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DEUTSCHLAND


Entenbratenstart mit Schmorkrautmunition.

Punkt zwölf Uhr mittags am fünfundzwanzigsten Dezember. Ich ziehe die Jacke an, lege meinen Schal um den Hals, schlüpfe in die Winterstiefel, öffne die Tür, schließe sie sorgsam hinter mir. Nicht ohne meinen Blick noch einmal schweifen zu lassen. Darüber, was unsere Wohnung ist. Nur kurz, zu lange wäre gefährlich. Also, resolutes Tür Abschließen, Treppe runter, Fahrzeugtür auf und los. Wie los? Wohin? Zum Weihnachtsessen unserer Eltern? Das wäre es jetzt. Was würde ich darum geben. So ein Stück weit vertraute Normalität. Wie man das eben so macht am ersten Weihnachtsfeiertag in Deutschland. Einfach mal tun, was alle tun. Gibt es was dagegen einzuwenden? Normalsein hat was Anziehendes. Plötzlich. Besonders, wenn man selbst gerade vorhat, die Reise seines Lebens anzutreten. Und eben nicht gemütlich die Beine unter Papas Tisch steckt, um knusprigen Entenbraten mit Thüringer Klößen und ostpreußischem Schmorkraut zu verspeisen. Nein, das Restefrühstück muss reichen. Mal sehen, wann es an einer Tanke eine Bockwurst gibt. Die sind auch ganz lecker.

Mein Vater stammt aus Ostpreußen, aus der Nähe Königsbergs, dem kleinen Ort Goldbach. Die Flucht am Ende des Krieges führte ihn in Richtung des Hauptreichs, wie die Ostpreußen das heutige Deutschland damals nannten. Die Familie wurde aufgegriffen und geriet für knapp drei Jahre in russische Gefangenschaft. Die ließ die Zeit lang und unsäglich hart werden, bevor mein Vater als Vogelfreier ohne Papiere in Suhl eintraf. Viel konnten er und seine Familie nicht mitnehmen aus ihrer Heimat, aus Goldbach. Doch eines hatten sie im Gepäck. Ihre Art zu kochen. Von seiner Mutter, einer Köchin auf einem Rittergut, erlernte es mein Vater. So wie zu Hause, war sein Satz dazu. Und mehr gab es auch gar nicht zu sagen. Wenn man erahnt, welche Verzweiflung er durchlebte, als sein Vater in Gefangenschaft als Himmelfahrtskommando Munition aufsammeln musste, die Familie ausgeraubt wurde, vor dem Verhungern stand und später seine Schwester an den Folgen mehrfacher Vergewaltigungen starb. Ich weiß, dass ich die Erlebnisse meines Vaters nie wirklich nachempfinden werden kann. Doch ich habe Hochachtung und Ehrfurcht vor seinem Schicksal. Ich mag es, wenn er erzählt, von damals und wie alles war. In den weiten, lichten Wäldern Ostpreußens, in denen er als kleiner Junge Heidelbeeren sammelte und abends verbotener Weise auf einem Trakehner Pferd nach Hause ritt. Allein, ohne Sattel und Zaumzeug. Halt fand er, indem er seine Hände in die Mähne krallte und die nackten Füße fest an den Körper des Pferdes presste. Mein Spielzeug war für lange Zeit die getrocknete Luftröhre einer Gans, in der eine Holzkugel hin und her rollte, höre ich ihn immer wieder sagen. Wie es ist, als flüchtendes Kind im Pferdewagen beschossen zu werden, wage ich mir nicht vorzustellen. Viel weniger noch, zu sehen, wie die Mitfahrenden im Fuhrwerk vor und hinter einem tödlich getroffen werden. Und ihn selbst nur der Wahnsinnsschrei seines Vaters vom Wagen riss, auf den, Augenblicke später, der Tod bringende Hagel niederging. Momente, in denen Wunden entstehen, deren Narben niemals ganz verheilen. Ein Leben lang nicht. Ein einziges Foto aus den vergangenen Tagen kenne ich von meinem Vater. Ein kleiner Junge mit strohblonden Haaren, der auf einer großen Wiese steht. Das gerettet Foto seiner Kindheit in Ostpreußen. Das Bild meines Vaters aus seinen jungen Tagen für immer in meinem Kopf.

Zu gern sitze ich mit ihm zusammen. Beim Duft aus der Küche des nach seiner Art zubereiteten Schmorkrauts. Das ist für mich jedes Mal ein Blick in seine Vergangenheit. Es bringt mich seiner Kindheit näher. Und so habe ich mich nicht vertan, wenn das Buch über die Küchen der Seidenstraße mit der Geschichte meines Vaters beginnt. Denn meine Zuneigung zum Kochen wurde mir von meinem Vater überreicht. Nun mache ich mich selbst auf den Weg. Will sehen, wie man kocht und isst in den Seitenstraßen der Seidenstraße. Ich steige auf kein Pferd und bin auch nicht auf der Flucht. Doch mulmig ist mir zumute in unserer Minute der Abfahrt. Lange davon geträumt, viel darüber geredet, oft philosophiert und Situationen schon mal durchgespielt. Gepackt, organisiert, abgemeldet, sortiert und schlussendlich von allen verabschiedet. Geherzt, gedrückt, geweint, gelacht, gehofft, gewünscht. Und nun gegangen. Den Duft des Weihnachtsbratens in der Nase nur ahnend wird er Teil meiner Sehnsucht sein, bis ich heimkehre. Irgendwann.


Mann und Frau und Reisehunger

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