Читать книгу Das Phänomen - Karin Szivatz - Страница 9
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ОглавлениеUnd wieder war es kurz vor sechs Uhr morgens als das Handy der Ärztin läutete. Noch dazu an einem dunklen Samstag, an dem sie nur zu gerne ausgeschlafen hätte. Doch ihr Pflichtbewusstsein ließ sie nach dem Krachmacher auf ihrem Nachttisch greifen. „Baxter“, meldete sich knapp, denn sie war noch mehr im Land der Träume als in der Realität.
„Frau Doktor!“, kreischte eine beinahe hysterisch klingende Stimme ins Telefon. „Sie müssen sofort kommen! Meine Mutter…. Sie verlangt ihr Frühstück! O mein Gott, Sie haben sie für tot erklärt, dabei hat sie mächtig Hunger und sieht fitter als mit achtzig aus. Was haben Sie nur mit ihr gemacht? Kommen Sie schnell, ich muss Ihnen danken! Sie haben mir meine geliebte Mum zurückgebracht!“
Rosalie erkannte Frieda Elms Stimme und schüttelte energisch den Kopf, um klare Gedanken fassen zu können.
Taylor war wach und sah seine Frau fragend an. „Was ist denn mit der hysterischen Elms los? Ihre Mutter lebt?“
Rosalie zuckte mit den Achseln. „Blödsinn! Ich habe sie gestern untersucht, sie war eindeutig tot. Eine Nulllinie am EKG, die Pupillenreflexe waren weg und die Totenflecken sowie die Totenstarre waren eindeutig sichtbar. Sie lag mit offenem Mund in ihrem Bett als wartete sie darauf, dass man ihr eine Münze auf die ausgetrocknete Zunge legt, um den Fährmann auf dem Fluss Styx zu bezahlen.“
Taylor schüttelte den Kopf. „Vielleicht sollten wir der alten Dame rasch gemeinsam einen Besuch abstatten. Und auf dem Rückweg plündern wir die Bäckerei. Ich habe Lust auf Süßes, und wenn die Zimtschnecke nicht ausreicht, muss ich dich danach auch noch vernaschen“, witzelte er und schwang die Beine aus dem Bett.
Normalerweise nahm sie ihn nicht zu ihren Patienten mit, aber diese Situation war eine Ausnahme. Diese Frau war mit Sicherheit tot gewesen, als sie sie untersucht hatte, daran gab es keinerlei Zweifel. Was nun geschehen war, konnte sie sich nicht erklären. Deshalb war sie auch froh, dass von Taylor dieser Vorschlag gekommen war. Er gab ihr Halt und Selbstvertrauen, das sie jetzt ganz dringend brauchte. Denn obwohl sie sich sicher war, dass die alte Dame tatsächlich tot war, so krochen dennoch Zweifel an ihrer Kompetenz in ihr hoch, gegen die sie sich nicht wehren konnte.
Rosalie lenkte ihren Wagen langsam durch die Straßen, denn sie hatte es nicht allzu eilig, die lebende Frau, die sie für tot erklärt hatte, zu sehen. Allerdings konnte sie es noch immer nicht glauben und brauchte die Bestätigung, indem sie sie ansah und mit ihre redete.
Sie betrat auch ganz vorsichtig das etwas muffig riechende Zimmer und fand die alte Dame tatsächlich fröhlich kauend und mit rosa Bäckchen in ihrem Bett vor. Rosalie verschlug es die Sprache und sie musste sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer setzen. Er ächzte und neigte sich ein wenig zur Seite, sodass sie Angst hatte, er würde unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. „Wie geht es Ihnen?“, fragte sie beinahe tonlos, doch die Frau verstand sie sehr gut. Aus munteren Augen sah sie ihren Besuch an und lächelte. „Danke! Ich fühle mich wie neu geboren, aber Sie! Sie sehen ziemlich mitgenommen aus. Vielleicht sollten Sie ein paar Tage ausspannen.“ Dann biss sie herzhaft von ihrem Schinken-Käse-Bagel mit reichlich Mayonnaise ab, kaute ihn kräftig, schluckte, trank Tee nach und rülpste herzhaft, ohne sich dafür zu entschuldigen oder schämen.
Rosalie stand mit zittrigen Knien auf, rang sich ein Lächeln ab und ließ sich von Taylor zum Wagen führen; auf das Messen ihres Pulses verzichtete sie irritiert. Er bugsierte sie gleich auf den Beifahrersitz, denn er wusste, dass sie im Moment nicht fahrtüchtig war.
In dem Haus hatte eine widerlich fröhliche Stimmung geherrscht, die angesichts der Wiederauferstehung der Mutter, Großmutter und Urgroßmutter nicht nachvollziehbar war. Wie konnte das sein? War sie scheintot gewesen? Oder waren da dunkle Mächte am Werk gewesen? Jedenfalls vertraute er dem Urteil seiner Frau. Die alte Dame war mit Sicherheit tot gewesen.
Tief in Gedanken versunken fuhr er an der Dorfbäckerei vorbei, denn er verspürte nun keinen Hunger mehr. Der Appetit auf Zimtschnecken war ihm gerade gehörig vergangen. Und auch auf seine Frau, was noch viel seltener vorkam. Gedankenversunken fuhr er nun ebenso langsam wie Rosalie auf dem Weg zu den Elms und musste den Rest seiner geringen Konzentration auf die Straße lenken, was ihm allerdings nur sehr schwer gelang. Ein sehr flaues Gefühl hatte sich wie ein Eispickel in seinem Inneren festgesetzt und ließ sich nicht mehr herausziehen. Im Wagen herrschte eine Art von Schockzustand; keiner von beiden sprach auch nur ein einziges Wort und die Luft war dick wie Gelee.
Zu Hause löste sich ihre Starre und sie diskutierten mehr als eine Stunde über das plötzliche Wiederkehren der Lebensgeister in der alten Dame. Doch es gab keine wissenschaftliche Erklärung dafür und an Wunder glaubten sie beide nicht.
„Auch wenn das jetzt verrückt klingt, aber ich habe langsam den Eindruck, als würden sich hier im Dorf seltsame Dinge abspielen, denen man auf den Grund gehen sollte. Denk doch nur an Don Henlins verfaultes Kohlfeld und an Benny, der sich umbringen wollte, aber es doch nicht wollte. Und dann die Tote, die nach vierundzwanzig Stunden wieder bei bester Gesundheit im Bett sitzt und rülpst, als wäre sie ein Holzfäller nach der Mittagspause. Das ist doch alles nicht mehr normal!“
Rosalie nippte an ihrem inzwischen lauwarm gewordenen Schwarztee und nickte stumm. „Wenn man es in Summe betrachtet, hast du absolut Recht. Es könnte aber auch reiner Zufall sein. Und wer glaubt schon an dunkle Mächte? Es muss eine rationale Erklärung für diese drei Vorfälle geben. Ein Mensch wird nicht mehr lebendig, nachdem sich Totenflecken auf seinem Rücken gesammelt und die Totenstarre eingesetzt hatte. Sie war tot! Sie war ganz eindeutig tot! Ich bin doch nicht verrückt.“
Taylor konnte ihre Verzweiflung regelrecht spüren und sprang auf, um sie in die Arme zu nehmen. Beinahe im gleichen Augenblick begann sie heftig zu schluchzen und zu weinen.
In diesem Moment wurde Taylors Neugierde endgültig geweckt. Er verspürte dieses altbekannte Verlangen in sich, wenn er bei Ausgrabungen auf weitreichende Erklärungen, die die Artefakte ihm stumm mitteilten, wartete. In seinem Inneren flammte ein Feuer auf, das sich in kürzester Zeit zu einer Feuersbrunst entwickeln und in einen Flächenbrand übergehen würde. Nun hatte ihn die Leidenschaft, bislang Unerklärliches und Unentdecktes zu erforschen, zu benennen und die Rätsel zu lösen mit eisernen Klauen gepackt. Von diesem Punkt weg gab es kein Zurück mehr, die Würfel waren gefallen.
Er ließ sie los, setzte sich wieder ihr gegenüber an den Tisch und faltete die Hände vor der Nase. „Fassen wir zusammen: Benny wird von irgendetwas getrieben, seinen Wagen gegen einen LKW zu steuern um sich selbst zu töten. Don Henlins Kohlfeld verfault von einem Tag auf den anderen und eine tote Frau wird nach genau vierundzwanzig Stunden wieder lebendig. Drei verschiedene Begebenheiten, die nichts miteinander zu tun haben außer, dass sie für unseren Verstand unerklärlich sind. Also muss es einen gemeinsamen Nenner geben, den wir suchen müssen.“
Rosalie sah ihn fragend an. „Müssen? Wir? Wieso wir? Eigentlich betrifft uns das ganze doch gar nicht, wir sind doch nur Randfiguren, die zufällig in die drei Geschehen involviert wurden. Wieso siehst du es als unsere Aufgabe an, das Mysterium dahinter zu erkunden?“ Taylor sah sie streng an. „Da geht etwas bombastisch Unerklärliches, ja direkt schon Mystisches vor sich und du willst dir die Gelegenheit entgehen lassen, es am Schwanz zu packen und in die Hölle zurück zu befördern? Ist das wirklich dein Ernst?“
Rosalie versuchte mit all ihrer Kraft, ein Lachen zu unterdrücken, doch schon nach nur wenigen Sekunden prustete sie laut und verlor sich in einem Lachkrampf. Ihr Mann war einfach genial! Er schaffte es immer wieder, sie in kürzester Zeit aus einem emotionalen Tief zu holen.
„Lass uns doch heute am Abend mal den Jahrmarkt genießen; ich mag nicht mehr über lebende Tote und verfaulte Kohlköpfe nachdenken. Ich will mich wieder einmal so richtig amüsieren. Und bei den Preisen, die sie angeblich verlangen, können wir völlig ungehemmt die Sau rauslassen.“