Читать книгу Hotel Savoy - Karsten Flohr - Страница 8

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»Sie nennen mich Iwan, wenn sie denken, dass ich es nicht höre«

Wäre am nächsten Tag ein Fremder ins Dorf gekommen, ihm wäre wohl nichts Besonderes aufgefallen. Er hätte sich vielleicht über die blökenden Heidschnucken gewundert und über die frühe Blütenpracht in den Vorgärten der drei Häuser. Dass die wenigen Menschen, die draußen waren, nicht miteinander sprachen und auch den Blickkontakt vermieden, hätte er wohl der bekannten stoischen Ruhe der Heidebewohner zugeschrieben. Für die Menschen in Hemelinghausen jedoch war nichts mehr so, wie es noch am Vortag gewesen war. Seit Josies Besuch bei Margret schwebte etwas über dem Dorf und seinen Menschen – ein Gestank wie das schwelende Holz eines abgebrannten Bauernhauses im Regen.

Hertha stand beim Frühstück mit dem Rücken zu den Übrigen am Küchenschrank und räumte Tassen und Teller hin und her, die seit Jahren ihren festen Platz hatten und normalerweise nicht verrückt werden durften. Balduin rauchte schon vor der ersten Tasse Kaffee eine Zigarette und teilte mit, dass Großmutter Amanda im Bett bleiben würde, da heute ihre Beine wieder stärker schmerzten. Hertha nahm das kommentarlos zur Kenntnis und rief nur kurz und scharf nach den Jungen, die daraufhin sofort aus ihrer Kammer in die Küche gestürzt kamen. Man sah ihren Mienen Ratlosigkeit an, sie spürten, dass irgendetwas vorgefallen sein musste, wagten aber nicht zu fragen. Zu bedrohlich wirkte der gespannte Rücken ihrer Mutter, die immer noch mit Geschirr hantierte. Erleichtert sprangen sie auf, griffen ihre Schulranzen und liefen aus dem Haus, als Hertha sagte: »Zeit ist!«

Balduin nutzte die Gelegenheit, ebenfalls die Küche zu verlassen und verschwand in die Stube.

Als sie nur noch zu zweit in der Küche waren, drehte sich Hertha um und sah Josie an, die ihren Blick jedoch nicht erwiderte, sondern wie in Trance in ihre Kaffeetasse starrte. Hertha setzte sich Josie gegenüber und streckte eine Hand aus. Als ihre Finger kurz davor waren, Josies Arm zu berühren, zog diese ihn weg und legte ihn unter dem Tisch auf ihre Beine. Hertha seufzte, eine Furche bildete sich über ihrer Nase, sie schloss die Augen.

Minutenlang saßen sie sich schweigend gegenüber, bis Josie fragte: »Es war wenige Tage, bevor ich hierherkam, nicht wahr?«

Hertha nickte kaum merklich.

»Wo ist dieser Schenk jetzt?«

Hertha erhob sich und machte sich erneut geräuschvoll am Küchenschrank zu schaffen.

»Wo ist er?«, wiederholte Josie.

»Erst war er weg. Ist irgendwo entnazifiziert worden. Dann kam er wieder. Du müsstest ihn schon mal gesehen haben, er kandidiert jetzt für das Landratsamt.«

»Der Dicke auf den Plakaten vor der Schule?«

»Der Dicke, ja.«

»Und – war er noch einmal hier? In Hemelinghausen?«

Hertha ließ die Arme sinken. »Einmal«, antwortete sie.

»Warum?«

»War bei den Volkerts’.«

»Und?«

»Weiß ich nicht. Angeblich wollte er zu Margret. Aber sie haben ihn nicht zu ihr gelassen.«

Josie schlug die Hände vors Gesicht.

Sie blieb mehrere Tage lang in ihrem Zimmer. Sie hörte, wie der Arzt kam, um nach Amandas Beinen zu sehen; sie hörte, wie die Klavierlehrerin kam und mit ihrer Tante sprach; sie hörte Manfred und Gerd in ihrer Kammer flüstern; sie hörte Rasmus vor dem Haus ihren Namen rufen.

Am vierten Tag kam sie am frühen Abend aus ihrem Zimmer. Sie wollte eben das Haus verlassen, als Irmi im Flur auftauchte und sie mit großen Augen ansah.

»Gehst du zu der, die nicht spricht?«

»Ja. Und zu ihrem Sohn.«

»Nimmst du mich mit? Ich habe ihn noch nie gesehen.«

»Ein anderes Mal. Er ist sehr scheu.«

»Warte!«, sagte Irmi und lief in ihr Zimmer. Kurz darauf kam sie zurück und hielt ein kleines, gelbes Plüschpferd in der Hand. »Gib ihm das! Vielleicht freut er sich, wenn du ihm was mitbringst.«

Josie ließ das Pferd in die Tasche ihres Kleides gleiten. Dann trat sie ins Freie.

Sie spürte die Blicke der Menschen hinter den Gardinen, die beobachteten, wie sie über den Dorfplatz ging. Als sie den Vorgarten der Volkerts’ erreichte, trat Rasmus plötzlich aus dem Schatten der Steinmauer und versperrte ihr den Weg. »Warte!«, sagte er. »Was war da bei Wauschkuhn? Was haben die mit dir gemacht? Warum warst du bei Margret? Warum versteckst du dich tagelang in deinem Zimmer?«

Josie lehnte sich gegen ihn. »Hast du nie mit deiner Schwester gesprochen?«

»Du weißt doch, sie spricht nicht.«

»Du kennst nicht den Grund?«

»Nein. Kennst du den Grund? Warum spricht sie nicht?«

»Das musst du sie selber fragen«, sagte Josie und ließ ihre Finger durch Rasmus’ Haar gleiten. »Auf jeden Fall wird sie nicht sprechen, wenn man nicht mit ihr spricht. Ich meine: über die Wahrheit …«

»Aber meine Eltern haben es unzählige Male versucht. Immer und immer wieder!«

Josie nickte. »Geredet vielleicht. Ermahnt, beschworen, angefleht. Aber haben sie wirklich mit ihr gesprochen?«

Rasmus sah sie verständnislos an. »Was meinst du? Weißt du irgendetwas, wovon ich nichts weiß?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Und warum sagst du es mir nicht?«

Josie überlegte.

»Das kann ich nicht, das darf nur Margret. Ich möchte jetzt zu ihr.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, gab Rasmus einen Kuss und schlüpfte dann an ihm vorbei.

Rasmus sah ihr nach. »Sag ihr, sie soll mit mir reden … bitte!«

Von nebenan aus einem geöffneten Fenster des Hauses der Töpfers wehte leise die Moonlight Serenade herüber, während Josie durch den Garten nach hinten zur Hütte ging. Glenn Miller – heute war also Magnus Töpfer dran mit dem Plattenauflegen, dachte sie. Gern wäre sie hineingegangen, um weiter mit Sonja Töpfer zu sprechen, um mehr zu erfahren über diese seltsame Zeit, die tief in der Vergangenheit vergraben schien und doch noch so beängstigend greifbar war. Josie hatte die Bomben gehört, hatte das Feuer gesehen, die Toten auf den Straßen, Kinder, die umherirrten, Verstümmelte, die aus zusammenstürzenden Häusern krochen. Aber das war Hamburg. Obgleich noch alle Häuser standen, hatte auch Hemelinghausen offenbar Schreckliches erlebt. Und sie leben weiter, als wäre nichts gewesen, dachte Josie. Sie hatten zugesehen, sie wussten alles. Und sagten nichts.

Josie erreichte die Hütte. Diesmal flackerte drinnen ein Licht, Margret hatte eine Petroleumlampe angezündet. Ingo trat vor die Tür, dünn, blond mit akkurat gescheiteltem Haar und einer zerrissenen Hose, die genauso aussah wie man sie bei einem Jungen in einem Schäferdorf erwarten würde. Er hatte nichts Bekümmertes an sich, als er Josie neugierig ansah und sagte: »Mama wartet auf dich.«

»Hat sie das gesagt?«

»Nein.«

Josie griff in ihre Rocktasche und nahm das gelbe Pferd he­raus. »Das soll ich dir von Irmi geben. Es ist ihr Lieblingsspielzeug, sie möchte, dass du ab jetzt damit spielst.«

»Wie heißt es?«

Josie zuckte die Achseln. »Du kannst es nennen wie du möchtest.«

»Aber es muss doch einen Namen haben.«

»Ich habe vergessen, Irmi danach zu fragen. Soll ich das tun?«

»Ja.«

»Aber jetzt möchte ich erstmal reinkommen. Darf ich?«

Ingo streckte ihr seine Hand entgegen und führte sie durch den kurzen schmalen Flur zu dem einzigen Raum der Hütte, wo seine Mutter auf dem zerschlissenen Sessel saß. Sie trug jetzt eine Arbeitshose und ein weißes Herrenhemd mit aufgekrempelten Ärmeln, das mit Schweiß und Sand bedeckt war. Ihre Füße waren nackt.

»Wir haben im Garten gearbeitet«, sagte Ingo, »Kartoffeln gesetzt.«

Josie sah sich um. Es gab nur diesen einen Sessel im Zimmer, außerdem einen kleinen Tisch mit zwei Hockern, sowie an der Wand ein Bett, in dem offenbar beide schliefen. Sie setzte sich auf den Boden und sah den Jungen an. »Ingo«, sagte sie, »ein schöner Name. Du bist der erste Ingo, den ich kennenlerne.«

Ingo hielt das Pferd in die Höhe, damit seine Mutter es besser sehen konnte. »Im Dorf nennen sie mich manchmal Iwan, wenn sie denken, dass ich es nicht höre«, sagte er dann.

»Aber du hörst es.«

»Ich hab’ ja Ohren.«

»Und warum machen sie das?«

Ingo setzte sich das Pferd auf den Schoß. »Weiß nicht. Weißt du es?«

»Nein, ich wusste ja bis eben gar nicht, dass sie es tun. Ich habe es noch nicht gehört.«

»Wahrscheinlich machen sie es nur, wenn du nicht in der Nähe bist.«

»Warum denn das?«

»Sie haben Angst vor dir.«

Josie lachte auf und erschrak dann selbst darüber – es erschien ihr unpassend. »Vor mir? Wer sollte denn vor mir Angst haben?«

Ingo sah sie lange an. »Alle«, sagte er dann, »alle hier.«

Josie sah zu Margret, die aufrecht in ihrem Sessel saß und nicht zuzuhören schien. Aber das täuschte. »Oder?«, fragte Ingo seine Mutter, woraufhin sie ihn ansah und nickte.

»Siehst du«, sagte Ingo zu Josie, »sie findet es auch.«

»Du bist ein großer und sehr vernünftiger Junge«, sagte Josie nach einer Weile, »deine Mutter muss stolz auf dich sein. Ich mag dich gern. Meinst du, dass ich euch wieder besuchen darf?«

Diesmal vergewisserte Ingo sich nicht bei Margret, sondern sagte sofort: »Ja.«

Josie erhob sich. »Du hast einen tollen Jungen«, sagte sie zu Margret und verließ die Hütte.

Zuhause wartete Irmi auf sie. Sie war bereits im Nachthemd. »Hat er sich gefreut?«, fragte sie.

»Ja. Und er möchte wissen, wie das Pferd heißt«, sagte Josie.

»Jetzt gleich?«, fragte Irmi.

Josie sah sie unentschlossen an und zuckte die Achseln. »Weiß nicht …«

Da war Irmi schon aus der Tür und Josie sah ihr nach, wie sie barfuß zu der kleinen Holzhütte im Nachbargarten lief.

Josie fuhr herum, als sich jemand hinter ihr räusperte. »Was soll das?«, fragte Hertha. »Wo hast du sie hingeschickt?«

»Sie will Ingo etwas mitteilen.«

»Ingo?«

»Ja. Oder kennst du diesen Namen nicht?«

Hertha verengte ihre Augen und trat einen Schritt zurück. »Ach, daher weht der Wind«, sagte sie. »Wenn du glaubst …«

»Glauben ist nicht meine Sache«, unterbrach Josie sie. »Ich warte hier, bis sie zurückkommt, dann bringe ich sie ins Bett. Du kannst wieder in die Küche gehen.«

Hertha fielen fast die Augen aus dem Kopf, sie lief puterrot an. So hatte hier noch nie jemand mit ihr zu sprechen gewagt – außer Renatus manchmal – und sie fühlte eine bleierne Hilflosigkeit.

»Keine Sorge«, fuhr Josie fort, »ich warte hier auf sie. Niemand wird ihr etwas antun. Die Russen sind ja schon lange weg.«

Ihre Tante drehte sich auf dem Absatz um und verschwand hinter der Küchentür, die sie unsaft hinter sich zuschlug.

Josie setzte sich auf die Stufe vor der Haustür. »Wenn doch bloß bald die Scherer kämen«, sagte eine Stimme hinter ihr, »das Geblöke bringt mich um den Verstand. Auch eine?«, fragte Balduin und setzte sich neben Josie.

Sie verneinte und fragte dann: »Sag mal, hat dein Chef dir eigentlich jemals etwas über die Russen erzählt?«

»Chef?«

»Na, den du immer chauffieren durftest.«

Balduin rückte ein Stück von Josie ab und sah sie entsetzt an. »Nenn seinen Namen nicht!«, sagte er. »Das macht man heute nicht mehr.«

»Ach nein? Was macht man denn heute?«

»Kindchen – was ist los mit dir? Hat dir jemand was getan? Alle machen sich Sorgen um dich, seit ein paar Tagen bist du nicht mehr unsere Josie. Du warst bei dem verrückten Maler, sagen sie.«

»Sorgen – um mich? Ihr müsstet ganz andere Sorgen haben.«

»Wovon redest du?«

»Iwan«, sagte Josie.

Balduin ließ seine Zigarette fallen und sah Josie an wie einen Geist, dann erhob er sich und zog sich rückwärts ins Haus zurück.

Josie seufzte, nahm ein Stöckchen zur Hand und schrieb die Namen Irmi und Ingo in den Sand. Als sie gerade das kleine Stoffpferd hinzu malte, kam Irmi außer Atem zurück, blieb vor Josie stehen und sah das Sandbild. »Das Pferd heißt Heiner«, erklärte sie, »das kannst du auch noch dazu schreiben.« Dann fiel ihr Blick auf ihre nackten Füße. »Die muss ich wohl noch mal waschen, bevor ich ins Bett gehe«, meinte sie.

»Das machen wir zusammen, geht schneller«, sagte Josie.

Hotel Savoy

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