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Man bevorzugt die dritte Person – Der doppelte Caesar
ОглавлениеSo geht Caesar-Lektüre heute. Man spürt der Leserlenkung nach, die der große Caesar sehr bewusst einsetzt, um seine zeitgenössischen Leser gewissermaßen auf seine Seite zu ziehen, um ihnen seine Sicht der Dinge schmackhaft zu machen. Um beim konkreten Beispiel zu bleiben: Die verpasste Chance, mit den Helvetiern zu einem früheren Zeitpunkt fertig zu werden, als es in Wirklichkeit gelang, gänzlich zu verschweigen, um den strahlenden Feldherrn-Nimbus auch nicht durch einen vorübergehenden kleinen Schatten zu verdunkeln – das war für den Berichterstatter in eigener Sache keine Option. Es gab ja in seinem Generalstab genügend Zeugen, die diese kleine Pleite miterlebt hatten und die innenpolitisch nicht unbedingt auf Caesars Seite standen. Wenn die sich bei der Lektüre von Caesars commentarii wunderten, dass z.B. der schöne geplante Zangenangriff gar nicht erwähnt werde, und anderen von dieser Verwunderung erzählten, bekäme Caesars Bericht über den Gallischen Krieg schnell ein Glaubwürdigkeitsproblem: War der ganze „Report“ über den mehrjährigen Krieg, der zur Eroberung Galliens führte, gar eine geschönte Propaganda-Fassung, in der das eine oder andere nicht rühmliche Detail schlicht unter den Tisch fiel?
Natürlich waren die commentarii eine Propagandaschrift, mit der Caesar die politischen Entscheidungsträger Roms in seinem Sinne beeinflussen wollte – und das wusste auch jeder, der die Schrift zur Hand nahm. Aber offensichtliche Unwahrheiten, nachweisbare Verfälschungen bestimmter Abläufe und beredte Lücken in der Darstellung hätten das Grundmisstrauen der Leser gestärkt und die Schrift zu einem Rohrkrepierer gemacht oder zumindest in den Rang einer Werbepoesie zum größeren Ruhm ihres Verfassers degradiert, und man hätte sie geringschätzig zur Seite gelegt. Damit hätten die commentarii als ernst zu nehmender, nüchterner Bericht über die Vorgänge der Jahre 58 bis 51 v. Chr. in Gallien ihre Wirkung verfehlt. Dass sie als solcher angelegt waren, zeigt schon ein einzigartiger Kunstgriff, den Caesar, soweit wir wissen, erstmals angewandt hat: Er trennt die Perspektive des Berichterstatters von der des handelnden Feldherrn, indem er konsequent in der dritten Person schreibt. Da berichtet kein auktorialer Erzähler in der Ich-Form, sondern ein distanzierter Historiker über die Taten eines gewissen Provinzstatthalters Gaius Iulius Caesar.
Diese objektivierende Perspektive wird streng durchgehalten – mit Ausnahme von Passagen, in denen es besonders dramatisch um das Wohl und Wehe des römischen Volkes geht. Dann ist auf einmal von nos, „wir“, und nostri, „unseren Soldaten“, die Rede: Da verschmelzen Berichterstatter und historischer Akteur zu einer Einheit, die Teil einer noch größeren Einheit aller Römer und ihrer Interessen ist. Römische Solidarität und Appell an römisches Gemeinschafts- und Nationalgefühl sind in solchen Momenten wichtiger als kühl-distanzierte Objektivität. Wenn provincia nostra, „unsere Provinz“, in Gefahr gerät, müssen alle Römer zusammenhalten – auch unter Inkaufnahme eines eklatanten Stilbruchs.
Lassen sich Caesar tatsächlich keine groben Unwahrheiten und Verfälschungen nachweisen? Ein Heer von Philologen und Historikern hat sich auf die Suche begeben – und sich, wenn man so sagen darf, die Zähne daran ausgebissen. Bei einer großflächigen déformation historique, „Verfälschung der historischen Wirklichkeit“, hat ihn niemand erwischt. Zugegeben, die Parallelüberlieferung ist recht dürftig, aber einiges an unabhängigem Quellenmaterial gibt es schon, nur eben nichts, das es erlauben würde, Caesar auch nur in die Nähe von Geschichtsfälschung zu rücken.
Zum neutralen Berichterstatter der Ereignisse in Gallien wird er dadurch selbstverständlich nicht. Er hatte ein enormes Interesse daran, die Senatoren und andere politische Meinungsführer die Dinge durch seine Brille sehen zu lassen. Caesar stand unter Rechtfertigungsdruck, um sich für weitere Aufgaben in Rom zu empfehlen und seine Widersacher als Neider und Krakeeler dastehen zu lassen, die Kritik an seiner Diplomatie, Kriegsführung und zivilen Tätigkeit als Provinzstatthalter in Gallien übten, um ihm zu schaden, und damit die übergeordneten Interessen des Staates verletzten.