine übereinander, verschränkt die Arme und lehnt sich im Korbsessel zurück, um nicht aufzuspringen.

Endlich, sanftgrün beschattet von der Sonnenplane, fällt Alma heißhungrig über ihr spätes Frühstück her: schwarzer Tee, Toast, Butter, Honig. Wahrlich nicht gerade ein typisch indisches nashta (Frühstück), stellt sie schulterzuckend fest. Aber köstlich!

NASHTA – FRÜHSTÜCK

Die indische Küche ist reich an unterschiedlichsten Speisen, und jede Region bietet zum Frühstück mit sowohl warmen als auch kalten Gerichten, die alle ziemlich würzig und recht fettig sind, eine vielfältige Auswahl. In ärmeren Familien gibt es meist einfach Reis mit dal (Linsengericht).

Im Norden besteht das typische Frühstück gewöhnlich aus parathas (Weizenpfannkuchen) mit frischer Butter, gekochtem gewürztem Gemüse, wie aloo sabji ( Kartoffelgemüse ), oder aus chole/channa (Kichererbsen) mit puri (Weizenfladenbrot). Beliebte Leckereien wie jalebi (brezelartiges, in Sirup getunktes Gebäck) oder halva (eine Süßigkeit aus Ölsamen und Honig) ergänzen die Mahlzeit. Ein Frühstück im Süden besteht hingegen immer aus heißen Reismehlküchlein, idlis, und hauchdünnen Pfannkuchen, ebenfalls aus Reismehl, dosas. Diese werden meist mit scharfem sambar (Tomaten-Linsen-Soße) und mindestens einer Art von chutney (würzig-scharfe Soße) aus Kokosnuss, Mango oder Chili serviert. Immer gibt es dazu frische Früchte wie Mango, Papaya, Wassermelone oder Granatapfel. Im Norden wird zum Frühstück chai (Tee) getrunken, im Süden dagegen kaapi (Kaffee), beide mit viel Milch und Zucker zubereitet.

In den großen Städten spielt das Frühstück keine wichtige Rolle mehr, da die meisten Familienmitglieder morgens in Eile das Haus verlassen. Einfache Sandwichs, Omelettes und sogar Cornflakes sind inzwischen als schnelles Frühstück populär. Viele nehmen auf dem Weg zur Arbeit einen chai an einem Straßenstand zu sich und Snacks wie samosas (Teigtaschen gefüllt mit würzigen Kartoffelstücken) oder andere frittierte Kleinigkeiten.

Als der Junge ihr die Rechnung präsentiert, ist Alma von den Socken: Meine Güte, dafür kriegt sie zu Hause noch nicht einmal ein Schokocroissant! Und weil alles so gut geschmeckt hat, fast nichts kostet, die Zahlen auf der Rechnung so schön gemalt sind und die Jungs einfach heldenhaft die Putzlappen niedergerungen haben, rundet sie gerne bis zum vollen Betrag auf und freut sich an dem ungläubigen Lächeln des jungen Mannes, das langsam wie die Morgensonne in seinem Gesicht aufgeht.

What’s the problem?

»Gratuliere, Alma!«, lacht Friedrich, als er sich vorstellt, wie sie in der Zwangsjacke der selbst auferlegten Beherrschung schmort. »Ja, still sitzen und zurücklehnen. Du wirst sehen, Alma, irgendwann stellt sich wirklich Gelassenheit ein. Die Dinge gehen sowieso immer ihren indischen Gang, auch mit Feudel und Lappen.«

Was das Trinkgeld betrifft, gibt es Stimmen, die Alma bezichtigen, mit dieser Üppigkeit die Preise zu verderben oder sich lächerlich zu machen als westliches Weichei, das mühelos ausgenommen werden kann. Als Leitfaden fürs Trinkgeldgeben sind das jedoch wenig taugliche Argumente, wenn wir uns als geneigte Reisende auf die Bedingungen des Landes einlassen wollen.

Trinkgeld ist in Indien, mit Ausnahme von Besuchen in großen Hotels und teuren Restaurants, eine freiwillige Angelegenheit, die abhängig von Ihrer eigenen Einschätzung und Ihrer Erfahrung ist – manche Leute geben Trinkgeld, manche nicht, manche mehr, manche weniger. Obwohl in Indien für Wohlhabende ein ungeschriebenes Gesetz der Großzügigkeit existiert, kann man leider bei einheimischen Gästen der Mittelschicht häufig beobachten, dass sie das Personal verächtlich behandeln, viele Ansprüche haben und dann keine müde Rupie für Trinkgeld übrig haben. Wie auch immer sich die Einheimischen verhalten, wir, die wir als Ausländer eindeutig zu den Reichen gehören – manchmal scheint es, als ob auf unseren T-Shirts in Leuchtbuchstaben crorepati (Millionär) geschrieben steht –, sollten freigiebig sein. Trinkgeld oder bakshish ist in Indien, einem Land ohne soziale Absicherung, eine wichtige Sitte, um Geringverdienende zu unterstützen, der wir uns anschließen sollten. So gesehen hat Alma mit ihrem nach Gutdünken gegebenen Trinkgeld instinktiv angemessen gehandelt.

Entwarnung! Kein Fettnäpfchenalarm für Alma an dieser Stelle.

No problem – relax!

Sie können sicherer darin werden, wo wie viel Trinkgeld angemessen ist, und damit dafür sorgen, dass die Trinkgeldfrage nicht ständig wie ein Druck auf Ihnen lastet und Ihnen die Laune verdirbt. Unsicherheiten entstehen natürlich immer da, wo Verhaltensweisen nicht offiziell geregelt sind. Verlassen Sie sich auf Ihr Fingerspitzengefühl: Wenn Sie mit dem Service zufrieden sind, geben Sie auf alle Fälle Trinkgeld. Wenn nicht, zahlen Sie einfach für den geleisteten Service und lassen es gut sein.

Die Höhe des Trinkgelds variiert mit den geleisteten Diensten. Kellner, deren Lohn in der Regel sehr niedrig ist, sind auf das Trinkgeld angewiesen. Sie können sich dabei an die Zehn-Prozent-Regel halten, wobei wir als Westler ruhig auch ein bisschen mehr geben können, da dies unseren Geldbeutel kaum belastet. Gerade in kleinen Restaurants, wo die Angestellten hart arbeiten und oft schamlos ausgenutzt werden, kann es dem Kellner viel bedeuten, ein paar Rupien mehr mit nach Hause zu nehmen. In großen Restaurants, wo auch die Löhne höher sind, werden die zehn Prozent bereits in die Gesamtsumme eingerechnet, entweder auf der Rechnung vermerkt oder auf Anfrage bestätigt, sodass kein extra Trinkgeld anfällt.

Autorikscha- und Taxifahrern muss grundsätzlich kein Trinkgeld gegeben werden. Wenn Sie allerdings mit dem Fahrer zufrieden waren, ist es nett, den Betrag aufzurunden, und wenn er Ihnen mit dem Gepäck geholfen hat, geben Sie zusätzlich etwa 10 Prozent mehr. Mieten Sie ein Auto mit Fahrer für einen Tag oder länger, stehen dem Fahrer ein Mittagessen und am Ende zehn Prozent Trinkgeld zu. Fremdenführer erhalten zusätzlich zum vereinbarten Preis bis zu 20 Prozent Trinkgeld. Und natürlich sollten Sie auch nach einer Bootsfahrt, sei es auf dem Ganges oder an der Küste, dem Bootsführer ein Trinkgeld geben. Im Hotel können Sie dem Room Service ruhig täglich etwas geben, dann haben Sie nämlich mehr davon, als wenn Sie das erst vor der Abreise tun – für die Zeit Ihres Aufenthalts können Sie mit verbessertem Service rechnen. Sollten Sie sich in einem Hotel etwas länger aufhalten, so ist es außerdem angemessen, den dort für einen Hungerlohn arbeitenden Gärtnern, Wachmännern, Fege-Ladys, die Ihnen Ihren Aufenthalt verschönern, von Zeit zu Zeit etwas zuzustecken. Der Boy, der die gewaschene und gebügelte Wäsche anliefert und Ihnen Essen aufs Zimmer bringt, sollte auch nicht vergessen werden. In allen erwähnten Fällen sind bis zu 50 Rupien angebracht. Die Träger mit den roten Hemden an den Bahnhöfen, kulis, die mehrere Gepäckstücke auf dem Kopf aufgetürmt transportieren können und pro Gepäckstück bezahlt werden, erhalten am Schluss zehn bis 20 Prozent der Gesamtsumme zusätzlich als Trinkgeld.

Ja, diese ganze Trinkgeldgeberei verlangt ziemlich viel Aufmerksamkeit, vor allen Dingen weil Sie auch stets dafür sorgen müssen, dass Sie genügend kleine Scheine bei sich haben; die Lady mit dem Besen kann Ihnen bestimmt nicht auf 100 Rupien herausgeben. Und das ist die Mühe unbedingt wert, denn hier können wir durch unser Verhalten für unser Land und unsere Kultur Punkte sammeln. Und wünschen wir uns nicht alle, was ein indisches Sprichwort verspricht: »Das Lächeln, das du aussendest, kommt zu dir zurück«? Glauben Sie mir, Rupien lächeln – von einem Ohr zum anderen.

Fettnäpfchenführer Indien

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