Читать книгу Das Phänomen - Karin Szivatz - Страница 6

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Der Tag erwachte und mit ihm die Sonne. Rosalie streckte sich ausgiebig in den warmen Strahlen und warf einen neugierigen Blick auf den Strand. Der Sand war bereits wieder hell und verriet damit, dass er wieder trocken war. Wahrscheinlich hatte es zu regnen aufgehört, als sie eingeschlafen war; oder zumindest nur eine kurze Zeitspanne danach. Nun lag auch das Meer mit seiner glatten Oberfläche wieder ruhig vor ihr und sah überhaupt nicht mehr bedrohlich aus; kein Vergleich zur vergangenen Nacht. Noch etwas müde aber doch schon voll Tatendrang stand sie auf und sah auf die Uhr. In einer Stunde würde sie in der Praxis sein müssen, also hatte sie noch ausreichend Zeit um zu duschen und in aller Ruhe einen Kaffee zu trinken.

Während sie versuchte, in ihre Hausschuhe zu schlüpfen und sich gleichzeitig den Bademantel anzuziehen, schüttelte sie leicht den Kopf. Die Mülltonne mit dem Stuhl auf dem Deckel war in ihr Blickfeld gewandert und sie musste lachen, weil sie noch vor ein paar Stunden so töricht war zu glauben, dass etwas abgrundtief Böses ihrer roten Malfarbe entwichen war. Sie war sicher, dass sie die Angst, die Marisha verspürt hatte, ungefiltert übernommen hatte. Das war alles. Es gab nichts Böses und niemanden, den man wegjagen musste oder sollte. Sich von einer dementen, alten Frau, die zeitweise in einer ganz anderen Welt lebte, ins Bockshorn jagen zu lassen, war mehr als töricht. Deshalb beschloss sie, niemandem von dem Vorfall zu erzählen; auch nicht Taylor, der stets ein offenes Ohr für sie hatte und es niemals wagen würde, sie auszulachen oder gar zu verspotten. Sie schämte sich vor sich selbst und wollte mit ihrer Gruselgeschichte niemandem einen Schrecken einjagen.

Kurz vor acht Uhr stellte sie ihren Wagen vor der Praxis ab und konnte bereits elf Patienten im Warteraum begrüßen. Sie war froh, viel zu tun zu haben, um von ihrer Blutgeschichte abgelenkt zu sein aber gleichzeitig war sie auch ein wenig demotiviert, weil sie schon vorab wusste, von welchen Beschwerden die Patienten erzählen würden. Es waren immer dieselben und im Prinzip hätte sie bei rund der Hälfte der Leute die Diagnose ‚Einsamkeit’ stellen müssen. Sie nahm sich vor, einen Umzug in die Stadt mit Taylor am Wochenende ausführlich zu diskutieren.

Mit einem Lächeln empfing sie jeden einzelnen Patienten und versuchte, zumeist auf psychologischem Weg, zu helfen. Während sie sich mit Mrs. Blackwood über ihren schlimmen Rücken unterhielt, riss die Sprechstundenhilfe die Tür auf und schnatterte so aufgeregt, dass sich ihre Stimme überschlug: „Benny ist in den Graben gefahren, Benny Alister, sie wissen schon, der Junge von Fred Alister. Die Rettung ist schon verständigt, aber sie braucht noch eine Weile. Sie müssen ihm helfen! Schnell!“

Rosalie entschuldigte sich rasch bei Mrs. Blackwood, die mit grimmigen Gesichtszügen ziemlich ungehalten auf die Unterbrechung ihrer Leidensgeschichte reagierte, packte ihre Notfalltasche und ließ sich noch rasch den Weg zur Unglücksstelle beschreiben. Zwei Sekunden später parkte sie verkehrswidrig aus und jagte die Straße entlang in Richtung Fluss, wo Benny hoffentlich nicht allzu schwer verletzt auf ihre Hilfe wartete.

Noch während sie mit Bleifuß in Richtung Unfallstelle jagte, konnte sie schon von weitem eine dünne, dunkelgraue Rauchsäule, die in den Himmel steigen sehen. Wie ein überdimensionaler Finger zeigte er ihr den Weg zur Unfallstelle punktgenau an. Die Szene wirkte direkt grotesk und Rosalie schüttelte entschlossen den Kopf. Sie musste hier weg, sonst würde sie über kurz oder lang den Verstand verlieren.

Als sie Sichtkontakt zu ihm aufnehmen konnte sah sie Benny am Straßenrand sitzen und ein weißes Taschentuch auf eine Rissquetschwunde an seiner Stirn drücken. Rosalie kniete sich neben ihn und sah sich die Wunde an. Sie war zwar lang, aber nicht besonders tief. Sie würde eine Narbe abgeben, aber mehr nicht. Der rechte Unterarm war eindeutig gebrochen und beide Lippen aufgeplatzt. Er war offensichtlich direkt mit dem Gesicht auf das Lenkrad gekracht. Rosalie fragte sich stumm, weshalb sich der Airbag nicht entfaltet hatte, aber das zu eruieren war sicher nicht ihre Aufgabe. Noch dazu war diese Frage im Moment völlig nebensächlich. Benny musste ins Krankenhaus und vorher wollte sie noch rasch seine offenen Wunden reinigen, desinfizieren und verbinden. Den gebrochenen Unterarm fixierte sie in einer harten Schiene und diese an seinem Oberkörper. Dann rief sie die Rettungsstelle an und musste erfahren, dass der Krankenwagen noch rund eine Stunde brauchen würde, um Benny abzuholen.

„Danke, stornieren Sie den Transport, ich bringe ihn selbst ins Krankenhaus.“ Mit diesen Worten legte sie auf, half Benny auf die Beine und hievte ihn vorsichtig in ihren nicht allzu großen Wagen. Der junge Mann stöhnte und sah die Ärztin etwas vorwurfsvoll an. „Wenn du bequem reisen willst, kann ich nur Don anrufen, der dich mit dem Traktor ins Krankenhaus bringen kann. Er hat auf seinem großen Anhänger Stroh geladen, dort hast du es bequemer als hier.“

Sie sah ihn lächelnd an und ihr Patient prustete los, verzog aber sofort das Gesicht; die aufgeplatzten Lippen ließen ein Lachen nicht zu. Instinktiv griff er sich an die Lippe und zuckte sofort zurück. Er sollte besser die Ärztin arbeiten lassen und selbst nichts tun.

Die Ersthelfer hatte Rosalie sofort dankend weggeschickt, weil sie deren geistreiche Kommentare nicht gebrauchen konnte. Sie wusste durchaus, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Nicht wenige Menschen glauben, Notfallmediziner zu sein, wenn sie einen sechsstündigen Kurs in Erste Hilfe absolviert hatten.

Nachdem sie ihren Patienten im Auto hatte, drehte sie um und fuhr ins Dorf zurück. Sie überlegte, ob sie ihn überhaupt ins Krankenhaus fahren müsste. Mit dem Röntgen des ansässigen Tierarztes würde sie sich die Fraktur des Unterarmknochens ansehen können und die Wunde an der Stirn würde sie ganz einfach selbst nähen. Nein, dafür musste er nicht extra ins Krankenhaus fahren, beschloss sie kurzerhand. Benny war außerdem ein bodenständiger junger Mann, dem man eine solche Behandlung durchaus zumuten konnte. Sie kannte ihre Patienten seit vielen Jahren und wusste, wie sie mit ihnen umgehen musste oder konnte. Als er sich neben ihr regte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein im Wagen saß. Sie war völlig in Gedanken versunken gewesen und hatte auch nicht sonderlich auf den Verkehr geachtet. Mit dem Anflug eines Schuldgefühls achtete sie sofort wieder auf die Straße und schenkte auch ihrem Patienten Beachtung.

„Wie ist denn das ganze passiert?“, fragte Rosalie ihren Beifahrer und sah ihn kurz von der Seite an.

Benny atmete lange aus und wand sich ein wenig, eher zu sprechen begann: „Ich bin ganz normal gefahren, so wie immer. Es war auch nicht viel Verkehr und ich habe den Lastwagen gesehen und da wurde mir plötzlich ganz komisch. Als ob jemand ein riesiges Loch in meinen Bauch geschossen hätte. Ich fühlte mich von einem Moment auf den anderen total leer und hatte ….“ Seine Stimme war immer zittriger geworden und versagte an dieser Stelle völlig ihren Dienst. Dicke Tränen rannen über sein mit Blut verkrustetes Gesicht; klarer Schleim kroch langsam aus seinem rechten Nasenloch und bahnte sich seinen Weg über die aufgerissenen Lippen nach unten.

Rosalie tastete nach einem Taschentuch, ohne die Augen von der Straße zu nehmen und reichte es dem Jungen. Er putzte sich vorsichtig die Nase und startete erneut einen Versuch, seine Geschichte zu erzählen. Doch seine Stimme versagte an der exakt selben Stelle wie schon zuvor.

„Hast du schon jemanden wegen deines Wagens angerufen? Holt ihn Harry gleich in seine Werkstatt?“, versuchte Rosalie die Situation zu entschärfen und ihm Zeit zu geben. So wichtig war der Unfallhergang nun auch wieder nicht. Sie war froh, dass ihm nichts Schlimmeres passiert war.

Als sie vor der Tierarztpraxis ankamen, saß Mike, der Tierarzt, vor der Tür und ließ sich eine Zigarette schmecken.

„Hey Mike!“, begrüßte Rosalie den älteren Mann und ging zur Beifahrertür. „Kann ich kurz dein Röntgengerät benutzen? Benny hat sich den Arm gebrochen und ich möchte ihn nicht unbedingt ins Krankenhaus schicken.“

Mike Golding schirmte seine Augen vor der Sonne ab, inhalierte den Rauch und nickte wortlos. Dann schloss er die Augen und lehnte sich wieder an die warme Mauer. Rosalie kannte sich in seiner Praxis aus und sie würde ihm das Geld für das Röntgenbild auf seinem Schreibtisch hinterlassen. Er vertraute ihr blind und ließ sich deshalb nicht von seiner Mittagspause abhalten; sie war ihm sogar noch heiliger als sein Sonntagsschlaf, über den er nichts kommen ließ.

Rosalie erklärte Benny, was er zu tun hatte, schoss zwei Bilder und sah sie sich gleich am Computer an. Ihre Diagnose am Unfallort war genau richtig gewesen; die Elle sowie die Speiche waren gebrochen, aber sie waren noch in der anatomisch korrekten Position. Nicht der kleinste Splitter befand sich in den Weichteilen. „Du hast Glück gehabt, Benny. So weit ist alles in Ordnung. Ich lege dir einen Gipsverband für sechs Wochen an, danach bist du wieder wie neu.“

Sie lächelte und nahm zwei Gipsbinden aus einer Schachtel. Benny hingegen starrte ins Leere und sie hatte das Gefühl, als hätten ihn ihre Worte nicht erreicht.

„Benny? Was ist los? Hast du mich verstanden?“, fragte sie und befürchtete, dass er eine Gehirnerschütterung erlitten hatte. Doch er reagierte sofort.

„Ja, klar. Der Arm ist gebrochen, Gips für sechs Wochen.“

„Du bist ja ein richtiger Poet!“, rief sie aus, zog sich einen Hocker unters Gesäß und legte ihm die erste Gipsbinde auf den Unterarm. „Aber jetzt sag mir doch, was mit dir los ist. Was ist bei dem Unfall passiert? Oder vor dem Unfall.“

Benny sah betreten zu Boden. „Ich wollte… na ja, eigentlich wollte ich nicht, irgendwie musste ich… jedenfalls war da dieses Loch, diese plötzliche Leere in meinem Bauch und da wollte ich gegen den Lastwagen fahren. Eigentlich nicht absichtlich, aber dann doch wieder. Ich weiß auch nicht.“ Er sank in sich zusammen und ließ kraftlos den Kopf auf die Brust fallen.

Die Ärztin hielt inmitten ihrer Arbeit inne und sah ihren Patienten irritiert an.

„Du wolltest Selbstmord begehen, indem du mit deinem Wagen in einen LKW rast?“

Benny liefen die Tränen über die Wangen. „Es war ja nicht so, dass ich es geplant habe und ich will auch gar nicht sterben! Das Leben ist schön und ich weiß nicht, was da draußen los war. Halten Sie mich jetzt bitte nicht für verrückt, aber am besten kann ich es beschreiben: die plötzlich auftretende Leere in mir hat mich dazu veranlasst, das Lenkrad nach links zu ziehen. Doch ganz knapp vor dem Zusammenstoß hatte ich mich wieder unter Kontrolle und bin noch mehr nach links gefahren, weil der Lastwagen auf meine, also die rechte Fahrspur ausweichen wollte. So haben wir gemeinsam den Unfall verhindert. Meinen Sie, ich bin psychisch krank? Falle ich vielleicht gar schon unter die Rubrik ‚Reif für die Psychiatrie’?“

Rosalie wünschte, sie könnte ihm mit einem Lachen bestätigen, dass er völlig falsch lag, doch ihr keimte der Verdacht, dass mit seiner Psyche tatsächlich etwas nicht in Ordnung ist. Dennoch wollte sie ihn nicht beunruhigen.

„Ist so etwas schön öfter vorgekommen? Ich meine eine solche Leere oder Suizidgedanken? Fühlst du dich manchmal traurig oder so schwer, dass du morgens nicht aufstehen willst?“ Sie formulierte ihre Fragen bewusst weitläufig, denn ihr ist an ihm noch nie etwas aufgefallen, das sie als pathologisch eingestuft hätte.

„Nein, so gesehen nicht. Natürlich war ich traurig, als mein Vogel gestorben ist und wer steht morgens schon gerne auf? Aber nein, das ist so wie bei all den anderen Jungs in meinem Alter auch. Oder auch bei fast allen anderen Menschen, nehme ich an.“

Rosalie nahm ihre Arbeit am Gipsverband wieder auf und strich ihn nachdenklich glatt. Sie hatte nicht den Eindruck, als wäre er wirklich psychisch krank und sie wollte ihn auch nicht beunruhigen. Dennoch nahm sie sich vor, ihn ein bisschen im Auge zu behalten.

„Ich nähe noch rasch deine Platzwunde an der Stirn und dann bringe ich dich nach Hause. Du ruhst dich zwei Tage aus und dann kommst du zu mir zur Kontrolle. Ich würde diese Leere nicht überbewerten, aber sei achtsam. Wenn du sie wieder verspüren solltest, wenn du mit dem Wagen unterwegs bist, bleib sofort stehen und zieh den Zündschlüssel ab. Wenn du auf der Straße gehst, setz dich sofort auf den Boden und klammere dich an einer Dachrinne oder an einem Fahrradständer fest. Du weißt, was ich meine?“

Benny nickte erleichtert. „Danke, das werde ich. Und ich werde dann sofort zu Ihnen kommen, damit wir darüber reden können.“

Rosalie lächelte. Diese Landeier, die ihr blind vertrauten, werden ihr in der anonymen Stadt fehlen; ganz bestimmt.

„Aber auf den Jahrmarkt darf ich morgen am Abend schon gehen, oder? Sie bauen schon auf der großen Festwiese die Zelte und die Karusselle auf. Ich habe meinem Mädchen nämlich versprochen, sie morgen groß auszuführen.“

„Ach so? Ein Jahrmarkt? Aber natürlich, da spricht nichts dagegen. Wie lange bleiben denn die Schausteller im Ort? Ich habe gar keine Plakate gesehen.“

„Sie haben scheinbar keine aufgehängt, sie waren heute am Morgen einfach da. Aber sie haben ein großes Transparent aufgestellt, auf dem steht ‚pro Fahrt nur dreißig Cent! Bei allen anderen Jahrmärkten in der Umgebung zahlt man das Siebenfache und mehr. Um dreißig Cent darf man bei den anderen Jahrmärkten nicht mal bei den Fahrten zusehen. Und ich bin mir sicher, dass sie das ganze Wochenende über hierbleiben. All die Karusselle und Buden aufzubauen rentiert sich für einen Tag und eine halbe Nacht ganz bestimmt nicht. “

Rosalie lachte und legte ihm die Hand auf den unverletzten Unterarm. „Da hast du allerdings Recht. Die Fahrten sind heutzutage überall schweineteuer, das muss man ausnutzen. Ich werde auch hingehen, aber fühle dich nicht von mir kontrolliert, hörst du? Aber jetzt muss ich deine Wunde nähen, sonst heilt sie vielleicht noch von selbst zusammen und ich kann dir kein Honorar dafür ausstellen“, scherzte sie und holte die Vereisungsspritze, eine chirurgische Pinzette und den Nadelhalter mit der goldenen Spitze.

Nachdem sie die den Verband auf die Wunde geklebt, sich bei Mike bedankt und Benny nach Hause gebracht hatte, fuhr sie wieder in ihre Praxis und hielt noch tapfer weitere zwei Stunden mit ihren Stammpatienten durch. Dann fuhr sie nach Hause, legte ihre Kleidung inklusive BH und Slip ab, schlüpfte in ein leichtes Sommerkleid und ging barfuß am Strand spazieren. Ihr Kopf war überlastet und sie fühlte sich etwas erschöpft. Dagegen half nichts besser als ein kurzer Spaziergang am Stand. Schon die Wärme des Sandes unter auf ihren Füßen empfand sie als entspannend; von den sanften Tönen des leisen Merresrauschens ganz zu schweigen.

Das Phänomen

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