Читать книгу Das Phänomen - Karin Szivatz - Страница 4
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ОглавлениеKühler Regen prasselte nun schon seit den frühen Abendstunden unablässig auf das Flachdach des geräumigen Hauses, als wollte er eine selbst komponierte Melodie spielen. Er änderte den Rhythmus des Liedes in unregelmäßigen Abständen und pochte zwischendurch dermaßen auf das Dach, als wollte er sich mit einer nachgeahmten Gewehrsalve gewaltsam Zutritt von oben in die liebliche Idylle des Hauses verschaffen. Dann wieder sandte er nur feine Tröpfchen herab, als würde er von einer leichten Sommerbrise erzählen, die sinnlich durch samtweiche, sattgrüne Grashalme gleitet.
In dieser Nacht regnete es nur von oben herab. Der Wind hatte in dieser Nacht beschlossen, nicht mit dem Regen um die Häuser zu ziehen und somit blieben die Fenster weitgehend trocken.
Der weitläufige Bungalow wurde vor wenigen Jahren nur wenige Meter weit weg vom feinen Sandstand errichtet. Gerade weit genug weg, dass die Zungen der Flut nicht an der Veranda aus hellem Kiefernholz lecken konnten, aber nahe genug am Wasser um den salzigen Geruch des Meeres noch im Wohnzimmer inhalieren zu können.
Rosalie lag bereits seit einer guten Stunde wach; sie wurde vom leisen Schnarchen Taylors und den arrhythmischen Klängen des Regens vom Schlafen abgehalten. Noch dazu hatte sie keinen wirklich guten Vertrag mit dem Sandmännchen abgeschlossen und auf Nachverhandlungen ließ er sich scheinbar nicht ein. Sie hasste es, Taylors Schnarchen hören zu müssen; diese Momente stellten ihre Liebe zu ihm auf eine sehr harte Probe. Mitunter fragte sie sich, ob nicht eine Affäre weitaus einfacher zu verzeihen war als das Röcheln und Zischen, das aus seinem leicht offen stehenden Mund kam. Sie hasste es und manchmal, wenn sie partout nicht mehr einschlafen konnte, hasste sie auch ihn. Und im Moment war sie gerade drauf und dran, ihn zu hassen. Obwohl sie vom Vortag noch ziemlich ausgelaugt war beschloss sie, aus dem Zimmer zu gehen. Weg von Taylor, weg von der miesen Atmosphäre, die das Ehebett dank ihrer mordlüsternen Gedanken umgab. Es hatte keinen Sinn mehr, auf den erlösenden Schlaf zu warten. Er hatte bereits seine Sachen gepackt und war abgereist. Morgen würde er hoffentlich wieder kommen, heute aber vermutlich nicht mehr.
Schwerfällig schlug sie die Decke zurück und hievte sich aus dem warmen Bett. Ihre nackte Gestalt zeigte sich nur schemenhaft im Spiegel des dunklen Zimmers. Kritisch betrachtete sie ihre Hüften, die Taille, die Oberschenkel. Dann breitete sie die Arme aus und ließ ihren Blick über die Oberarme streifen. Ein Spiegel lügt nicht, niemals, dachte sie und schlich barfuß aus dem Schlafzimmer; sie wollte Taylor nicht wecken, denn sie wollte keine Erklärungen abgeben, weshalb sie um halb zwei Uhr morgens nachts nackt im Haus herumlief.
Die Küche zeigte sich durch den Mond in fahles Licht getaucht. Die Möbel schienen einen Standaufnahme aus einem schwarz-weiß-Film aus den Neunzehnhundertzwanzigerjahren zu stammen. Ein Stummfilm aus längst vergangnen Tagen, der es geschafft hatte, sich heimlich, still und leise ins dritte Jahrtausend zu schmuggeln.
Rosalie sah sich aufmerksam in der etwas befremdlichen Küche um, drehte sich langsam im Kreis und versuchte zu eruieren, was hier nicht stimmte. Der Raum war derselbe wie seit Jahren, alles befand sich an einem Platz und dennoch schien etwas unerklärlich anders zu sein. Noch während sie sich auf die Einrichtung der Küche konzentrierte, packte sie plötzlich eine eiskalte Faust, die ihr ohnehin schon dumpfer und rascher schlagendes Herz zusammenquetschte und ein beklemmendes Gefühl in ihr auslöste. Sie schlug die Hand an die Brust, stützte sich mit der anderen am Esstisch ab und beugte sich vorn über. Sie japste nach Luft, keuchte und würgte. Todesangst kroch wie eine Eidechse an ihr hoch und zog eine heiße Welle hinter sich, die sie zu verbrennen drohte. Rosalies erster Gedanke galt einem Herzinfarkt, doch so rasch die Symptome aufgetreten waren, so rasch waren sie auch wieder abgeklungen. Die Ursache des darauf folgenden Schauers hatte nichts mit der Umgebungstemperatur zu tun. Die Hitze des Sommers hatte sich seit Tagen über der gesamten Ostküste ausgebreitet; gar so, als wollte sie zwei Wochen am Strand liegen und einfach nur da sein. Der heiß ersehnte Regen, der nach wie vor unablässig vom Himmel fiel, war deshalb eine willkommene Abkühlung für jedermann.
Rosalie lauschte noch immer ihrem Herzen, doch es schlug wieder gleichmäßig, langsam und kräftig. Ganz so, wie sie es gewohnt war. Etwas beruhigt richtete sie sich auf, atmete ein paar Mal tief durch und versprach sich selbst, gleich am Morgen ein EKG schreiben und einen Bluttest machen zu lassen. Das würde sie jedem anderen Menschen auf alle Fälle dringend nahelegen. Mit einem Herzinfarkt war schließlich nicht zu spaßen!
Während Rosalie ihren leichten Bademantel aus dem Badezimmer holte und noch immer auf ihren Herzschlag hörte, lief ganz leichter Kaffee durch die Maschine in ihren Lieblingsbecher. Obwohl er schon mehrere hundert, wenn nicht sogar tausende Wäschen in der Spülmaschine hinter sich hatte, liebte sie ihn abgöttisch. Er war das erste Geschenk, das sie von Taylor bekommen hatte. Sie waren auf dem nächtlichen Jahrmarkt gewesen und völlig verliebt. Eng umschlugen schlenderten sie zwischen den bunt beleuchteten Attraktionen durch, ließen sich von der Hexe in die Geisterbahn locken, von der Gefahr der Hochschaubahn anziehen und von der Köstlichkeit einer mit Schokolade überzogenen Riesenschaumrolle überzeugen.
Und dann war da noch der Schießstand, dessen Schausteller nur noch einen Arm hatte. Er rief unablässig ‚Schießen Sie Ihrer Liebsten doch ein weißes Einhorn!’ in die Menge und zog mit diesen einfachen Worten Scharen an jungen Männern an, die ihren Angebeteten imponieren wollten.
„Willst du das Einhorn?“, fragte Taylor so unsicher, dass Rosalie sofort darauf bestand, eines zu bekommen. Taylors Gesicht wurde schlaff. Sie sah ihm an, dass er auf gar keinen Fall das Einhorn von der Decke schießen würde, aber sie fand es echt süß, dass er es versuchte. Für sie versuchte!
Taylor kramte in der Tasche seiner Jeans und förderte einen Zehner zutage. „Ich will’s versuchen“, flüsterte er dem Schausteller zu und hoffte vermutlich insgeheim, nicht gehört zu werden. Doch der schmale Mann hinter der Theke hatte den Zehner blitzschnell gesehen und auch schon in seiner Tasche verschwinden lassen. Mit einem ziemlich linkischen Lächeln reichte er das geladene Gewehr über den Tresen und Taylor stellte sich breitbeinig in Position. Doch anstatt an die Decke zu zielen um das Einhorn zu bekommen richtete er den Lauf auf die unterste Reihe und landete gleich mit dem ersten Schuss einen Treffer. Den absoluten Glückstreffer.
Der Schausteller sah ihn aus listigen, zusammengekniffenen Augen an. Taylor erwiderte den Blick und ließ ihn lächelnd wissen, dass er ihm noch das Wechselgeld schulde. Und natürlich den Kaffeebecher, den er gerade gewonnen hatte. Taylor überreichte ihr den eigentlich ziemlich hässlichen Becher mit einer tiefen Verbeugung. „Madame, dies soll ab sofort der Kaffeebecher Ihres Lebens sein!“
Rosalie übernahm ihn mit einem höfischen Knicks und fiel ihm anschließend in die Arme. In diesem Augenblick verbanden sich ihre Herzen miteinander und ihr gemeinsames Leben war damit besiegelt worden.
Noch heute dachte sie gerne und mit einer gewissen Wärme im Herzen an diesen Augenblick zurück. Sie drückte den warmen Becher an ihre Brust und sah vom Wohnzimmerfenster auf das offene Meer hinaus. Sie hatte auch hier das Gefühl, als wäre irgendetwas anders als sonst, aber sie konnte es vom Haus aus nicht ausnehmen. Während sie den Gürtel um ihre Taille schlang, öffnete sie leise die Haustür, trat hinaus auf die Veranda, und blickte über den feinen Sandstrand in Richtung Meer. Der Regen fiel währenddessen vom dunklen Himmel und schränkte ihre Sicht ein. Sie erkannte auch noch etwas weiter draußen die Wellen, doch sie sahen nicht wie sonst auch immer aus. Sie waren anders, doch auch jetzt konnte sie nicht genau definieren, weshalb.
Irgendwie fühlte es sich anders an, aber das war auch nicht der richtige Ausdruck dafür. Vielleicht war es auch nur ihre Müdigkeit, die sich in diesem Augenblick bemerkbar machte. Immerhin waren es nur noch ein paar wenige Stunden, bis sie wieder die Tür ihrer Praxis aufschließen und sich all die Klagen der Dorfbewohner anhören musste. Sie liebte ihren Job über alles, übte ihn mit Inbrunst und Leidenschaft aus, aber im Moment konnte sie all zu viel an Leiden und Gejammere nicht ertragen. Doch dieses Gefühl kannte sie nach sieben Jahren im Dienste der Menschheit mittlerweile. Während des Medizinstudiums war sie voll Enthusiasmus und auch während der Praktikumsjahre danach ging sie förmlich darin auf, Anderen zu helfen, sie zu heilen und sie mitunter wieder ins Leben zurück zu holen. Doch als Landärztin beschränkte sich ihr Wirkungsbereich auf die Behandlung von Erkältungen, Rückenschmerzen und auf die Überweisungen zu Fachärzten. An manchen Tagen überlegte sie, ob sie nicht mit Taylor in eine Stadt ziehen und selbst eine Facharztausbildung beginnen sollte. Hier, am Strand von Nirgendwo würde sie ja doch nur versauern und ihr Talent verschwenden. So sehr ihr die wenigen Bewohner des Städtchens am Herzen lagen, so wenig konnten sie ihr als Gegenleistung bieten. Mit ihren zweiunddreißig Jahren war sie bereits ziemlich gelangweilt und sehnte sich nach einem aufregenden Leben, nach Adrenalin, nach Abenteuer, nach Gefahr und Herzklopfen. Hier fand sie nur Ruhe sowie niedrige Ansprüche an ihre Persönlichkeit, an ihren herausragenden Intellekt und an ihr berufliches Können. Das reichte ganz einfach nicht mehr aus. Dieses Leben war etwas für die Zeit nach vielen aufregenden Jahren oder nach der Pensionierung aber im Moment bot es ihr einfach viel zu wenig an Impulsen.