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»Wieder so ein Milchbubi, der noch nie eine Frau gesehen hat«

Horacio saß derweil in seinem Lieblingssessel am Erkerfenster seiner Privatwohnung im Savoy bei einem Glas Cognac, rauchte eine Zigarre und nahm die Notizzettel entgegen, die ein Page ihm brachte. Zettel, auf denen die Namen der eingetroffenen Besucher vermerkt waren. Normalerweise empfingen er und Agatha ihre Gäste unten in der großen, palmenbestandenen Halle, in deren Mitte eine recht gute Kopie der Venus von Milo in einem Springbrunnen badete. Heute jedoch wollten sie es spannend machen: Erst wenn alle eingetroffen sein würden, kurz vor Beginn des Dinners, würden sie erscheinen. Die Gäste, die einander alle kannten – schließlich gehörten sie ausnahmslos zu den führenden Familien der Stadt – würden sich die Zeit schon kurzweilig vertreiben.

Natürlich wusste Agatha, dass es noch einen anderen Grund gab: Horacio hatte sich einen neuen Frack schneidern lassen – weinrot! Und in dem wollte er mit seiner Gattin am Arm die große Freitreppe herunterschreiten. Dazu sollte das Orchester You’re driving me crazy von Josephine Baker spielen.

Und auch Agatha würde für Gesprächsstoff sorgen: Ihr neues, schulterfreies Abendkleid von Béchoff-David war atemberaubend. Horacio konnte durch die halb geöffnete Tür des Ankleidesalons beobachten, wie die Schneiderin letzte Hand anlegte. Das Kleid war ein Traum! Und Agatha ebenso. Immer, wenn die Schneiderin den Stoff etwas anhob – Agatha stand auf einem kleinen Podest – und ein Stückchen ihrer Beine zu sehen war, wurde Horacio unruhig.

Der Page brachte einen neuen Zettel: Max Schmeling war eingetroffen. Von der Straße brandete Applaus herauf. Horacio spähte aus dem Fenster und sah, wie der Boxer über den roten Teppich schritt. Ja, das Jahr 1930 würde in den Annalen der Stadt Hamburg dick unterstrichen werden, da war er sich sicher.

Endlich hatte die Schneiderin ihr Werk vollendet und verließ den Salon. Horacio erhob sich aus seinem Sessel und blickte gespannt zur Tür des Ankleidezimmers. Er hörte das Rascheln des Kleides, das Klackern von Pumps auf dem Parkettboden. Dann wieder Ruhe. »Agatha?«, sagte er. »Nun zeig dich endlich! Wir müssen bald runter …«

Keine Antwort, nichts zu hören. Auf Zehenspitzen ging Horacio zur Tür auf und lugte in den winzigen Raum.

Auf dem Podest lag das Kleid, ohne Agatha. Die hatte sich auf der Ottomane ausgestreckt, ihr schwarzes Korsett sowie die schwarzen Seidenstrümpfe kontrastierten aufs Herrlichste mit ihrer elfenbeinfarbenen Haut. Sie lag auf der Seite, ein Bein angewinkelt, den Kopf auf die Hand gestützt und sah ihn an. Horacio gingen die Augen über.

»Weiß du noch vor 40 Jahren?«, fragte Agatha. »Heute vor 40 Jahren wurdest du zwanzig und hast mich heimlich in der Garderobe beobachtet, so wie jetzt …«

Ja, natürlich wusste er das! Wie könnte er das je vergessen – Agatha in der Künstlergarderobe der Kakadu Bar in der Hafenstraße. Und er: Gerade abgemustert von einem schrottreifen Bananenfrachter zum ersten Landgang auf St. Pauli; hatte nur etwas essen und trinken wollen, dann ein Quartier für die Nacht suchen und am nächsten Morgen eine neue Heuer finden – das war der Plan gewesen. Als Horacio dann den schummrigen Gang von der kleinen Bühne nach hinten ging, wo die Tänzerinnen sich umzogen, kam alles ganz anders: Er sah diese junge Frau in der Garderobe auf einer Ottomane liegen, kaum bekleidet, eine Zigarettenspitze an den Lippen. »Ich habe dich erwartet«, sagte sie, so wie sie es immer tat, wenn ein Kunde kam, und dabei gedacht: Wieder so ein Milchbubi, der noch nie eine Frau gesehen hat. Als er vor ihr kniete und eine Hand auf ihre Hüfte legte, lächelte sie routiniert. Sie ahnte noch nicht, dass dieser Milchbubi der Mann ihres Lebens werden würde.

»Ich habe dich nicht beobachtet!«, versuchte Horacio sich jetzt zu rechtfertigen. »Ich – ich wollte nur …« Aber das war gar nicht nötig. Agatha war wieder das junge Mädchen, ihr Blick, ihr Lächeln, die Art, wie sie den Kopf leicht in den Nacken fallen ließ – die Jahre hatten nichts verändert. »Alles Liebe zum Geburtstag!«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, dass du zu mir kommst, bevor wir nach unten müssen.«

Das Kleid saß dann nicht ganz so perfekt, wie die Schneiderin es sich vorgestellt hatte, aber das Erscheinen der beiden auf der Freitreppe löste trotzdem vielfaches »Ahh« und »Ohh« aus. Horacios roter Frack war eine Sensation, Agathas Kleid hinreißend. Als das Paar seine Gäste begrüßte, jeden einzeln mit Handschlag, Handkuss und herzlichen Worten, gab es nur strahlende Gesichter. Das Warten hatte sich gelohnt.

Dann wurden die Türen zum festlich geschmückten Speisesalon geöffnet. Adolf, der mit seiner jungen Gemahlin Thea hinter dem Jubilar schritt, flüsterte seinem Vater zu: »Thea und ich müssen euch nachher etwas mitteilen. Erinnerst du mich bitte daran?«

Horacio, der Geheimnistuerei nicht mochte, zischelte über die Schulter zurück: »Wenn’s wichtig ist, dann sag’ es gleich!« Aber Adolf lächelte nur vielsagend.

Das Essen war so hanseatisch, wie es nur sein konnte. Aber die beiden Pariser Küchenchefs, die das Savoy beschäftigte und sein Restaurant über Hamburgs Grenzen hinaus bekannt gemacht hatten, schafften es, daraus eine Kreation zu machen.

Zwischen Matjes und Fischpfanne erhob sich der Bürgermeister und hielt eine begeisterte Rede auf den großen Mäzen Hamburgs, versäumte es dabei nicht, seiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass er der Stadt noch lange erhalten bleiben möge. Eine halbe Stunde später, zwischen Fischpfanne und Labskaus, hob der Leiter des Hamburger Kunstvereins zu seiner Laudatio an, die von den zahlreich anwesenden Malern, Dichtern und Musikern immer wieder mit frenetischem Applaus begleitet wurde. Zwischen Labskaus und Roter Grütze war es dann Adolf, der um Ruhe bat. »Ich gestehe, es ist mir schwer gefallen ist, ein passendes und sinnvolles Geschenk für meinen Vater zu finden«, sagte er. »Letztlich war es meine Gattin, die entscheidend dabei geholfen hat, sodass ich euch, meine lieben Eltern, nun mitteilen kann, dass nach Ablauf der dafür erforderlichen natürlichen Zeitspanne der Fortbestand unserer Familie auch über meine Generation hinaus als gesichert angesehen werden kann. Man könnte sagen …«

Ein Aufschrei unterbrach Adolfs Ansprache – Agatha erhob sich von ihrem Stuhl, fiel erst ihrem Sohn, dann ihrer Schwiegertochter um den Hals. Dann drückte sie Horacio an ihren Busen und rief immer wieder: »Nun sag doch was, nun sag doch was …!«

Das tat Horacio wohl auch, aber seine Worte gingen im Jubel der Anwesenden unter. Als er spürte, dass er die Tränen der Freude nicht länger würde zurückhalten können, entschuldigte er sich und ging eiligen Schrittes Richtung Ausgang, um eine Minute allein zu sein.

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