Читать книгу Das Phänomen - Karin Szivatz - Страница 14

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Eine kleine Gruppe Menschen verließ gerade den Bahnhof. Wie in jedem kleinen Dorf kannten die Bewohner einander und deshalb unterhielten sie sich ausgelassen miteinander, während sie am Gehsteig entlang schlenderten. Der Tag war zwar heiß, aber sie hatten dennoch keine Eile nach Hause zu kommen. Sie erfreuten sich am Small Talk und noch mehr über einen handfesten Skandal, von dem sie vielleicht erfuhren.

Gerade als sie in die Mainstreet eingebogen waren, verlangsamte eine der Frauen ihren Schritt. Sie spürte einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen, der seine Eiszapfen sogar in ihre Ohren bohrte; gleichzeitig stellten sich ihre feinen Nackenhärchen auf. Sie blieb stehen und drehte sich vorsichtig um. Irgendjemand oder irgendetwas beobachtete sie, das war deutlich zu spüren. Und richtig. Hinter ihnen standen vier Hunde, die sie aus kalten Augen beobachteten. „Los, gehen wir schneller, das ist mir nicht geheuer!“, forderte sie die anderen auf und die Gruppe bewegte sich nun eiligen Schrittes die Hauptstraße entlang. Doch die Hunde folgten ihnen. Lautlos, aber mit gespitzten Ohren trotteten sie ihnen hinterher. Bemühten sich, ihre Erregung in Zaum zu halten und auf keinen Fall ihre spitzen Fangzähne zu zeigen. Ihre Schwänze zuckten als wollten sie die Ode an die Freude vor einem Millionenpublikum dirigieren und ihr Fell stellte sich wellenförmig auf, als würden Windböen über eine nicht gemähte Graslandschaft streifen.

Die Tiere beäugten die kleine Gruppe vor sich argwöhnisch, doch sie hielten immer exakt denselben Abstand. Blieb die Menschengruppe stehen, hielten auch sie an. Oder sie verlangsamten, beziehungsweise beschleunigten ihre Schritte, wenn die anderen es taten. Und sie gaben weiterhin keinen Laut von sich, was die Leute zunehmend beunruhigte. Mit immer schnelleren, mittlerweile trippelnden Schritten strebten sie auf den kleinen Dorfladen zu, der Schutz und Zuflucht versprach, weil er zu dieser Tageszeit mit Sicherheit geöffnet hatte.

Mit geflüsterten Worten hatten sie beratschlagt, wo sie Schutz suchen sollten und in der Eile ein paar Vorschläge unterbreitet. Doch es wäre gut möglich gewesen, dass die Angestellten des Gemeindeamtes gerade ihre Mittagspause abhielten und deshalb das große Tor aus dickem, rotbraunem Palisanderholz, das dem Gebäude den schwachen Anschein verlieh, eine uneinnehmbare Festung zu sein, abgeschlossen hatten.

Jeder Einzelne von ihnen wusste auch, dass Hochwürden die Tore seiner Kirche stets von sechs Uhr morgens bis nach dem Ende der Abendmesse um neunzehn Uhr für seine Schäfchen offen hielt. Doch in den heiligen Räumen Zuflucht vor einer bösen Ahnung zu nehmen, schien ihnen frevelhaft, ja direkt schon gotteslästerlich. Oder war es doch eher der Glaube, dort nicht wirklich sicher zu sein? Gab es da Ansätze in jeder einzelnen Seele der kleinen Gruppe, die am Herrn zweifelten? Jeder für dachte kurz darüber nach, gab sich jedoch nicht die Blöße, es mit den jeweils anderen zu besprechen. Zu groß war die Scham, als nicht gottesfürchtig zu gelten. Aber es war auch eine Schande, solche Gedanken überhaupt zu hegen! Die Scham kroch lautlos über jeden einzelnen Nacken und zog ihre Schultern nach oben. So hoch, dass sie beinahe bis an die Ohrläppchen reichten, was ihnen einen unwuchtigen Gang verlieh.

Als sie endlich den Laden erreicht hatten, versuchten sie beinahe alle, gleichzeitig durch die Tür zu gelangen. Sie stießen, rempelten und boxten, damit sie die ersten sein konnten, die das sichere Land erreicht hatten. Eine Rettung aus tosenden Fluten hätte nicht anders aussehen können. Die Letzte schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich kurz dagegen.

Hinter der Tür standen sie nun wieder vereint und atmeten durch. Doch Mel sah zum Fenster hinaus und stieß einen spitzen Schrei aus. Die Hunde kamen näher, richteten ihre Augen weiterhin auf sie und ihre Mitstreiter. Strebten unablässig auf die Tür zu, die jetzt gar nicht mehr so sicher erschien wie noch vor wenigen Sekunden. „Schiebt die Tiefkühltruhe vor die Tür, schnell!“, schrie Mel schon direkt hysterisch, doch Grant, der Ladenbesitzer, schoss hinter seiner Theke hervor.

„Moment, meine Dame, Sie werden schön die Finger von meiner Tiefkühltruhe lassen und mir erklären, was das Ganze überhaupt werden soll.“

Mel sah ihn mit ängstlichen Augen an. „Die Hunde werden hier hereinkommen und uns alle töten!“, wisperte sie mit zitternder Stimme und bewegte sich langsam von der Tür weg in Richtung der hinten gelegenen Privaträume.

Grant setzte ein trotziges Gesicht auf und sah aus dem Fenster. Die Hunde standen zwar in einem Rudel vor der Tür, aber seiner Meinung nach ging keine Bedrohung von ihnen aus. Als er vorsichtig die Tür öffnete, sahen sie ihn gleichzeitig an, fixierten ihn eine Sekunde lang und wedelten dann mit dem Schwanz. Nach einigen weiteren Sekunden hatten sie das Interesse an dem Ladenbesitzer, der ihnen keine Wurstzipfel und keine Kuchenreste überlassen wollte, verloren und sie trotteten in alle Windrichtungen davon.

Grant schloss die Tür und sah seine verängstigten Besucher an. „Man kann bei der Hitze schnell überreagieren, das kommt schon mal vor. Womit kann ich dienen? Ich habe frische Wassermelonen, kalten Eistee und herrlich kühlen Zitronenkuchen. Hat meine Frau heute am Morgen frisch gebacken; den kann ich wirklich wärmstens empfehlen.“

Die geistige Starre, in der sich die kleine Gruppe befunden hatte, löste sich langsam auf und anstelle der Paralyse schlich sich nun leichte Verwirrung sowie Scham in das Denken ein. Sie alle waren beschämt und kauften neben dem Zitronenkuchen auch Unmengen an Wassermelonen und Eistee als Wiedergutmachung für ihr abstruses Verhalten. Auf dem Kuchen türmte sich in kleinen Wellen eine weiße Baisermasse, die an die Schaumkronen des Meeres erinnerte, wenn der Wind die salzigen Tropfen gegeneinander peitschte. Grant teilte die ganze Torte auf, legte sie auf rechteckige Pappteller und schlug die einzelnen Stücke in Papier ein. Seine Frau würde in diesem Verkauf eine Bestätigung ihrer Backkünste sehen. Grant hingegen war nur wichtig, dass die Kasse klingelte, denn seit der Eröffnung des neuen Supermarkts ein paar Kilometer entfernt hatte er schwere finanzielle Einbußen hinnehmen müssen. Da kam ihm die verängstigte und beschämte Gruppe gerade recht.

Während Grant das Geld kassierte konnte er die erneut aufflammende Unruhe in der Gruppe direkt spüren. Sie hatten noch immer Angst vor den Hunden, obwohl sie sich längst getrollt hatten. Irgendetwas schien also an der Panik dran zu sein. Oder es handelte sich einfach um die berühmte Gruppendynamik, die in solchen Fällen sicher zu tragen kommt. Einer hat Angst und die anderen übernehmen diese Emotion ungefiltert und unreflektiert. Wie auch immer, er freute sich, ein gutes Geschäft mit ihnen gemacht zu haben und öffnete die Tür.

Doch Mel ließ es sich nicht nehmen, vorab einen sehr langen, umherschweifenden Blick durch das Fenster auf die Straße zu werfen. Dann verabschiedeten sie sich von Grant, dankten ihm für die Waren und versprachen, alsbald wieder zu kommen.

Als Mel ihren Fuß vor die Tür setzte, zögerte sie. Immerhin konnten die Hunde um die Ecke lauern und nur darauf warten, bis sie und ihre Verbündeten auf offener Straße waren um sie anzugreifen. Doch nichts geschah. Die Hunde waren nicht mehr zu sehen, aber es hing noch ein Hauch von Gefahr in der Luft, die die kleine Gruppe noch immer verspürte. Deshalb verabschiedeten sie sich rasch voneinander und liefen nach Hause, wo sie sich sicher fühlten.

Rosalie begegnete den Leuten, die vorsichtig einen Fuß nach dem anderen aus dem Laden auf die Straße hinaus setzten und glaubte, in ihren Gesichtern ängstliche Züge erkennen zu können. Doch sie wollte sich nicht mit deren Ängsten belasten. Falls sie darunter litten, sollten sie in ihre Praxis kommen. Deshalb ignorierte sie die kleine Gruppe und betrat den Laden. Grant stand noch hinter einem der Fenster und sah auf die Straße hinaus.

„Haben Sie die Hunde gesehen, Frau Doktor?“, fragte er, ohne seinen Blick von der Straße zu nehmen.

„Welche Hunde? Nein, ich habe keine gesehen. Hatten denn diese Leute vor streunenden Hunden Angst?“, fragte sie und war nun doch neugierig geworden.

„Es waren keine streunenden Hunde, sondern der Riesenschnauzer von den Ellsons und der weiße Labrador, der dem Enkel von Luis Travolli gehört. Sie wissen schon, das kleine Pferd, dem nur noch das Horn auf der Stirn fehlt.“ Grant wollte witzig sein, brachte es aber nicht so richtig zustande. „Insgesamt waren es sechs Hunde, die normalerweise alle brav zu Hause sind und faul im Garten herum liegen und darauf warten, dass ihre Herrchen von der Arbeit heimkommen. Ich weiß nicht, was sie auf der Straße wollten und vor allem gemeinsam.“

Rosalie sah ihn an. „Wieso fürchtet man sich vor Hunden, von denen jeder weiß, dass sie ungefährlich sind? Na wie ich auch immer, ich habe sie jedenfalls nicht gesehen. Haben Sie Mangos? Ich brauche zwei reife Früchte, einen Sandwichwecken und ein Glas saure Gurken. Und geben Sie mir auch noch einen großen Becher Joghurt dazu. Das wäre alles.“

Sie hatte keine Lust mehr, sich über Hunde zu unterhalten, die zufällig miteinander auf der Straße gespielt haben. Sie sah sich in dem kleinen Laden um, der noch an die Zeit der Goldgräber erinnerte. Sie mochte den leicht muffigen Geruch der alten, abgetretenen Holzdielen im Verkaufsraum, die Mischung aus den verschiedensten Aromen, die aus den Holzfässern, Brotkörben und vom Obst aus ging. Es war auch ein etwas finsterer Laden und dennoch keinesfalls schmuddelig oder Furcht einflößend. Grant war angeblich schon in der vierten Generation Greißler und er übte einen Beruf als Berufung aus; manchmal mehr, als den Kundinnen lieb war.

„Ach ja, fast hätte ich es vergessen! Die Butter ist auch ausgegangen. Ein viertel Kilo bitte“, unterbrach sie ihre Gedanken und kehrte wieder in die Realität zurück.

Das Phänomen

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