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»Es ist Zeit, ins Leben zurückzukehren«

Während der nächsten Tage wurde die Hitze immer drückender, die Heidschnucken litten und blökten weiter, der gerade erst sprießende Rasen hinter dem Haus der Grubes begann gelb zu werden. Aber es gab Hoffnung: Für Sonntag hatten sich die Scherer angekündigt! Das würde zwar nicht dem Rasen helfen, aber es lenkte die Dorfbewohner ab.

Josies abendliche Besuche bei Margret wurden zwar weiterhin argwöhnisch beobachtet, aber die Gedanken waren wieder bei den Alltagspflichten: Es mussten die Abnehmer für die Wolle informiert werden, das gemeinsame Essen für die Männer und die Dorfbewohner vorbereitet, genügend Schnaps und Bier besorgt werden. Da Familie Volkerts in diesem Jahr für das Essen zuständig war, musste Rasmus helfen. Er fand kaum Zeit, das Haus zu verlassen. So ging Josie am Tag vor dem großen Ereignis zu ihm.

Sie fand ihn am Küchentisch damit beschäftigt, Kohl zu schneiden. »Nein!«, rief sie, »du willst mir doch nicht erzählen, dass es schon wieder Hammeleintopf gibt? Was anderes fällt hier niemandem ein? Oder ist das eine Art Heidegesetz?«

»Tradition, würde ich eher sagen: Man macht, was man immer schon gemacht hat.«

»Und was hat man hier immer schon gemacht?«

Rasmus spürte die Zweideutigkeit, wusste aber nicht, worauf sie hinauswollte. »Weiß nicht. Ich bin ja auch noch nicht so lange dabei.«

»Länger als ich.«

Er nickte. »Und inzwischen bist du hier ebenso verwurzelt wie ich.«

»Ist das so? Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich das möchte.«

Rasmus stand auf und ergriff Josies Hände.

»Nun sag schon: Was ist los? Was haben der Wauschkuhn und die Töpfer dir erzählt? Irgendetwas weißt du, was ich nicht weiß. Ich ahne ja auch schon lange, dass hier irgendwo der Hund begraben ist …«

»Der Hund?«, fragte Josie scharf.

»Naja, wie man so sagt. Nun guck doch nicht so, das war doch nur so daher gesagt.«

»Ja, ich weiß. Du hast nichts damit zu tun, du warst …«

»Womit zu tun?«

»Ist dir eigentlich mal aufgefallen, in welchem Jahr der Geschichtsunterricht in der Schule aufgehört hat?«

Rasmus überlegte. »Nicht so genau. Aber ich glaube, mit der Gründung des Deutschen Reiches durch den Kaiser.«

»Genau. Aber das war’s doch nicht, oder?«

»Was?«

»Das Ende der Geschichte.«

Rasmus trat einen Schritt zurück.

»Du kannst einem Angst machen. Was treibst du da dauernd bei Margret? Und Irmi – auch die kommt neuerdings und besucht Ingo. Irgendwas ist hier im Gange …«

Josie strich ihm über die Wange.

»Sieh zu, dass nicht wieder so viel Kohl im Eintopf ist, sonst kriegen am nächsten Tag wieder alle die Pupserei.«

Sie lachten beide, mehr aus Erleichterung darüber, dass ihr Gespräch eine harmlose Wendung gefunden hatte.

»Ich lass dich jetzt in Ruhe«, sagte Josie in dem Augenblick, als Rasmus’ Vater die Küche betrat.

»Ruhe? Es ist sowieso viel zu viel Ruhe in diesem Dorf. Ruhe wie in der Gruft. Ruhe ist nicht das, was wir brauchen«, sagte er.

»Was brauchen wir denn, Herr Volkerts?«, fragte Josie und zog einen der Küchenstühle für ihn heran als sie sah, dass seine Knie zitterten.

Vorsichtig ließ er sich nieder und betrachtete seine Beine. »Auf denen bin ich durch die halbe Wüste marschiert«, sagte er. »Kann man sich nicht mehr vorstellen. Alles mögliche andere auch nicht.«

»Was?«

Er legte eine Hand auf die ausgeblichene Plastiktischdecke und strich mit seinen knöchernen Fingern darüber.

»Was meintest du eben?«, fragte er nach einer langen Weile.

»Was man sich auch nicht mehr vorstellen kann …«

Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. »Weiß nicht mehr, vergessen.«

Josie beobachtete, wie ein Streifen Speichel langsam aus seinem Mundwinkel lief und die Lippen zu zittern begannen. Rasmus nahm ein Tuch und fuhr sanft darüber.

»Liebst du meinen Sohn?«, fragte Herr Volkerts plötzlich und packte mit einer Hand Josies Arm.

»Uh!«, sagte Josie. »Sie haben ja Kraft! Das ahnt man gar nicht …«

Rasmus Vater öffnete die Augen wieder und ein Lächeln machte sich auf seinem eingefallenen Gesicht breit.

»Ja, das tust du«, sagte er, ohne eine Antwort abzuwarten. »Das sehe ich ihm an, jedesmal wenn du bei ihm warst. Und soll ich dir noch etwas sagen?«, flüsterte er.

Josie beugte sich vor und hielt ihr Ohr vor seinen Mund.

»Er liebt dich auch. Ohne dich würde er das alles nicht ertragen.«

»Was?«

Edgar Volkerts vollführte eine weit ausholende Armbewegung. »Alles hier! Seinen Vater, das alte Wüstenwrack. Seine große Schwester, die in einer anderen Welt lebt. Seine drei kleinen Schwestern, die schlimmer gackern als ein Hühnerstall. Und seine Mutter, die jeden Abend auf diesem Stuhl sitzt und weint.«

Sein Atem ging schneller, die Beine begannen zu zucken, seine Hände verkrampften sich.

»Komm!«, sagte Rasmus, »ich bring dich zum Sofa.«

Mühsam half er seinem Vater auf, legte sich seinen Arm um die Schulter und führte ihn in die Stube.

Josie stand noch eine Weile in der Küche und hörte die beiden reden, dann verließ sie leise das Haus und ging zu der kleinen Hütte hinten im Garten. Sie hatte noch etwas mit Margret zu bereden.

Die Schafscherer kamen im Morgengrauen. Auf einem hölzernen Wagen zogen sie ihre Scheren und Taue. Man sah ihnen an, dass sie schon seit Wochen von Ort zu Dorf zogen und ihrem Geschäft nachgingen. Sie waren erschöpft und schlecht gelaunt. Sie verscheuchten die Kinder des Dorfes, die ihnen ein Stück des Weges entgegengelaufen waren, und als sie im Dorf Einzug hielten, verlangten sie als erstes nach Bier.

Man hatte zwischen den Häusern der Grubes und der Volkerts einen großen Tisch aufgebaut, auf dem bereits der Eintopf stand. Doch die Mienen der Männer hellten sich erst auf, als Hertha den Schnaps brachte. Alle Dorfbewohner kamen aus ihren Häusern, auch die Töpfers, die sich allerdings etwas abseits hielten, schließlich hatten sie keine eigenen Schafe. Aber sie wollten sich das Ereignis nicht entgehen lassen – »gelebte Folklore«, sagte Sonja Töpfer zu ihrem Mann. »Sowas findet man sonst nur noch in alten Chroniken!«

Als die Sonne über die Dächer stieg, erhoben sich drei der Männer, um die Schafe von ihrer Koppel zur Scheune zu treiben. Die anderen gönnten sich noch ein Glas und erzählten von den Ereignissen der vergangenen Tage: Das Schaf, das vor Aufregung tot umgefallen war; der Bock, der den Bauern so heftig auf die Hörner nahm, dass der Arzt geholt werden musste; das Kind, das sein Lieblingslamm im Wäscheschrank versteckt hatte, wo es so laut blökte, dass man es doch noch fand.

Als alle Tiere in der Scheune hinter dem Absperrseil bereitstanden, erhoben auch sie sich und gingen gebeugt und breitbeinig zur Scheune, die Dorfbewohner folgten ihnen. »Wo ist Josie?«, sagte Balduin leise zu Hertha. »Eben war sie noch da …«

Es war nicht leise genug. »Ich glaub’, die hat den Ingo geholt«, sagte Irmi.

Hertha blieb wie vom Blitz getroffen stehen und starrte Balduin an. »Nein, nicht das …!«, sagte sie und griff sich ans Herz. Dann eilte sie in die Scheune. Als sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten, sah sie es: In der Mitte unter dem mächtigen schwarzen Dachbalken saß Margret. Genau wie damals. Und neben ihr stand Ingo.

Hertha hatte nur noch einen Gedanken: Raus hier, raus aus der Scheune! Aber dafür war es zu spät. Die anderen Dorfbewohner drängten hinter ihr herein, um dann ebenfalls wie vom Donner gerührt stehen zu bleiben.

Die Scherer begannen mit ihrer Arbeit. Irmi erhielt den verantwortungsvollen Auftrag, das Seil anzuheben, wenn eine Heidschnucke hervorgezerrt werden sollte. Gerd war dazu abkommandiert worden, die frisch geschorenen Tiere einzufangen und auf die Schafwiese zu bringen. Ab und an wurde einer der Erwachsenen aufgefordert, die Wolle einzusammeln und in Säcke zu stopfen. Sie folgten den Anordnungen wortlos und wie in Trance. Die Schafscherer hatten das Sagen, alles hörte auf ihr Kommando.

So muss es damals gewesen sei, dachte Josie, die hinter Margret stand. Willenlos und eingeschüchtert tun sie alles, was von ihnen verlangt wird, wagen kein Wort des Widerspruchs.

Als die Hälfte der Tiere geschoren war, wurde eine kurze Pause eingelegt, die Männer verlangten nach Bier, das sofort gebracht wurde. Alle standen stumm da und wagten nicht, einander anzusehen. Keiner der Dorfbewohner konnte sich vorstellen, wie es weitergehen sollte, wenn das letzte Tier die Scheune verlassen hatte. Wie sollten sie mit Margret verfahren? Sie freudig begrüßen wie jemanden, der lange verreist war? So tun, als wäre nichts gewesen? Sie nicht beachten und zur Tagesordnung übergehen?

Margret nahm ihnen die Entscheidung ab. Kurz bevor die Männer wieder ans Werk gingen erhob sie sich, sah die Dorfbewohner einen nach dem anderen an und verließ langsam die Scheune.

Josie begleitete sie auf dem Rückweg. Auf der Bank am Dorfplatz saß Hans Wauschkuhn und blickte den Dreien entgegen. Als er Ingo sah, sagte er: »Wenn du mal ein Bild malen möchtest – ich hab immer genug Papier. Schönes, großes, weißes Papier. Kannst jederzeit kommen …«

Margret blieb stehen und sah ihn an. »Danke«, sagte sie. Wauschkuhns Miene hellte sich auf. »Willkommen unter den Lebenden«, murmelte er.

Als sie den Garten der Volkerts’ erreichten, sah Josie Margrets Vater in der Küche stehen – so wie am Abend zuvor, als sie zur Hütte gegangen war, wo Ingo sie mit den Worten empfangen hatte: »Sie hat sich hingelegt.«

»Ist sie krank?«

»Weiß nicht. Sie hat ein paarmal geweint.«

Josie hatte die Kammer betreten und sich neben das Bett gesetzt. »Bist du krank?«

Margret schüttelte den Kopf.

»Soll ich dir etwas bringen? Hast du Hunger?«

Margret hatte eine Hand unter der Wolldecke hervor geschoben und Josies Finger umfasst. Und dann sprach sie zum ersten Mal zu ihr. »Bleib noch etwas bei mir«, bat sie.

Das tat Josie. »Hast du Angst?«, fragte sie.

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich weiß, dass du etwas von mir erwartest.«

»Dass du morgen in die Scheune kommst und dich allen zeigst?«

»Ja.«

»Du musst es nicht tun. Keiner erwartet es von dir.«

»Aber du.«

»Nein. Aber ich glaube, dass es höchste Zeit ist, den ersten Schritt zurück ins Leben zu tun.«

»Begleitest du mich?«

Josie hatte genickt und sich dann erhoben. »Ich hole dich morgen ab. Wir stehen das gemeinsam durch!«

Hotel Savoy

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