Читать книгу Hotel Savoy - Karsten Flohr - Страница 13

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»Du denkst, sie sucht nur nach dir …«

Sie war es gewohnt, angestarrt zu werden, hatte es selbst so gewollt und jahrelang daraufhin gearbeitet, indem sie unermüdlich übte, sich perfekt zu inszenieren. Sie empfand die Blicke der Männer wie Samthandschuhe, die liebkosend über ihre Haut glitten. Blicke bedeuteten ihr ebenso viel wie tatsächliche Berührungen.

An diesem herrlichen Maitag des Jahres 1930 empfand Josephine Baker die Blicke der Menschen jedoch eher als lästig, selbst die der Männer. Sie war erschöpft und übermüdet nach einer Nacht im Schlafwagen. Ihre Laune an diesem Morgen war so schlecht wie ihr Atem. Inmitten ihrer wunderschönen Schweinslederkoffer stand sie auf Bahnsteig 12 des Hamburger Hauptbahnhofs, gewandet in einen knöchellangen, weißen Pelzmantel und versuchte, unter dem Rand ihres wagenradgroßen Hutes hervorzublicken, um zu sehen, ob Adolf Lembach endlich auftauchte. Es war nicht seine Schuld, dass sie warten musste, das war ihr klar. Der Zug D-46362 Paris-Hamburg war eine Stunde zu früh eingetroffen. Und nun stand sie im Gedränge auf dem Bahnsteig und versuchte, die neugierigen Blicke der Menschen von sich abprallen zu lassen.

Fünf Minuten später hastete Adolf Lembach die breite Treppe des riesigen Bahnhofs hinunter, immer drei Stufen auf einmal nehmend, und kämpfte sich zu ihr durch. »Madame!«, rief er schon von weitem, »halten Sie durch! Gleich ist es überstanden …«

Und dann stand er vor ihr, ergriff ihre Hand und führte seine Lippen an den weichen Lederhandschuh. »Wann erlebt man so etwas schon mal?«, sagte er. »Nie kommt ein Zug pünktlich, aber ausgerechnet heute, wenn Sie darin sitzen, muss es passieren! Dennoch: Herzlich willkommen in Hamburg! Und tausend Dank, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind.«

Sie winkte ab, als sei ihre Stippvisite von der Seine an die Elbe eine Selbstverständlichkeit. »Für Horacio tue ich alles!«, sagte sie und lachte etwas zu laut.

Adolf winkte einen Kofferträger herbei, deutete auf das Gepäck und sagte knapp: »Zum Savoy!« Dann bot er der Diva seinen Arm, und im Gleichschritt machten sie sich auf den kurzen Weg zum Hotel, das unmittelbar gegenüber dem Hauptbahnhof lag.

»Wie geht es Horacio?«, fragte Josephine Baker, als sie ins Freie traten. »Weiß Ihr Vater wirklich nicht, dass ich zu seinem Geburtstag komme?« Dann stutzte sie und deutete auf die Menschenmenge, die sich hinter einem Absperrseil vor dem Eingang des Savoy drängte. »Was ist das?«, fragte sie entsetzt.

»Keine Sorge«, erwiderte Adolf, »niemand weiß, dass Sie der Überraschungsgast sein werden, Madame! Wir werden das Hotel durch den Hintereingang betreten und von dort direkt zu Ihrer Suite gelangen. Es ist alles vorbereitet. Der Aufruhr da vorn gilt den Comedian Harmonists, die gleich vorfahren werden.«

Der 60. Geburtstag von Horacio Lembach, der Mann, der aus einem heruntergekommenen Auswandererquartier das erste Hotel der Stadt gemacht hatte, war seit Tagen Thema des Hamburger Lokalanzeigers. Dass der halbe Senat samt Gattinnen kommen würde, war schon beinahe alltäglich, denn die Feste im Hotel Savoy waren die Höhepunkte der Hamburger Ballsaison, und wenn Horacio Lembach als großzügiger Kulturförderer und Gönner der schönen Künste in sein Haus einlud, war das ein Muss für Hamburgs Society. Die illustren Namen jedoch, die heute auf der Gästeliste standen, übertrafen das Übliche bei Weitem: Nach dem festlichen Dinner für 150 Gäste würde es zu Horacios Ehren im großen Ballsaal Auftritte der Comedian Harmonists, Claire Waldorf sowie dem aufstrebenden Filmstar Marlene Dietrich geben. Außerdem wusste die Zeitung zu berichten, dass der Pianist Peter Igelhoff erwartet würde, um die Diseuse Peggy Stone bei einem Potpourri der großen Operetten-Melodien zu begleiten.

Die Sache mit Josephine Baker war Adolfs Idee gewesen. Seit sein Vater vor einigen Jahren von einem Parisbesuch wie hypnotisiert zurückgekehrt war und monatelang nur noch die Musik der schwarzen Sängerin auf seinem Grammophon hörte – Duke Ellington und Jelly Roll Morton verstaubten derweil im Plattenschrank –, war Adolfs Plan gereift, ihn zu seinem 60. Geburtstag mit einem Besuch der »Schwarzen Gazelle« zu überraschen. Es würde zwar eine Stange Geld kosten, aber das war es ihm wert.

Dass sie weit mehr war als eine Sängerin, hatte Horacio nur dezent angedeutet, und das auch nur, wenn Agatha außer Hörweite war. Normalerweise hatte er keinerlei Geheimnisse vor seiner Frau, aber in diesem Fall war irgendetwas anders, so schien es Adolf. »Du müsstest sie auf der Bühne sehen!«, schwärmte Horacio seinem Sohn vor. »Wie diese Frau sich bewegt, wie sie ihren Blick durch den Saal gleiten lässt – du denkst, sie sucht nur nach dir! Und wenn sie singt, hast du dasselbe Gefühl: Sie singt nur für dich! Sie ist – ich weiß nicht, du müsstest sie selbst erleben …«

Das tat Adolf ja nun. Seit wenigen Minuten zwar erst, aber ihre intensive Ausstrahlung spürte er bereits als Kribbeln in der Magengrube. Das Timbre ihrer Stimme, diese putzige Mischung aus englisch und französisch, in der sie mit ihm sprach – Adolf beherrschte beide Sprachen –, war allein schon zum Verlieben.

Horacio war es seinerzeit nicht anders ergangen. Eine Geschäftsreise nach Paris – einige Treffen mit einem gefragten Architekten, der Umbauten am Savoy vornehmen sollte – war in einem Gefühlschaos geendet, dem Horacio geglaubt hatte, längst entwachsen zu sein.

Denn der Architekt hatte ihn nach zwei anstrengenden Arbeitstagen ins Theatre des Champs Elysées eingeladen, um die berüchtigte »Bananen-Tänzerin« zu sehen, die gerade aus Amerika eingetroffen war und die Pariser Bohème Kopf stehen ließ. Der Bananentanz, bei dem sie nur mit einem Röckchen aus Bananen bekleidet über die Bühne steppte, ließ Horacio jedoch ziemlich kalt, der frenetische Jubel und die vulgären Anfeu­erungsrufe der Männer an den Tischen vor der kleinen Bühne stießen ihn ab.

Und als sie bei den letzten Takten ihres »Urwaldtanzes« auch noch das Bananenröckchen fallen ließ, bevor sie in den Kulissen verschwand, war er drauf und dran, das Lokal zu verlassen.

Aber was dann folgte, ließ ihn Zeit und Raum vergessen: Nachdem Josephine Baker die Erwartungen der johlenden Menge erfüllt hatte, sang und tanzte sie so herzergreifend, so gefühlsinnig und dann wieder voller überbordendem Temperament und rhythmischer Ekstase, dass Horacio in der Pause einen Kellner kommen ließ und Eintrittskarten für die vier folgenden Abende orderte.

Nach dem letzten dieser Abende nahm er sein Herz in beide Hände und stellte sich hinter der Bühne in die Warteschlange der Verehrer, die vor der Garderobe ausharrten, um einen Blick auf den Star zu erhaschen. Und Josephine Baker enttäuschte keinen: Sie schüttelte sämtliche Hände, schrieb Autogramme auf Servietten, Speisekarten und Billets, plauderte und lachte, als wäre jeder der Wildfremden ihr bester Freund.

Horacio hatte sich ganz hinten eingereiht in der stillen Hoffnung, vielleicht doch nicht mehr vorgelassen zu werden, denn er befürchtete, keinen Ton herauszukriegen. Er, der sonst nie um eine Pointe verlegen und daran gewöhnt war, stets das letzte Wort zu haben, stand dann plötzlich allein vor der pechschwarzen Frau, die einen Kopf größer war als er, und wusste nicht, was er sagen sollte. Der Federschmuck, den sie im Haar trug, ließ sie noch größer erscheinen. Sie spürte sofort, dass dieser Mann anders war als die übrigen.

Sie musterte ihn eine Weile schweigend aus Augen, deren Make-up vom Schweiß verlaufen war. Unbeholfen stand er in seinem Frack vor ihr, die Hände hinter dem Rücken, eine Nelke im Knopfloch, und vergaß nicht nur das Atmen, sondern auch seinen beachtlichen Bauch einzuziehen, was er sich eigentlich fest vorgenommen hatte.

Nach einer schieren Unendlichkeit fuhr er mit der Hand durch sein schütteres Haar und räusperte sich. Es war dann aber sie, die sprach: Sie habe großen Hunger und noch viel mehr Durst, die Tanzerei sei wirklich schweißtreibend, und ob er sie in ihr Stammlokal am Place Pigalle begleiten würde, wo es auch zu später Stunde noch gutes und preiswertes Essen gäbe.

Horacio wollte erwidern, dass er sie liebend gern auch hier am Champs Elysée zum Dinner einladen würde, Geld spiele keine Rolle. Aber er nickte nur. Die Tür zur Künstlergarderobe schloss sich wieder. Horacio stand unbeweglich da, bis Josephine Baker in einem Herrentrenchcoat herauskam, sich bei ihm unterhakte und fragte: »Wie heißt du?«

Horacio hatte Adolf diese Geschichte viele Male erzählt. Aber nie weiter als bis zu diesem Moment. Was anschließend geschah und warum sein Vater dieser Frau jahrelang Briefe geschrieben hatte, erfuhr er nie. »Ich will doch nur wissen, was ihr gegessen habt!«, insistierte Adolf. »Und ob du sie danach noch einmal gesehen hast …«

Horacio hatte sich vorgebeugt und verschwörerisch geraunt: »Sie ist etwas so Besonderes – darüber kann man nicht sprechen. Dafür reicht mein Wortschatz nicht. Ich bin nun mal kein Poet.«

Adolf war sich keineswegs sicher, dass sie den kurzen Weg vom Bahnhof bis zum Savoy tatsächlich unbemerkt schaffen würden. Doch der Gepäckträger leistete ungewollt Hilfe: Als er einen Karren mit den aufgetürmten Koffern durch die Menge hindurch zu dem roten Teppich schob, der vor dem Hotel ausgelegt war, gehörte aller Aufmerksamkeit ihm, und Adolf konnte mit seinen Gast unbemerkt den Lieferanteneingang betreten.

Hotel Savoy

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