Читать книгу Hotel Savoy - Karsten Flohr - Страница 11

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»Das Böse lauert immer irgendwo«

Am nächsten Tag herrschte Stille im Dorf. Die Heidschnucken schwiegen, die Strapazen der Schur waren vergessen und sie genossen es, die schwere Wolle nicht mehr mit sich herumschleppen zu müssen. Gleichzeitig kündigte sich ein Wetterumschwung an: Am Horizont zogen Wolken herauf, die ein Gewitter und Abkühlung verhießen.

Josie war nach dem Frühstück, das an diesem Tag besonders schweigsam verlief, wieder in ihre Kammer gegangen. Sie lag auf dem Bett und versuchte zu verstehen, was geschehen war – woher das Böse kam, das das Dorf heimgesucht hatte. Früher hätte sie darüber gelacht, wenn jemand gesagt hätte, es gäbe das Böse leibhaftig. Jetzt war sie sicher, dass es so war, sie spürte es, konnte es förmlich mit Händen greifen. Es lauerte immer noch irgendwo, wartete darauf, noch einmal zurück­kehren zu können.

Sie versuchte, sich in Margret hineinzuversetzen, was ihr Tränen des Mitgefühls in die Augen trieb. Und zugleich bewunderte Josie sie. Welcher Mut der Verzweiflung gehörte dazu, sich wie ein Krebs in seinen Panzer zurückzuziehen und so unter jenen weiterzuleben, die sich dem Bösen nicht in den Weg gestellt, sie nicht beschützt hatten?

Sie musste eingeschlafen sein, denn als sie hörte, wie Hertha ihren Namen rief, waren zwei Stunden vergangen. Josie sprang aus dem Bett und lief die Treppe hinunter.

Ihre Tante stand im Flur und hielt einen dicken Brief­umschlag in der Hand, durch die geöffnete Haustür sah Josie, wie der Postbote auf sein Fahrrad stieg und davonfuhr.

»Für dich«, sagte Hertha, »ist an dich adressiert.«

Josie hatte in all den Jahren nie Post bekommen. Irgendetwas ist mit Vater passiert!, schoss ihr durch den Kopf.

»Es ist von einem Anwalt«, sagte Hertha, als Josie vorsichtig das Päckchen entgegennahm, als könnte es glühend heiß sein. Sie drehte und wendete es und sah dann fragend ihre Tante an.

»Möchtest du, dass wir es zusammen öffnen?«, fragte Hertha. Josie nickte. Kurz darauf saßen sie am Küchentisch, die vielen eng beschriebenen Seiten vor sich ausgebreitet. »Aber … aber das heißt ja, dass … dass er nicht mehr lebt!«, stammelte Josie.

Hertha schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Kindchen«, sagte sie, »es heißt nur, dass du das Hotel geerbt hast, mit deinem 21. Geburtstag, denn dann bist du geschäftsfähig. So hat er es verfügt.«

»Aber warum sollte er es mir vererben, wenn er noch am Leben wäre?«

»Wer weiß? Aber so steht es hier: Sollte ich bis zum 21. Geburtstag meiner Tochter Josephine nicht wieder zurück sein, geht das Hotel auf sie über. Außerdem hat der Anwalt dich zu einem Gespräch gebeten, am …« sie suchte in den Papieren und fand dann das Anschreiben, »… in drei Tagen.«

»Schon?« Josie fühlte Panik aufsteigen. Hertha erhob sich und holte ihr ein Glas Wasser. »Oder lieber einen Schnaps?«, fragte sie. »Die Männer haben etwas übrig gelassen.«

Zu Herthas Verwunderung nickte Josie. »Dann nehme ich auch einen«, sagte sie. Als sie wieder am Tisch saß, hob sie ihr Glas und sagte: »Auf deinen Vater! Es wird schon nichts Schlimmes sein mit ihm. Viele Männer kehren jetzt erst heim, bei manchen wird es sogar noch länger dauern.«

Seit die Reise beschlossene Sache war, hatte Josie das Gefühl, in einem Aquarium zu sitzen: Sie sah das Dorf, seine Bewohner und ihre eigene Vergangenheit wie durch eine beschlagene Scheibe, empfand alles um sich herum unscharf, unwirklich, in Auflösung begriffen. Obgleich sie voller Freude miterlebte, wie Margret immer öfter ihre Hütte verließ, das Haus ihrer Eltern betrat und sogar über den Dorfplatz ging, erschien ihr all dies wie der Nachhall von etwas längst Vergangenem.

»Hast du sowas schonmal erlebt?«, fragte sie Rasmus. »Ich meine: Man ist da, wo man immer ist, aber man sieht sich selbst wie aus großer Ferne. Stattdessen spürt man etwas Neues, das hinter einem steht und versucht, den Blick in eine andere, unbekannte Richtung zu lenken. Ich meine … klingt das verrückt?«

Sie saßen am Abend vor der Abreise auf der Bank am Dorfplatz, hatten alle Scheu abgelegt, sich zusammen öffentlich zu zeigen. Die Finger ineinander verhakt warteten sie darauf, dass die Sonne hinter dem Waldrand untergehen würde. Es war kühl, die schweren Gewitter der letzten Tage hatten nicht nur die Sandwege in Schlammpfade verwandelt, sondern auch den verfrühten Hochsommer vertrieben.

»Ja«, sagte Rasmus, »ein bisschen verrückt klingt das schon. Hier, fass mich an, ich bin doch ganz real …« Er legte Josies Hand auf seinen Bauch und wölbte ihn vor. »Ein ganz realer Bauch, oder?«

Josie lachte. »Ja. Aber dieser Brief – er hat mich aus der Zeit gerissen. Es ist, als würde er mir sagen: Das bedeutet alles nichts mehr, dreh dich um und sieh in die Zukunft!«

»Und ich – komme ich in deiner Zukunft vor oder zähle ich zur Vergangenheit?«

Josie legte ihren Kopf an seine Schulter. »Irgendwie schon, ja«, sagte sie. »Andererseits hast du mir gerade gezeigt, wie real du bist. Ich glaube, Wauschkuhn hat das Plätzchen für uns noch freigehalten. Ganz real, meine ich …«

»Wir können ja mal nachsehen«, erwiderte Rasmus.

Magnus Töpfer war der einzige im Dorf, der ein Auto besaß. Er bot Josie an, sie damit nach Hamburg zu bringen. Das Auto sei ein Vorkriegsmodell, aber noch tadellos in Schuss, sie würde pünktlich beim Anwalt sein. Es verkehrte zwar ein Postbus, aber am Abend des vorgesehenen Tages fuhr keiner die Strecke zurück nach Hemelinghausen. Und Josie eine Nacht allein in Hamburg – ausgeschlossen!, entschied Hertha. Also wurde Magnus Töpfers Angebot angenommen.

Der alte DKW, den Josie am Morgen bestieg, sah aus, als wäre er mindestens dreimal ausgebrannt. Die Farbe undefinierbar, die zerschlissenen Polster mit Pferdedecken belegt, die Scheiben mit Klebeband zusammengehalten. »Die Scheibenwischer gehen nicht«, sagte Magnus Töpfer, »aber ich glaube, fürs Erste hat es sich ausgeregnet, da macht das nichts.« Er versuchte, sich betont unbeschwert zu geben und der Fahrt nach Hamburg das Flair des Besonderen zu nehmen.

Bevor es soweit war, waren mehrere Startversuche nötig, bei denen alle verfügbaren Dorfbewohner anschieben mussten. Zweimal blieben die ziemlich platten Vorderreifen bedrohlich im Schlamm stecken. Als der DKW endlich Richtung Dorfausgang rollte, machte sich eine beinahe heitere Stimmung breit, man winkte und rief, und die Kinder liefen ein Stück neben dem Auto her.

»Endlich raus aus diesem Schnucken-Kaff!«, sagte Magnus Töpfer, als sie die Landstraße erreichten. »Ich würde dir gern Glenn Miller vorspielen, aber mein Grammophon steht zuhause.« Ja, Glenn Miller würde jetzt gut passen, dachte Josie, vielleicht In the mood. Das war ihr Lieblingsstück.

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