Читать книгу Schlaflied für einen Toten - Katarina Torso - Страница 11
Die Erinnerung
Оглавлениеan Elias war noch präsent, als Balder den Friedhof verließ und durch den Nieselregen heimfuhr, in sein kleines Apartment, das durch eine Tür mit dem Atelier verbunden war. Indes er in die Goltsteinstraße einbog – sie gingen schon lange getrennte Wege, sprachen wenig miteinander – stieg Elias’ Mutter, noch gerührt von der Anteilnahme, in Haus 592 die Stufen zum zweiten Stock empor. Öffnete und schloss hinter sich die Wohnungstür. Legte den Schlüsselbund auf der Kommode im Flur nieder. Entledigte sich ihres Mantels, ihrer Schuhe, an deren Sohlen noch Friedhofserde klebte. Begab sich in die gute Stube. Ließ sich auf die Couch sinken. Sah sich weinen. Hörte sich aufschluchzen. War ohne Hoffnung gewesen und hatte doch, in der Kapellenbank sitzend, die ganze Andacht über zu dem Mann Gottes hochgeschaut, als könnte er ihn wieder lebendig machen mit seinen salbungsvollen Worten, ihren Sohn, der auf einem der vielen Fotos, die sie erst vor Tagen gerahmt und verglast hatte, in weißen Nike-Turnschuhen, dreiviertellanger Jeans, halbärmeligem T-Shirt, die Daumen leger in die Hosentaschen eingeklinkt, mit seinem Freund Lukas vor dem Gymnasium Kreuzgasse stand, mit Gliedmaßen dünn wie Spargelstangen.
Am späten Nachmittag legte sie sich in Elias’ Hochbett und dämmerte im Halbdunkel bis in die Abendstunden vor sich hin.
Im spärlichen Licht einer nahen Straßenlaterne, das von draußen einfiel, tasteten ihre Hände wie zwei losgelöste Wesen mit spitzen Fingernägeln, unlackiert, nach etwas, das sich im abgelösten Nahtbereich einer schlecht verklebten Raufaserbahn, direkt über ihr, an der Zimmerdecke, oberhalb des Hochbetts, versteckte. Als sie es herauszog, vorsichtig, ganz vorsichtig, kam ein Ring zum Vorschein, in beschriebenes Papier eingewickelt. Sie erkannte Elias’ Handschrift, wusste die Worte einzuordnen, die er Franziska auf der bevorstehenden Klassenfahrt ins Ohr geflüstert hätte. Mehrere solcher Klebezettel mit ähnlichem Wortlaut hatten unlängst zerknüllt im Papierkorb seines Zimmers gelegen.
Diese Zeilen vor Augen, sah sie im Geiste vor sich, wie er Franziska den Freundschaftsring darbot, dabei über sie hinwegblickte und sich ihr, seiner Mutter, zuwandte. Auch wenn sein Gesicht zunächst noch unvollendet blieb, so wanderten Grübchen kess über ein Antlitz, das sich anschickte, für sie ein Lächeln zu formen. In dem Maße, wie es sich verbreiterte, nahm es ihrer mütterlichen Miene die herben Züge bitterer Kümmernis. Sie machte in Gedanken einen Schnappschuss von der Szene, die ihre Vorstellungskraft ihr eingab, bevor sie sich aus dem Hochbett erhob. Den Besten, seit sie Elias verloren hatte.
Spätabendlicher Nebel hing zwischen den kahlen, vermeintlich toten Novemberbäumen, die den Rasen auf der Gebäuderückseite umstellten, als Elias’ Mutter die Küche betrat. Mechanisch steckte sie zwei Scheiben Vollkornbrot in den Toaster. Hielt einen Moment inne. Ließ ihre Hand auf dem Hebel ruhen. Hatte eine Assoziation und verweilte gedanklich einen Augenblick in dem Moment, diesem alles entscheidenden Moment, der zu lange angedauert hatte. Drückte abrupt den Hebel nach unten, ähnlich dem Handgashebel, den der Fahrer der Linie 7 viel zu spät in Bremsstellung umgelegt hatte. Nahm Butter, Wurst, Käse und diverse Soßen aus dem Kühlschrank. Füllte etwas zum Knabbern und Dippen aus einer bunten Packung in eine Schale aus Porzellan in der Gewissheit, dass dies Elias’ Lieblingscracker waren. Gab alles auf ein Tablett und trug es hinüber zum Esstisch ins Wohnzimmer. Fabulierte, der Junge werde gleich frisch geduscht und hungrig vom Training kommen. Dachte in der Zwischenzeit an etwas Stämmiges, um die 50, mit wenig Haar. Das könne man mit Gehirntätigkeit nicht erklären, das sei pubertäres Verhalten, da seien Ampeln völlig uninteressant, hatte sie sich als Argument, als Versuch einer Erklärung, wie es zu dem Unfall kam, während der zeugenschaftlichen Vernehmung zum Tagesablauf ihres Sohnes anhören müssen.
Jenseits dieser Zwischenzeit stand sie hinter Elias’ angestammtem Platz – ein IKEA-Korbsessel – und streichelte in Gedanken sein nach Apfel-Shampoo duftendes Haar. Flüsterte immerzu, während sie verzweifelt versuchte, den verbliebenen Hauch seines Duftes in sich aufzunehmen, »was hast du nur gemacht« in ein nie dagewesenes Schweigen. Dabei hörte sie so gern seine Stimme.