Читать книгу Das Phänomen - Karin Szivatz - Страница 11

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Am nächsten Morgen fühlte sich Rosalie noch immer wie ausgekotzt, weshalb sie einen Spaziergang über den Strand unternahm. Doch je weiter sie sich vom Haus entfernte, desto größer wurde ihr Verlangen, weiter zu gehen. Erst als sie bereits am weit entfernten Hügel angekommen war, dachte sie zum ersten Mal wieder an Cornelius, an die nun wieder lebendige Mrs. Elms und an den Suizidversuch von Benny. Da gehen merkwürdige Dinge vor sich, flüsterte sie und kletterte auf den Hügel hinauf um den an sich herrlichen Rundumblick genießen zu können.

Sie atmete tief die salzige Meeresluft ein, ließ ihren Blick über den weitläufigen Strand schweifen, über das anheimelnde Dorf und über die große Festwiese. Plötzlich hielt sie inne. „Nein! Das gibt es nicht! Das gibt es einfach nicht!“, murmelte sie und spürte Panik in sich aufsteigen. Ihr Mund fühlte sich schlagartig an, als hätte sie einen ganzen Sandkuchen verputzt und ihre Haarwurzeln kribbelten als hätte eine Ameisenkolonie auf ihrem Kopf ihr Lager aufgeschlagen. Die Knie wurden schlagartig weich und sie musste sich rasch in den Sand fallen lassen. Dennoch konnte sie nicht ihren Blick von der großen Festwiese, die einsam und verlassen am Rande des Dorfes lag, reißen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, rappelte sich mühsam auf und lief im Sprint zu ihrem Haus.

„Taylor!“, rief sie aufgeregt und stolperte beinahe über ihre eigenen Füße. „Taylor! Sie sind weg!“ Keuchend und nach Atem ringend stürzte sie in die Küche.

„Wer ist weg?“, fragte Taylor, der vom Schneidbrett, auf dem zwei leuchtend orange Karotten lagen, irritiert aufsah.

„Na die Schausteller, der Jahrmarkt, die Buden, die Karusselle, einfach alles. Weg! Als wären sie niemals hier gewesen.“

Noch immer keuchend stützte sie sich am Küchentresen ab und sah ihrem Mann in die Augen, der das Messer im Zeitlupentempo auf das Brett legte seine Finger an einem Küchentuch säuberte. Dann nahm er wortlos seinen Autoschlüssel vom Haken neben der Eingangstür, setzte sich in den Wagen und startete den Motor. Rosalie versperrte noch rasch die Tür, rüttelte vorsichtshalber und zum ersten Mal daran und nahm auf dem Beifahrersitz platz. Sie musste nicht fragen, wohin die Fahrt ging, sie wusste es bereits.

Auf der großen Festwiese angekommen sprangen sie gleichzeitig aus dem Wagen und sahen sich um. Es gab tatsächlich keine Buden, keine Attraktionen, keine Wohnwägen für die Schausteller. Nichts.

Die beiden liefen quer über den Platz, wo noch vor wenigen Stunden schwere Wagen gestanden hatten. „Sieh dir mal das Gras an. Es ist frisch und nirgends plattgedrückt, wie es eigentlich nach der Last von den Buden sein müsste. Es sieht so aus, als ob hier schon seit sehr langer Zeit niemand gewesen wäre. Selbst den Rundgang an den Buden vorbei müsste man sehen, denn darauf ist fast das ganze Dorf herum getrampelt. Da müsste ein kahler Ring zu sehen sein“, sinnierte Taylor laut vor sich hin.

„Es fehlt auch die sonst übliche Hinterlassenschaft nach Festen: der Müll! Plastikbecher, verschmutzte Pappteller, zerknüllte Papierservietten, zertretene Zigarettenstummel und vergessene Bierflaschen. Die ganze Wiese ist peinlich sauber, beinahe klinisch rein. Dafür wäre ein zehn Mann starker Putztrupp nötig und selbst dann wären noch die einen oder anderen Spuren sichtbar. Es gibt nicht mal weggeworfene Zigarettenstummel“, ergänzte Rosalie.

Taylor sah auf die Uhr. „Im Moment müsste der Bürgermeister im Gasthaus Karten spielen. Wir fahren hin und fragen ihn, wer den Jahrmarkt angemeldet hat. Vielleicht hat er ein paar Daten von den Leuten oder kennt sie vielleicht sogar persönlich.“

Der Weg zum Gasthaus war völlig vereinsamt, obwohl sie ein Stück die Hauptstraße entlangfahren mussten. Die Häuser erweckten den Eindruck, als wären sie vor vielen Jahren verlassen, aufgegeben, zurückgelassen. Und doch waren dort und da hell erleuchtete Zimmer zu sehen, in denen auch die Umrisse von Menschen erkennbar waren. Sie waren von Leuten bewohnt, die sie kannten und doch machte sich das Gefühl breit, als wären sie innen ausgehöhlt.

„Irgendwie wirkt dieses Dorf auf mich tot“, murmelte Taylor vor sich hin und erwartete keine Antwort. Rosalie nickte zustimmend, sagte aber nichts. Sie konzentrierte sich darauf, irgendwo Leben zu spüren. Doch da war nichts und auch die Natur zeigte sich in einer anderen Weise als gewohnt. Sie entwickelte ganz eigenartige Farben, die mit jeder Sekunde nicht nur unnatürlicher sonder sogar wie neu erfunden auf die beiden wirkten. Sie hatten den Eindruck, als wären über Nacht neue Farbkompositionen entstanden, wie kein Maler imstande wäre, sie zu melieren Das Grün der Wiesen zeigte sich als eine Mischung aus grünbraunblaurosa und die Sonne, die sich abmühte, über den Horizont zu blicken, leuchtete in vagem violettgelbsilber. Zwar verschwammen die Farben nicht, aber es sah so aus, als würden sie sich bewegen. Beim nächsten Blick allerdings musste man feststellen, dass sie noch am selben Ort wie zuvor waren.

Rosalies Magen wurde von einer eiskalten Hand gepackt, die sich in ihrem Inneren zur imaginären Faust schloss und sie krümmte sich nach vor. Taylor trat abrupt auf die Bremse. „Was ist mit dir? Was ist los? Hast du Schmerzen? Geht es dir nicht gut?“

Rosalie sah ihn aus schmerzverzerrtem Gesicht an. „Mein Magen fühlt sich an, als hätte sich ein breiter Eisgürtel um ihn gelegt, der sich mit jeder Sekunde enger zusammenzieht. Ich glaube, mir sind diese Vorfälle im Moment zu viel, ich halte ihnen psychisch nicht stand. Vor allem der Anblick von Cornelius in seinem speziellen Käfig hat mich ziemlich durcheinandergebracht. Lass uns umkehren und nach Hause fahren, ich brauche jetzt Ruhe.“

Taylor legte seine Hand an ihre Wange und streichelte sie mit dem Daumen.

„Ganz, wie du willst. Ich verstehe dich gut, aber du musst mir die Möglichkeit geben, mich um diese Sache zu kümmern. In mir brennt ein Feuer, das sich nicht mehr löschen lässt. Ich muss diesem Rätsel auf den Grund gehen. Ist das für dich in Ordnung? Ich erzähle dir auch nichts von meinen Nachforschungen und von den Ergebnissen, wenn du es nicht willst, versprochen!“ Er sah sie flehend wie ein Ertrinkender einen Rettungsring an, doch sie krümmte sich nur auf dem Beifahrersitz. Deshalb trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch und brauste durch die sich zusehends verändernde Landschaft in Richtung Meer.

Nachdem Rosalie sich selbst mit Medikamenten gegen die Schmerzen versorgt hatte, brachte er sie noch ins Bett, küsste sie auf die Stirn und zog leise die Tür hinter sich zu. Mit seinen Gedanken war er allerdings noch immer bei den unerklärlichen Vorfällen der letzten beiden Tage. Er musste herausfinden, was da draußen und auch in den Menschen vor sich ging, denn offensichtlich beschränkte sich dieses Phänomen nicht nur auf die Landschaft, wie man am Beispiel von Bennys Suizidversuch gut ablesen konnte. Das waren kein Hirngespinst und auch kein Zufall; hierbei handelte es sich um etwas sehr Mächtiges, das konnte er fühlen.

Nachdem er sich einen Espresso aus der Küche geholt hatte, legte er eine Mappe für seine Studien, wie er sie großspurig nannte, an. In der Überzeugung, dass sich sehr viel Material ansammeln würde, nahm er gleich einen ziemlich dicken Ordner mit zehn Zwischenblättern, um den Überblick zu behalten. Er ging in solchen Belangen stets sehr geordnet und strukturiert vor, wie er es während deiner Studienzeit gelernt hatte.

Zuerst notierte er jedes einzelne Vorkommnis auf ein separates Blatt. Das verfaulte Kohlfeld Don Henlins, der unfreiwillige Suizidversuch Bennys, den Vogel Cornelius in seinem speziellen Käfig und die sich farblich verändernde Landschaft. Daraus versuchte er, Schlüsse auf eine Gemeinsamkeit zu ziehen, doch er fand selbst nach zwei Stunden der Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven keine Parallelen. Er kam sogar auf die Idee, im Internet zu recherchieren, ob Lebensmittel oder Getränke die Fähigkeit hatten, bei zwei Personen veränderte Wahrnehmungen auszulösen. Nach einer weiteren Stunde war er zu glauben gewillt, dass die Shrimps in der Paella nicht mehr ganz frisch waren und sie deshalb beide die veränderten Farben der Natur gesehen hatten. Rosalies Magenbeschwerden würden ebenfalls dafür sprechen, aber er hatte keinen einzigen brauchbaren Anhaltspunkt dafür gefunden; es war lediglich der Griff nach dem berühmten Strohhalm.

Als Rosalie den Arm über seine Schultern legte, stieß er einen spitzen Schrei aus und schoss wie eine Rakete von seinem Stuhl auf. „Herrgott, musst du mich so erschrecken? Ich werde sofort mein Testament ändern und dich enterben, weil du ständig versuchst, mich auf diese Weise umzubringen. Du willst doch nur frühzeitig an meine sauer verdienten Millionen ran!“

Er packte ihr Gesicht, zog es ganz nahe an das seine und sah ihr drohend in die Augen.

„Gestehe, Lumpenpack!“

Sie aber küsste ihn nur sanft auf den Mund. „Ich gestehe, dass ich dich liebe“, flüsterte sie und küsste ihn erneut.

Sie holte sich einen Cappuccino aus der Küche und setzte sich neben ihn auf einen Stuhl. „Hast du schon etwas Brauchbares herausgefunden?“, fragte sie mit echtem Interesse und spitzte die Lippen um an ihrem Heißgetränk zu nippen.

„Nada, nichts. Ich kann zwischen den einzelnen Phänomenen einfach keinen Zusammenhang finden.“

Rosalie betrachtete die einzelnen Seiten, auf denen die Vorkommnisse verzeichnet waren. „Vielleicht findest du sie auch nicht auf ein paar Blättern Papier, sondern nur durch Nachforschungen heraus. Du solltest mit dem Bürgermeister anfangen, aber es muss nicht sofort sein. Morgen hat er Sprechstunde, belästige den Mann nicht an einem Sonntag, ok? Bist du so lieb? Ich könnte dir inzwischen die Zeit ein bisschen vertreiben.“ Sie lächelte ihn an, stand auf und öffnete langsam ihre Bluse, unter der sie keinen BH trug.

Kurz bevor sie zu kochen begann lief sie zu Marisha ins Nebenhaus um zu fragen, ob sie mit ihnen essen wollte. Die alte Dame war seit vielen Jahren alleinstehend und hatte nicht allzu oft die Gelegenheit, in Gesellschaft zu essen. Sie freute sich stets über eine Einladung.

Taylor sah ihr vom Fenster aus nach und versank sofort wieder in seine Überlegungen. Als Rosalie wieder das Haus betrat, fragte er eher beiläufig, ob Marisha Lust auf mexikanischen Gemüseeintopf habe. „Leider nicht, denn sie ist tot.“

Taylor sah sie ungläubig an und bemerkte zwei kleine Seen in den Augen seiner Frau. Sofort sprang er auf und nahm sie in den Arm. Nun ließ Rosalie ihren Gefühlen freien Lauf und weinte bitterlich.

„Schatz, sie war eine alte Frau, die an Demenz gelitten hat. Du wusstest, dass es bald so weit kommen würde. Sie hatte ein gutes Leben und du warst für sie wie eine Tochter; das wusste sie immer zu schätzen. Sie hat dich ebenso geliebt wie du sie, aber jetzt heißt es Abschied nehmen.“

Rosalie nickte und löste sich von ihrem Mann. „Ich weiß. Dennoch bin ich traurig. Sie ist mir wirklich ans Herz gewachsen. Aber ich bin froh, dass ich sie nicht in ein Pflegeheim einweisen musste. Das hätte sie vermutlich nicht ertragen. Sie liebte den Strand und ihre Freiheit. Und ich bin auch glücklich, dass sie friedlich entschlafen ist. Es gibt keine Anzeichen von Schmerzen oder einem langen, qualvollen Tod. Vermutlich hat ihr Herz beschlossen, seinen Dienst zu quittieren. Sie möge in Frieden ruhen.“

„Informierst du gleich ihre Tochter und den Leichenbestatter?“, fragte Taylor und setzte sich wieder.

„Das klingt jetzt vielleicht merkwürdig, aber damit möchte ich noch vierundzwanzig Stunden warten. Ich möchte nicht das gleiche wie bei Mrs. Elms erleben. Außerdem hatte ich vor zwei Tagen eine merkwürdige Unterredung mit ihr, die ganz gut zu diesen Phänomenen, wie du sie nennst, passt. Ich hatte mir nur nichts dabei gedacht, eben weil sie an Demenz gelitten hat. Ihre Worte ergeben zwar noch immer keinen Sinn, aber vielleicht hat es trotzdem mit der aktuellen Situation zu tun.“ Dann erzählte sie ihm ihre Unterredung vor dem schäumenden Meer. „Sie kommen! Lasst sie nicht herein, schickt sie weg! Das waren die exakten Worte, ich erinnere mich genau.“

Taylor legte ein weiteres Blatt an und schrieb die Worte auf. „Wen sollen wir wegschicken, beziehungsweise nicht hereinlassen?“

Rosalie zuckte mit den Achseln. „Ich habe nicht die geringste Ahnung.“

Das Phänomen

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