Читать книгу Das Phänomen - Karin Szivatz - Страница 13

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Auf dem Weg in ihre Praxis hinterließ sie Taylor eine Nachricht auf dem Handy. Wie immer, wenn er Vorlesungen hielt, gab er den Flugmodus ein, um in den Genuss eines Vortrages ohne Störung zu kommen. Er liebte es, eine ganze Stunde zu referieren ohne unterbrochen zu werden. In der darauffolgenden Stunde hatten die Studenten Zeit und Gelegenheit, Fragen oder sich ihm in einer Diskussion über das letzte Thema zu stellen. In beiden Fällen duldete er keinerlei Unterbrechungen.

Nach Unterrichtsende schaltete er den Lautsprecher seines Handys ein und ließ die eingegangenen Nachrichten abspielen. Dabei korrigierte er meist Arbeitsblätter oder Prüfungsbögen. Es langweilte ihn zumeist, die Nachrichten abzuhören, weil so gut wie immer die gleichen Leute anriefen, obwohl sie wussten, dass er vormittags beschäftigt war. Doch bei Rosalies Stimme ließ er den Stift fallen und starrte das leuchtende Display an als wäre es ihr Gesicht, in dem er lesen konnte. Sofort rief er zurück, doch sie war noch in der Ordination und versuchte erneut, Mrs Blackwood von ihren Rückenschmerzen zu befreien ohne dass sich die Gute an ihr Trainingsprogramm hielt. Die meisten ihrer Patientinnen waren stinkfaul und ließen sich lieber medikamentös behandeln anstatt ihren Bewegungsapparat in Schwung zu bringen.

Taylor versuchte es ein zweites Mal, mit seiner Frau zu sprechen, doch sie nahm sein Gespräch nicht entgegen. Kurz entschlossen legte er die Hausarbeiten seiner Studenten in den Safe, versperrte diesen und machte sich sofort auf den Weg in die Ordination. Er konnte nicht bis am Abend warten; zu groß war die Neugierde, welches Phänomen sich vor drei Stunden abgespielt hatte, von dem sie auf seiner Mailbox gesprochen hatte.

Rosalie schilderte kurz, was los war und komplimentierte ihn mit dem Versprechen, zu Hause alles ganz genau zu erzählen, aus der Praxis. Immerhin warteten noch vier Patienten darauf, von ihren Leiden geheilt zu werden. Danach standen noch einige Hausbesuche auf dem Plan, die wohl allesamt länger dauerten. Die alten Menschen waren einsam und froh, wenn sie jemanden zum Reden hatten. Rosalie fragte sich immer, ob sie nicht auch einmal froh sein würde, wenn sich ihre Ärztin im Alter mit ihr unterhalten würde anstatt nur ein Rezept auszustellen und zu gehen. Deshalb blieb sie immer ein wenig bei ihnen um deren Gemüt wieder aufzupolieren. Und mittlerweile waren es ihre Patienten schon gewohnt. Nun konnte sie nicht mehr so einfach ohne Unterhaltung gehen, aber das war schon in Ordnung. Schließlich war sie nicht des Geldes wegen Ärztin geworden, sondern aus Liebe zu den Menschen.

Als sie kurz vor achtzehn Uhr das Haus betrat, hing bereits der unverkennbare Duft von heißer Lasagne in der Luft. Zwar wusste sie, dass Taylor sie aus der Tiefkühltruhe geholt und nicht selbst zubereitet hatte, aber sie war dennoch froh, sich nicht mehr an den Herd stellen zu müssen. Es war ein anstrengender Tag gewesen und sie war müde. Auch der Vorfall bei Sandy hatte sie psychisch ziemlich mitgenommen, weshalb sie jetzt noch eine Spur müder als an üblichen Arbeitstagen war.

Taylor trug sofort das Essen auf, setzte sich und sah sie mit großen Augen, aus denen die Erwartung wie Wasser aus einem Staudamm floss, an.

Rosalie wusste, dass sie gegen die ärztliche Schweigepflicht verstieß, sah sich aber dennoch moralisch verpflichtet, ihm von dem Vorfall in Sandys Haus zu erzählen. Er hörte aufmerksam zu und presste die Oberschenkel fest aneinander, als sie die Verletzungen, die Sandy ihrem Lover zugefügt hatte, schilderte. Als Mann konnte er den Schmerz förmlich spüren.

„Und du sagst, sie wusste nicht, weshalb sie ihm den Penis zerfleischt hat? Es ist einfach so über sie gekommen, wie der Suizidversuch von Benny? Meinst du, es war der gleiche ….. sagen wir mal Mechanismus?“

Rosalie nickte nur, weil sie sich gerade eine Gabel voll Lasagne in den Mund gesteckt hatte. Die Fleischfüllung schmeckte ein wenig künstlich, aber sonst war sie ganz in Ordnung. Aber nach einem langen, harten Arbeitstag war wohl alles in Ordnung, das den Magen füllte, heiß war und das nicht mit Arbeit verbunden war.

Taylor legte noch immer etwas irritiert ein neues Blatt für den Vorfall mit Sandy an und berichtete ihr anschließend von seinem Telefonat mit dem Bürgermeister. „Weder er noch die Gemeindeangestellten hatten eine Anfrage erhalten noch eine Genehmigung für den Jahrmarkt erteilt. Er ist so plötzlich auf der Festwiese gestanden wie er wieder weg war. Der Bürgermeister wollte eigentlich heute am Morgen mit den Leuten reden und die Platzmiete kassieren, aber da war schon alles weg. Er war ebenso erstaunt wie wir, dass sie keinerlei Spuren hinterlassen hatten. Normalerweise mussten die Gemeindebediensteten am Montag noch tonnenweise Becher, Teller und Flaschen einsammeln.“

„Also kommen wir über diesen Weg auch nicht weiter“, kommentierte sie seine Ausführungen. Er schüttelte nur den Kopf und hob die Schultern an. „Es ist aber auch nicht wichtig, wir haben im Moment Wichtigeres zu tun. Wenn der Bürgermeister seine Pacht für die Wiese haben will, muss er zusehen, dass er sie bekommt. Es ist nicht unser Problem“, sagte er und lehnte sich zurück.

„Und wie willst du mit den Phänomenen weitermachen? Langsam häufen sie sich und ich fürchte, es werden noch schlimmere Dinge passieren. Was mir auch ziemliche Sorgen bereitet sind die Farben der Natur. Ob man eine Analyse der Wiesen und Bäume veranlassen sollte? Möglicherweise ist es ein Farbstoff, der gesundheitsgefährdend für die Bevölkerung ist. Ich werde gleich morgen ein paar Tests veranlassen. Als Gemeindeärztin steht mir das zu.“

Taylor nickte. „Gute Idee! Vielleicht klärt sich dann auch gleich das Phänomen von selbst. Kann es sein, dass ein Farbstoff oder etwas, das durch die Luft übertragen wird, diese Phänomene hervorruft? Dass der Stoff in das Gehirn der Menschen eindringt und dort Veränderungen hervorruft oder so etwas Ähnliches.“

Rosalie dachte kurz nach. „Möglich wäre es, natürlich, aber ich habe noch nie davon gehört. Was aber auch nicht heißt, dass es nicht schon vorgekommen wäre. Ich werde morgen mal im Internet recherchieren; vielleicht finde ich den einen oder anderen Beitrag dazu. Aber jetzt möchte ich nur noch blöd in en Fernseher glotzen um meinen Kopf wieder frei zu bekommen. Der Tag heute war echt hart!“

Der neue Morgen zeigte sich ein wenig wolkenverhangen. Rosalie blieb auf der Veranda stehen und sah auf das Meer hinaus, das mit seinen leichten, aber sehr spitzen Wellen die Wolken zu berühren schien. In der Mitte der dunkelgrauen, regengeschwängerten Wolken schimmerte ein Licht, als ob sich ein Blitz darin verstecken würde. Ein kleines Gewitter in jeder Wolke, in der es von grellem Weiß bis zum sanften Gelb schillerte und leuchtete. Rosalie wusste nicht, ob sie dieses unnatürliche Schauspiel als bedrohlich oder als faszinierend betrachten sollte. Vermutlich war es beides, doch sie war sich ihrer Gefühle nicht sicher. Sie hatte auch Hemmungen, aus dem Schutz des breiten Verandadachs hinaus unter den freien Himmel zu treten. Mit einem Schirm über dem Kopf fühlte sie sich zwar nicht sicher, aber doch ein wenig besser, obwohl ihr bewusst war, dass er im Fall eines kontaminierten Regens völlig sinnlos war. Manchmal aber braucht der Mensch nur etwas, um sich daran fest zu halten, dachte sie und stürmte im Laufschritt auf das Haus ihrer Nachbarin zu.

Als sie die Tür öffnete, blieb sie stehen und lauschte. Sie rechnete irgendwie damit, dass Marisha herumkramte, doch sie hörte nicht den geringsten Laut. „Marisha?“, fragte sie zögerlich in den Raum hinein, erhielt jedoch keine Antwort. Mit fröstelnden Oberarmen schlich sie vorsichtig zum Schlafzimmer und spähte um die Ecke. Ihre Nachbarin und Freundin lag in ihrem Bett und war tot. So tot wie vor vierundzwanzig Stunden.

Rosalie atmete hörbar aus und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Aber dieses Mal nicht, um ihr eine Geschichte vorzulesen, sondern um sich endgültig von ihr zu verabschieden. Marisha war tot und würde wohl nicht wieder lebendig werden. Und das war gut so! Sie freute sich über diese Normalität wie über ein Wunder.

Nachdem sie der alten Frau die Decke über den Kopf gezogen hatte, warf sie wieder einen Blick auf das Meer. Die spitzen Wellen drängen sich nun in Richtung Himmel, der jetzt noch tiefer zu hängen schien als noch vor wenigen Minuten. Sie hatte den Eindruck, als wollten die Spitzen der Wellen die Wolken aufstechen, um das gelb-weiße Farbenspiel ins Meer laufen zu lassen. Rosalie fröstelte erneut und sie lief geduckt unter dem Schirm zu ihrem Auto um in die Ordination zu fahren. Zu allererst würde sie Marishas Tochter sowie den Leichenbestatter informieren. Den ärztlichen Totenschein hatte sie gut sichtbar auf dem Küchentisch hinterlassen.

Obwohl in der Praxis schon sieben Patientinnen warteten, nahm sie sich die Zeit für ein ausführliches Gespräch mit Marishas Tochter. Sie hatte sie nie so richtig kennen gelernt, denn sie war nur sehr selten zu Besuch bei ihrer Mutter gewesen, und sie wollte sie auch jetzt nicht mehr kennen lernen. Ihr war nur wichtig, dass ihre Freundin und Nachbarin ein wirklich gutes Begräbnis bekam. Das hatte sie sich allemal verdient.

Als sie sich wieder fit für die Aufgaben des Alltags fühlte, öffnete sie die Tür zum Warteraum und wollte ihre erste Patientin in den Untersuchungsraum bitten, doch ihr Lächeln erstarb sofort, als sie sah, dass alle sieben Frauen heftig miteinander stritten. Sie zischten wie Schlagen, weil sie gelernt hatten, ihre Stimmen in einer Arztpraxis zu dämpfen, aber es war eindeutig ein schlimmer Streit.

„Meine Damen, was ist denn hier los?“, fragte sie entsetzt und sah eine nach der anderen vorwurfsvoll an.

„Die da“, keifte Mrs. Blackwood, „behauptet, sie müsse zur Arbeit und möchte vorgelassen werden. Aber ich war als Erste hier und verlange, als Erste untersucht zu werden. Das ist mein gutes Recht!“ Sie verschränkte die Arme vor ihrer bombastischen Brust und setzte eine zornige Miene auf.

„Als ob sie wüssten, was es heißt, pünktlich in der Arbeit zu erscheinen!“, zischte die Beschuldigte zurück. „Sie haben nur die Beine breit gemacht, damit ihr Mann Sie durchfüttert. Alle wissen das!“

„Also woher sie ihre drei Kinder haben, möchte ich nicht wissen“, stichelte Mrs. Drawling auf die von Mrs. Blackwood beschuldigte Frau ein. „Sie sehen einander überhaupt nicht ähnlich und keine einziges davon ihrem Mann.“

Während diese bösen Worte ausgesprochen wurden, hatte sich Mrs. Blackwood von ihrem Stuhl erhoben und prügelte mit der ziemlich großen Lederhandtasche auf ihre Kontrahentin ein. „Wagen Sie es ja nicht, meine Ehre in den Dreck zu ziehen!“, schrie sie nun hemmungslos und ließ ihre Tasche erneut auf die Frau hernieder sausen.

„Halt! Stopp! Aus! Ruhe! Wer sich nicht benehmen kann, der geht auf der Stelle nach Hause, das ist mein Ernst! Ich werde jede einzelne eigenhändig aus meiner Praxis schmeißen, wenn nicht sofort Ruhe herrscht. Wir sind doch hier nicht in der Gosse!“, keifte Rosalie lautstark, um sich Gehör zu verschaffen und die Frauen aus ihrer Fokussierung auf den Streit zu holen.

Sie spuckte vor Aufregung dünne Speichelfäden in den Raum und ihr Gesicht lief dunkelrot an. Noch in derselben Sekunde herrschte Stille im Raum und die Damen sahen sie einen Moment völlig entgeistert an, denn so kannten sie ihre Ärztin nicht. Dr. Baxter war stets ruhig, nett, besonnen und vernünftig, doch jetzt zeigte sie eine ganz andere Seite von sich.

Zähneknirschend setzte sich Mrs. Blackwood und hielt ihre Handtasche schützend vor ihren Bauch. Auch die anderen sechs Damen hielten ihren Mund und blickten finster an die Wand, auf die Decke oder auf den Boden. Rosalie war mit ihrer Zurechtweisung zufrieden und bat die erste Patientin ins Sprechzimmer. „Kommen Sie bitte herein, damit sie noch rechtzeitig zur Arbeit kommen“, sagte sie und behielt Mrs. Blackwood im Auge, die tatsächlich noch nie berufstätig war.

Nachdem sie die letzte Patientin verabschiedet hatte, legte sie ihren weißen Mantel ab, schulterte ihre Handtasche und stellte sich zum Anmeldeschalter.

„Was war denn heute morgen mit den Damen los? Und wieso waren es nur Damen? Ist dir aufgefallen, dass heute kein einziger männlicher Patient hier war? Nur zickige, streitsüchtige Weiber. Sorry, der letzte Satz war nicht so gemeint“, entschuldigte sie sich sofort bei ihrer Sprechstundenhilfe.

„Du kannst es ruhig aussprechen, sonst muss ich es machen. Der Streit, den die alte Blackwood vom Zaun gebrochen hat, war echt nicht nötig. Es ist doch seit jeher bekannt, dass wir die Berufstätigen vor den Pensionisten drannehmen. Trotzdem war es ein sehr aggressiver Streit und nicht nur zwischen den beiden, es haben sich alle eingemischt. Ich habe keine Ahnung, was da los war. Und wo die Männer abgeblieben sind, weiß ich auch nicht. Ein vernünftiger, ruhiger Mann wäre heute ein echter Gewinn gewesen. Selbst dann, wenn es ein hässlicher gewesen wäre“, witzelte die Sprechstundenhilfe und Rosalie legte ihr lachend die Hand auf den Unterarm.

„Ich gehe heute früher nach Hause, die Befunde diktiere ich morgen. Du kannst auch Schluss machen. Dreh’ mit deinem Hund eine Extrarunde, er wird es dir danken!“

Rosalie trat auf die Straße hinaus und sah sich um. Die Farben der Natur boten nun ein völlig anderes Bild als noch am Morgen. Was sie allerdings sehr wundert war die Tatsache, dass niemand über das Phänomen sprach. Eigentlich musste jeder einzelne Bürger besorgt sein. Sie sah sich um und verspürte keine Panik, sondern eher etwas Friedliches in sich. Und vielleicht war es genau das, was die anderen auch spürten und sich deshalb nicht besorgt zeigten. Bevor sie jedoch nach Hause fuhr, lenkte sie ihren Wagen zur Greißlerei, weil sie keine Lust hatte, in den Supermarkt der nächsten Stadt zu fahren. Die wenigen Lebensmittel, die sie im Moment brauchte, bekam sie auch hier. Und sie war im Moment auch bereit, die unverschämt hohen Preise dafür zu bezahlen. Sie wollte weder noch eine halbe Stunde im Auto sitzen noch stundenlang an einer Supermarktkasse mit einer übermüdeten Kassierin anstehen. Und von Menschen hatte sie an diesem Tag auch schon die Nase voll.

Das Phänomen

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