Читать книгу Das Phänomen - Karin Szivatz - Страница 8
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ОглавлениеSchon am frühen Morgen, kurz bevor die Zeiger sich auf dreiviertel sechs Uhr, ausstreckten, als würden sie den Tag mit einer komplizierten Yoga-Übung begrüßen, läutete Rosalies Handy. Schlaftrunken tastete sie danach und stieß das Wasserglas auf dem Nachttisch um, das zu ihrem Glück, leer war. Die tote Fliege, die am Boden des Glases gelegen hatte, lag nun auf dem weichen Holzboden neben den blauen Pantoffeln.
Als Rosalie das läutende Ungetüm gefunden hatte, war sie zumindest so weit wach, dass sie den Anruf entgegennehmen und nicht nur die leuchtenden Ziffern anstarren konnte.
„Frau Doktor, hier ist Frieda Elms. Meine Mutter atmet nicht mehr und sie ist ganz grau und kalt und…. Bitte kommen Sie schnell!“
Rosalie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hoffte, damit auch den Schlaf mitzunehmen. „Frieda“, sagte sie in beruhigendem Ton. „Ihre Mutter hat vermutlich ihr Leiden hinter sich gebracht und ist nun an einem besseren Ort. Wir haben gestern darüber gesprochen, dass es nicht mehr lange dauern wird. Wir können
Dankbar sein, dass sie nicht mehr lange leiden musste. Sie hat ihr Leben gelebt und etwas ganz Wunderbares hinterlassen: Sie, ihre Tochter und zwei hinreißende Enkelkinder. Ich denke, sie ist in Frieden mit sich und der Welt gegangen.“
Eine Weile hörte es sich so an, als wäre nicht nur Friedas Mutter tot, sondern auch die Telefonleitung. Doch noch ehe Rosalie nachfragen konnte, ob da noch jemand sei, seufzte Frieda. „Sie haben recht, vielen Dank. Ich muss in Liebe loslassen.“
„Das ist gut. Bedanken Sie sich noch bei ihr und geben ihr ihren Seelenfrieden mit auf den Weg. Ich komme in einer Stunde vorbei um mich von ihr zu verabschieden und um die Formalitäten zu erledigen. Sie ruht jetzt in Frieden; lassen Sie sie gehen.“
Damit legte sie auf und warf einen Blick auf Taylor, der sie, auf seinen rechten Ellenbogen gestützt, liebevoll ansah.
„Womit habe ich nur eine so warmherzige Frau, die um sechs Uhr morgens diese mitfühlenden Worte findet, nur verdient?“
Rosalie lächelte. „Das hast du altes Ekel gar nicht, aber mich hat der Weihnachtsmann zu dir gebracht und deshalb bin ich verdammt, auf ewig bei dir zu bleiben!“
Taylor warf sich auf sie, doch sie wich geschickt aus und war auch schon aus dem Bett. „So gern ich jetzt mit dir raufen würde, aber ich kann nicht“, beteuerte sie. „Mach mir lieber einen starken Tee mit viel Milch und Liebe!“, flötete sie und ließ ihm als Dank einen Blick auf ihr nacktes Hinterteil gewähren.
Bei den Elms herrschte tiefe Trauer, die schon am renovierungsbedürftigen Gartenzaun deutlich zu fühlen war. Als wäre das ganze Haus in eine dicke, schwarze Wolke aus Trauer, Tränen und Abschied gehüllt, die ihren Inhalt in voller Intensität auf die Bewohner vergoss. Das Innere des Hauses empfand Rosalie als so düster und beklemmend, als würde sie der Verstorbenen einen Besuch in ihrem Grab abstatten. Man kann auch übertreiben, dachte sie und überlegte, ob die alte Dame vierundneunzig oder sechsundneunzig Jahre alt geworden war. Doch noch ehe sie zu einem Ergebnis kam, hing Frieda an ihr und weinte ihre verbitterten Tränen auf die Schulter. „Hätte sie nicht noch ein weiteres Weihnachtsfest mit uns feiern können?“, fragte sie verzweifelt und schluchzte laut auf.
„Es ist immer viel zu früh, wenn die Eltern von uns gehen; egal, wie alt sie geworden sind. Es tut mir sehr leid, Frieda, sie war ein richtig guter Mensch. Wir alle werden sie sehr vermissen. Sie hinterlässt aber nicht nur eine Lücke, sondern auch ihr Licht, das sie zu Lebzeiten verbreitet hat. Erfreuen wir uns daran und denken wir oft in Liebe an sie.“
Mit diesen Worten löste sie sich von der Trauernden und bahnte sich ihren Weg durch die restlichen Familienmitglieder. Jedem von ihnen schenkte sie ihre stille Anteilnahme.
Die alte Dame lag friedlich auf dem Rücken und war eindeutig tot. Dennoch überprüfte sie die Pupillenreaktion und schrieb ein EKG, das natürlich nur eine stabile Nulllinie zeigte. Die Totenstarre hatte auch schon eingesetzt und die Totenflecken waren eindeutig am Rücken und Gesäß sichtbar. Jetzt war sie nur noch ein Fall für den Bestatter, ihre Arbeit war nach dem Ausfüllen des Totenscheins erledigt. Sie dachte an die wartenden Patienten, die sich in ihrer Praxis vermutlich schon türmten und verabschiedete sich relativ rasch von den Trauernden, die immer mehr zu werden schienen. Sie hatte das Gefühl, als würde das Haus aus allen Nähten platzen, würde sie noch eine halbe Stunde länger bleiben. Offensichtlich hatte Frieda die ganze Gemeinde von dem tragischen Vorfall informiert oder informieren lassen und sie gleichzeitig eingeladen, von ihrer Mutter Abschied zu nehmen. Ganz gleichgültig, ob sie die Frau näher gekannt hatten oder nicht. Nach alter Sitte beließen sie die Verstorbene drei ganze Tage in ihrem Bett, damit jeder die Möglichkeit fand, sich von ihr zu verabschieden. Selbst für jene, die von sehr weit wegkommen wollten, bot diese Frist genügend Zeit. Rosalie bezweifelte allerdings, dass sie noch Freunde hatte, denn in ihrem Alter waren die meisten Freunde vermutlich bereits verstorben. Aber das war nun mal der Lauf der Welt. Einer kommt und einer geht. Am Anfang ist Freude, am Ende ist Trauer. Wir sollten uns langsam daran gewöhnt haben, dachte sie und ergatterte gerade noch den letzten Parkplatz vor ihrer Ordination.
Am Nachmittag brachte sie noch rasch zwei Hausbesuche im Dorf hinter sich und fiel dann erschöpft von der Arbeitswoche auf die Couch. Taylor kam zwei Stunden später von der Universität nach Hause und hatte frischen Fisch mitgebracht, den sie gleich würzten und in die Pfanne legten. Rosalie hatte zwar Appetit auf etwas Deftigeres, aber sie begnügte sich mit dem Kartoffelsalat aus dem großen Plastikbecher, den sie vor einigen Tagen aus dem Supermarkt mitgebracht hatte. Am Jahrmarkt würde sie sich ein heißes, fettiges Langos mit viel frischem Knoblauch gönnen und ihren Hunger auf Deftiges stillen. Darauf freute sie sich und ließ sich den Fisch trotzdem schmecken.