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»Die Sonne versengt die Netzhaut, anderes versengt die Seele«

Hans Wauschkuhn saß immer noch auf der Bank am Dorfplatz. Josie nahm neben ihm Platz. »Die roten Kreise, die Sie malen, sind sehr schön«, sagte sie. »Sie sehen aus wie die Sonne. Nur dass man in die Kreise hineingucken kann und in die Sonne nicht, wenn man nicht erblinden will.«

»Genau«, erwiderte er. »Wenn man zu lange in die Sonne guckt, sieht man nichts mehr. So wie diese Leute hier«, er deutete auf die Menschen, die aus der Scheune kamen und sich auf den Weg zum großen Esstisch machten.

»Sie sehen nichts?«

»Sie haben zu viel gesehen. Zu viel Grelles, zu viel Versengendes. Die Sonne versengt die Netzhaut – andere Dinge versengen die Seele. Jetzt wollen sie nichts mehr sehen. Vor allem Margret wollen sie nicht sehen. Sie haben alle Bescheid gewusst, und ihr Wissen verbrannte ihre Seelen.«

»Was? Was haben sie gewusst?«

Wauschkuhn zündete sich eine Zigarette an. »Dass der tote Russe unter dem Erdhügel neben Margrets Haus nicht der Vater des Kindes ist. Sie haben ihn hängen sehen und wussten, dass sie die Nächsten sein würden, wenn sie es aussprächen.«

»Wer ist der Vater?«

Wauschkuhn nahm einen tiefen Zug, und während der Rauch aus seinen Nasenlöchern strömte, sagte er: »Einer von Schenks Leuten, ein kleiner, unbedeutender Parteigenosse. Er hatte beobachtet, wie Margret den Russen manchmal heimlich Essen brachte. Konspiration mit dem Feind – ein Kapitalverbrechen! Und er hat Margret damit erpresst: Gelegentliche Schäferstündchen gegen Stillschweigen. Wenn er geredet hätte, wären Margret und ihre ganze Familie ins KZ gewandert.

Ich habe dort Leute gesehen, die wegen geringerer Vergehen abgeholt worden waren.«

»Und sie nennen den Jungen Iwan …«, sagte Josie. »Was sind das für Menschen? Wie wird man so?«

»Was weiß ich?«, erwiderte Wauschkuhn resigniert. »Ich bin nur Maler!«

»Aber Sie haben es ebenfalls die ganze Zeit gewusst.«

»Was nutzte denn mein Wissen? Ich war im KZ.«

»Aber danach? Warum hat Margret nichts unternommen, als alles vorbei war?«

»Frag sie selbst.«

Josie nickte entschlossen. Sie kehrte umgehend noch einmal zurück zu Margrets Hütte, wo sie zu ihrer Überraschung Irmi und Ingo im Sand sitzen und mit dem Pferd spielen sah.

»Sie wird sich freuen, dass du nochmal kommst«, sagte Ingo, ohne aufzusehen. »Sie zittert die ganze Zeit.«

Noch verblüffter war Josie, in der Hütte Edgar und Doris Volkerts vorzufinden. Sie knieten vor dem Bett und legten ihrer Tochter kalte Tücher auf die Stirn.

»Sie hat Fieber und Schüttelfrost«, flüsterte Margrets Mutter leise.

»Sie spricht!«, fügte der Vater hinzu. »Sie spricht!«

»Ich komme später wieder«, sagte Josie und wollte eben gehen, als sie Margret hörte: »Bleib! Ich bin nur etwas erschöpft. Ich weiß, dass du noch etwas wissen möchtest.«

Josie fasste Margrets Hand. »Warum hast du nie gesagt, wer es war – später, als alles vorbei war? Warum hast du keinen Ton mehr gesprochen?«

»Er lebt noch, nur ein paar Dörfer weiter …«

»Aber er hat keine Macht mehr über dich!«, unterbrach Josie sie. »Du hättest es sagen können! Er muss jetzt zittern, dass man ihn zur Rechenschaft zieht. Und dieser Schenk genauso!«

Margret schüttelte den Kopf. »Ingo«, sagte sie. »Er hätte dem Jungen etwas angetan.«

»Hat er das gesagt?«, fragte Josie entsetzt.

Margret nickte. »Er war hier, wenige Tage nach Kriegsende. Er sagte, er würde Ingo …« Margret drehte ihr Gesicht zur Seite, das Zittern wurde stärker. Doris Volkerts legte ihrer Tochter ein neues feuchtes Tuch auf die Stirn.

Erschüttert verließ Josie die Hütte und stieß draußen auf Rasmus, der schon seit einigen Minuten unruhig vor der Tür gewartet hatte. Er legte seine Hand an Josies Wange und sah sie besorgt an. »Jetzt nicht«, sagte sie und schob ihn sanft beiseite, »es ist zu viel passiert heute. Ich muss jetzt allein sein.«

»Wo willst du hin?«, fragte Ingo.

»Spazieren gehen.«

»Dann kommen wir mit«, sagte Irmi. »Man kann sich im Moor leicht verlaufen. Und ich kenn’ mich da aus …«

Josie lächelte und streckte den Kindern ihre Hände entgegen. Rasmus sah ihr verwundert nach wie sie zum Dorfausgang ging, an jeder Hand ein Kind.

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