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»Da kommt der liebe Gott und radelt zur Schule«

Als kurz darauf Hertha aus dem Waschhaus kam und rief: »Wo ist der alte Spinner?«, trat Josie ihr aus der Stube entgegen und flüsterte: »Er schläft. Und er möchte nicht mehr unsichtbar sein …«

Balduin schlief bis um halb zwei. Als Josie gerade den Mittagstisch in der Küche gedeckt hatte, kam er herein und rieb sich die Augen. Halb zwei – in wenigen Minuten würden Manfred und Gerd aus der Schule kommen, dann musste das Essen auf dem Tisch stehen. Tante Hertha stand am Herd und rührte in dem gewaltigen Topf, Balduin stutzte und rümpfte die Nase: »Es riecht nach Hammel«, sagte er, »könnte es sein, dass es zur Abwechslung mal Hammeleintopf gibt?«

Hertha griff zur Scheuerbürste und schleuderte sie in seine Richtung. »Du musst ja nichts essen, kannst dich gern von deinen Zigaretten ernähren«, zischte sie, »sehr gesund, rein pflanzlich und ganz natürlich …«

Erstaunlich flink duckte Balduin sich unter der Bürste weg und murmelte: »Ich mein’ ja nur …«

»Was meinst du?!«

»Ich mein’: Gibt es woanders auch jeden Tag Hammel oder essen andere Leute auch mal was anderes?«

»Kannst sie ja mal fragen, wir haben genug Nachbarn hier.«

Manfred und Gerd stapften herein und schleuderten ihre Schulranzen in die Ecke. »Hör mir auf mit den Nachbarn!«, sagte Manfred und ließ sich auf seinen Platz fallen. »Der alte Volkerts schreit schon wieder, und bei den Töpfers jodelt so eine Opern-Walküre aus dem offenen Fenster heraus. Können wir die nicht mal allesamt zum Mond schicken?«

Großmutter Amanda kam herein, auf ihren Gehstock gestützt, wie immer ganz in Schwarz gekleidet, eine kleine weiße Haube auf dem Kopf.

Josie hatte sie mal gefragt, woher die Kopfbedeckung stamme, und Amanda erzählte ihr, dass sie als junge Frau im Heidehof als Zimmermädchen gearbeitet hatte. Das sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen – »frei von den Eltern und noch nicht in den Fängen von Mann und Kindern.« Und jetzt, hatte Josie wissen wollen, in wessen Fängen sei sie jetzt? »In den Fängen meines alten Körpers. Wenn ich doch noch einmal Zimmermädchen sein könnte, jung, gesund und unwissend – nur für einen Tag!« Josie verstand, warum Amanda an ihrem Häubchen hing.

Das Essen verlief schweigend, Hertha bestand auf Ruhe während der Mahlzeiten. Beim Sprechen käme zu viel Luft in die Speiseröhre und abends hätten dann alle Blähungen. Das sei auch Renatus’ Meinung gewesen und es sei ja wohl eine Frage des Anstands, seine Meinung in Ehren zu halten. Doch irgendjemand fand sich immer, der sich nicht daran hielt. Mal war es Balduin, der von den Blähungen des Führers zu erzählen begann und dafür des Raumes verwiesen wurde, mal war es Hertha selbst, die nicht umhin konnte, ihren Zorn über Doris Volkerts rauszulassen, die entgegen der Absprache der Dorfbewohner ihre Wäsche vor dem Haus aufgehängt hatte statt hinten auf dem Trockenplatz neben dem Waschhaus.

Heute war es Irmi, die unvermittelt in die Runde fragte: »Wie lange bleibt Josie eigentlich noch bei uns? Der Krieg ist doch schon längst vorbei.«

Zwei der Anwesenden – Gerd und Amanda – fiel der Löffel aus der Hand, Balduin würgte ein Stück Fleisch wieder hervor und ließ es in die Suppe zurückfallen. Und Hertha lief puterrot an. Josie, die sich diese Frage selbst schon seit längerem stellte, lehnte sich zurück und beobachtete, was nun kommen würde. Zu ihrer Verwunderung rang Hertha ihren heraufziehenden Wutausbruch nieder, legte behutsam ihr Besteck zur Seite und sah ihre Tochter an. »Wie kommst du auf diese Frage, Irmi?«, sagte sie. »Hast du was gegen Josie?«

»Nein«, antwortete Irmi unbefangen, »ich freue mich ja, dass sie da ist!«

Das traf zu. Irmi, die während Renatus’ letztem Fronturlaub gezeugt worden war, himmelte Josie an seit sie wusste, dass sie »aus der Stadt« kam, wenngleich sie keine Vorstellung davon hatte, was das bedeuten könnte. Sie suchte ihre Nähe, stellte ihr Fragen. Erst kürzlich wollte sie wissen, ob es stimme, dass Männer toller seien als Frauen, weil Gott ja auch ein Mann sei und Jesus und der Papst auch und der Heilige Geist sowieso. Auf Josies Gegenfrage, wie sie darauf käme, hatte sie geantwortet, dass Manfred ihr dies erklärt habe. Und er hätte hinzugefügt, dass sie ihm deshalb stets gehorchen müsse.

Josie hatte einen Lachanfall bekommen, der so ansteckend auf Irmi wirkte, dass sie sich ins Gras fallen ließ und den Bauch hielt vor Lachen. Als in diesem Augenblick Manfred aus dem Haus trat und zu seinem Fahrrad ging, gluckste Irmi: »Da kommt der liebe Gott und radelt zur Schule …!«

»Stört es dich, dass sie das größte Zimmer von euch hat?«, fragte Hertha jetzt.

»Nein!«, erwiderte Irmi entschieden. »Sie ist ja die Älteste von uns.«

»Warum fragst du dann?«

»Manfred hat gesagt, ich soll das fragen.«

Die folgenden Stunden waren für Manfred nicht schön. Zuerst schickte Hertha ihn umgehend aufs Zimmer, das er sich mit Gerd teilte. Nachdem sie dann schweigend und wütend das Geschirr abgewaschen hatte, ging sie schweren Tritts die Treppe hoch. Danach folgte aus Manfreds Zimmer minutenlanges Klatschen und Jammern. Gesprochen wurde kein Wort, bis Hertha den Raum wieder verließ und rief: »Für den Rest der Woche kriegst du jeden Tag eine Abreibung, Freundchen!«

»Oh!«, flüsterte Gerd mit eingezogenem Kopf zu Josie, »das klingt schlimm!« Und da hatte er recht: »Freundchen« war in Herthas Wortschatz so etwas wie »totaler Krieg«.

Und dann geschah etwas Unerwartetes: Später am Abend rief Hertha Josie zu sich in ihre Nähkammer, wo sie für gewöhnlich nicht gestört werden durfte.

Sie saß auf ihrem Drehstuhl und bat Josie, auf dem kleinen Sofa Platz zu nehmen.

»Ich entschuldige mich bei dir für den Vorfall heute Mittag«, begann sie das Gespräch. »Ich weiß nicht, wann ich zuletzt mal jemanden um Entschuldigung gebeten habe, das muss lange her sein. Aber diesmal muss es sein …«

»Nein«, erwiderte Josie, »wofür denn? Die Frage war doch berechtigt!«

»Das spielt keine Rolle. Aber so etwas fragt man nicht. Wir sind eine Familie, und wenn dem einen etwas Schlimmes zustößt, dann sind die anderen für ihn da. Das verstehe ich unter Familie.«

»Was willst du damit sagen? Was ist meinem Vater zugestoßen? Was weißt du …?« Josie spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Sie hatte in all den Jahren nie ein Wort mit jemandem darüber gewechselt, hatte nicht gewagt, danach zu fragen aus Furcht vor einer Nachricht, die sie in Wahrheit nicht hören wollte.

Hertha legte einen Finger auf die Lippen. »Pscht …!«, sagte sie, »reg dich nicht auf. Das ist nur so eine Formulierung. Ich habe seit dem Tag deiner Ankunft nichts von ihm gehört. Und die wenigen Menschen, die ich in Hamburg kenne, wissen auch nichts. Das ist die Wahrheit.«

»Was heißt das? Ist er nicht mehr in der Stadt? Ist das der Grund dafür, warum er sich nicht meldet?«

Josie begann zu weinen. Sie ließ den Kopf sinken und die Hände in den Schoß fallen. »Josie, er war mein Cousin …«, sagte Hertha eindringlich, als könnte Josie das irgendwie beruhigen.

»Wieso war?«, fuhr Josie auf.

»Ich meine: ist. Er ist mein Cousin – nur mein Cousin, mehr nicht. Wir hatten nie ein enges Verhältnis, wir lebten an verschiedenen Orten ganz verschiedene Leben. Im Grunde genommen wusste ich nur, dass es ihn gibt, ihn und sein berühmtes Hotel. Und dass es dich gibt. Wenn er jetzt hier ins Dorf käme, würde ich ihn vermutlich gar nicht erkennen.«

Josie sah ihre Tante erstaunt an. So hatte sie noch nie mit ihr gesprochen, überhaupt hatte sie Hertha noch nie so viel auf einmal sagen hören. Sie war eine tatkräftige Frau, die mit wenigen Worten klarzumachen pflegte, was sie wollte. Und wer sie nicht verstand, der hatte ein Problem.

»Er hätte doch schon längst ein Lebenszeichen geben müssen …«, sagte Josie zaghaft.

»Ja, Kindchen, hätte er vielleicht. Aber das heißt nicht, dass er nicht mehr lebt. Viele Menschen sind in den Jahren nach Kriegsende wer weiß wohin versprengt worden und viele sind ebenso unerwartet wieder aufgetaucht. Er wird sich melden, da bin ich sicher.«

Josie sah ihre Tante an. »Nein«, sagte sie, »bist du nicht. Wie könntest du auch? Wie kann man so etwas ganz sicher wissen?«

»Dass du zu uns gehörst, das weiß ich ganz sicher. Und zwar so lange wie du möchtest. Du wirst sicherlich schon Zukunftspläne machen. Und wenn du soweit bist, wirst du sie mir mitteilen. Lass dir Zeit, Kindchen. Lass uns froh sein, dass wir alles halbwegs überstanden haben, andere hat es schlimmer getroffen.«

Haben wir es überstanden?, dachte Josie. Habe ich es überstanden? Hat mein Vater es überstanden? Hat Renatus es überstanden? Hat Rasmus’ Vater es überstanden? Hat Balduin es überstanden? Hat Hans Wauschkuhn es überstanden?

Der Gedanke an den Maler ließ sie zusammenzucken – sie war für den Abend noch mit Rasmus in der Werkstatt des Malers verabredet. Dies war der sicherste Platz im Dorf, um sich unbemerkt zu treffen – Wauschkuhn kümmerte sich nicht um sie, er war ausschließlich mit seinen Bildern und Skulpturen beschäftigt. Rasmus und sie gehörten zu den wenigen, die er in seiner Umgebung duldete. Ob sie in seiner Werkstatt waren oder nicht, schien ihn nicht weiter zu interessieren. Und selbst wenn eine Gruppe Kunststudenten eintraf, beachtete er seine Gäste kaum. Es war dann meist Sonja Töpfer, die Klavierlehrerin, die als Gastgeberin einsprang und die Besucher herumführte.

»Einer muss das ja machen«, hatte sie einmal gesagt. »Außerdem ist er wirklich ein ganz Großer, da ist es mir eine Ehre, seine Gäste begrüßen zu dürfen.«

Weshalb Wauschkuhn einer der ganz Großen sein sollte, hatte niemand im Dorf so richtig verstanden, auch Josie und Rasmus nicht, wenngleich ihnen beim Betrachten seiner Werke dämmerte, dass sie ziemlich besonders waren. Zumindest sah nichts auf den Bildern so aus wie das, was es sein sollte.

»Ich weiß alles zu schätzen, was ihr hier für mich getan habt«, antwortete Josie ihrer Tante. »Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, und ich werde dir für immer dankbar sein. Ihr alle habt Opfer gebracht, damit ich hier mit euch leben kann. Auch Manfred – sei nicht streng mit ihm …«

»Er ist verknallt in dich. Aber er benimmt sich so, dass man das Gegenteil annehmen muss. Er ist da wie sein Vater, der ist auch so ein verquerer Mensch, deshalb bringt Manfred mich manchmal so auf die Palme. Ich weiß natürlich, dass du seine Gefühle nicht erwiderst, und ich weiß auch, in wen du verliebt bist. Das ist schon in Ordnung, Kindchen. Pass nur immer gut auf dich auf …«

Hotel Savoy

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