Читать книгу Mann und Frau und Reisehunger - Elke Klinger, Karsten Meyer - Страница 13
Ich. Olympiasiegerin?
ОглавлениеWollte ich das mal werden? Olympiasiegerin? Wohl nicht. Und wenn, dann habe ich es vergessen. Obwohl. Sport gemacht habe ich in meiner Kindheit und Jugend täglich. Beim legendären Sportfest in Leipzig bin ich aufgetreten, nachdem ich vier Jahre lang dafür über Rhönräder balancierte, mit Männern des ASK, dem Armeesportklub der DDR, die mich in schwindelerregende Höhen warfen. Kosmonautin wollte ich gar nicht werden. Doch das Training mutet mir, mit Abstand betrachtet, ganz danach an. DDR-Meisterin mit einer Keulen-Übung bin ich geworden. Was für ein Glanzpunkt. Und viele Male Spartakiade-Siegerin. Mit Bällen, Seilen, Keulen und Reifen habe ich um mich geworfen. Mich dabei gedreht, gerollt, überschlagen, um dann, wie selbstverständlich, im nächsten Sprung mein Turngerät erneut aus der Luft zu angeln. ABBA war meine Lieblingsband in diesen Tagen. Zu ihrer Musik habe ich mich wie von allein bewegt. Sport war damals mein Leben. Mein Zeitvertreib, meine Zeit mit Freunden, mein Ausfliegen am Wochenende, meine Begründung, nicht lernen zu können. Trieb ich Sport, machte ich was Vernünftiges. Legitimiert, anerkannt und geachtet. Schließlich war ich erfolgreich und bekam ein ums andere Mal klimpernde Medaillen um meinen Hals gehängt. Spartakiade-Siegerin.
Da war er wieder, dieser Teil der Wortfamilie. Hervorgegangen aus dem Ortsnamen Sparta. Von hier, dem beschaulichen Griechenland, nahm die Bewegung ihren Lauf und machte vor meinem Leben nicht Halt. Heute stehe ich am Ortseingang mit dem in meinen Ohren so verheißungsvollen Namen Olympia. Ein kleines verschlafenes Nest. Mit niedlichen Pensionen für den einen oder anderen Wanderer oder anderweitig aktiv Reisenden. Denn ganz ehrlich. Hier braucht man heute ohne atmungsaktive Kleidung und einem Gelsohlen-Leichtlaufschuh gar nicht erst aufzuschlagen. Hm, haben wir gar nicht bei uns und sind trotzdem da. Halt inkognito. Es sieht uns ja keiner, weil einfach niemand da ist.
In diesen Tagen, kurz vor dem Jahreswechsel, hat man offensichtlich auch hier anderes zu tun, als durch die altehrwürdigen Säulenreste zu joggen. Wäre das Wort verschlafen noch nicht erfunden, so wäre jetzt und hier sein Geburtsmoment. Stille herrscht, wolkenverhangener Himmel gibt der Szene einen Hauch von Düsternis und Geheimniskrämerei zu gleichen Anteilen. Hier schlendert ein Hund umher, hebt sein Bein an einer der vielen umgestürzten Säulen. Nicht minder verträumt der Ort, der alle vier Jahre für Aufsehen sorgt. Dort, wo das Olympische Feuer entfacht wird, um von hier aus in die Welt getragen zu werden. Von einem Fackelträgerarm zum nächsten. Doch auch der Platz, an dem der Parabolspiegel aufgestellt wird, um mit Hilfe der Sonnenstrahlen das Olympische Feuer zu entfachen, hält Winterschlaf und widmet sich ganz seiner inneren Einkehr.
Fackelläufe waren sehr beliebt in der Zeit der Antike. Für Olympia wurden sie damals nicht herangezogen. Eher war es ein beliebter Sport im nächtlichen Athen. Zu allen Zeiten stand Olympia für Friedfertigkeit. In den Wochen der sportlichen Wettstreite sollten alle Kämpfe und Waffen ruhen, um das faire Kräftemessen in der körperlichen Ertüchtigung nicht zu gefährden. Ölzweig gekrönte Läufer trugen die Kunde von den nahenden Wettkämpfen von Stadt zu Stadt und riefen auf diese Weise den Olympischen Frieden aus.
Gäbe es das Mittel der Zeitreise, hier würde ich es gern mit einem Zauberstab aktivieren, um zu sehen, wie sich die Tempel von selbst aufrichten, die vor mir in Bruchstücken im Gras verstreut liegen. Ich möchte die in Gewänder gehüllten Frauen und Männer sehen, wie sie gestikulierend davon schreiten. Vielleicht eine Öllampe tragend, um sich den Weg an diesem so diesigen Tag zu erhellen. Ich mittendrin. In meiner dicken Winterjacke, würde auf einer der Säulen stehen. Einen Fuß vorn, den Oberschenkel leicht eingedreht, das Gesicht würdevoll zurechtgemimt. Ganz im Stile der Zeit. Doch ach was. Ich brauche keine Zeitreise. Ich befinde mich mittendrin in meinem Traum des Vergangenen. Ich schmecke förmlich den pramnischen Wein, der mir ganz nach Art der griechischen Antike zum Deipnon, dem Hauptmahl des Tages, zu Sonnenuntergang gereicht wird. An der Blutsuppe, aus kräftig gewürztem Schaffleisch bin ich nicht ganz so interessiert. Ich hoffe, dass sich irgendwo noch ein üppiger Obstteller auftun wird, der mich allein durch seine Farbenpracht erfreut. Weiter geht es, in meinem Kältewahn, als Gäste des Hauses von weit her, mit einem Gelage beim sich anschließenden Symposion. Nicht minder viel wird hier dem Wein gefrönt. Doch obendrein werden wir in seelenerwärmende Gespräche verwickelt über den Sinn des Lebens und die Frage, in wie weit man den Göttern trauen kann. Ich bin fasziniert von so viel Offenheit den größten Themen des Lebens gegenüber. Noch scheint es keine Festschreibungen zu geben, die meinen, die Welt im Ganzen erklären zu können. Ich genieße diesen Zustand des Möglichen.
Mit einem Mal vernehme ich einen Ruf, der so gar nicht in die Szene passt. Es ist Sten, der mürrisch meint, ich möge doch nun langsam mal von meinem Säulenstummel herunterkommen. Er würde frieren und habe im Übrigen genug bemooste Steine gesehen aus einer Zeit des vielen Schwafelns, muss er hinzufügen, seiner Emotion Platz machend, bevor er platzt. Ist offensichtlich nicht sein Ding, mich auf einem Sockel stehend mit sich zu schleifen. Gut. Olympiasiegerin bin ich nicht, doch meine eigene Heldin des Tages.
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